Opposition in Polen: «Wir müssen wohl wieder auf die Strasse»
Immer mehr Menschen treten der jungen linken Partei Razem bei – während die polnische Rechtsregierung fest im Sattel sitzt. Adrian Zandberg, Mitglied des Razem-Vorstands, sagt, woran die Regierung dennoch scheitern könnte.

WOZ: Herr Zandberg, vor dreissig Jahren hat die Gewerkschaft Solidarnosc das kommunistische Regime in die Knie gezwungen und die Demokratie in Polen erkämpft. Heute ist diese wieder in Gefahr. Was geschieht gerade in Ihrem Land?
Adrian Zandberg: Dass die Solidarnosc als Massenbewegung das Land in die Demokratie geführt hat, ist ein Mythos. Zwar haben sich in den frühen Achtzigern viele Menschen der Bewegung angeschlossen und aktiv für die Demokratie gekämpft – jedoch nur für kurze Zeit. Kurz darauf führte die Regierung das Kriegsrecht ein und brach der Demokratiebewegung das Rückgrat. Als sie in den späten achtziger Jahren wieder auflebte, war es eine Aktivistenbewegung einer relativ kleinen Elite. Die Zivilgesellschaft, die als Rückgrat der Demokratie dienen sollte, ist in Polen längst nicht so stark ausgeprägt, wie manche behaupten.
Wie erklären Sie sich, dass die Regierung der rechtskonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit, PiS, so fest im Sattel sitzt?
Die Regierung schürt nationalistische Gefühle. Damit macht sie sich einerseits bei den Wählerinnen und Wählern beliebt und entzieht andererseits allen Gegnern die Legitimation. Wer sie kritisiert, gilt als unpatriotisch. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Regierung das staatliche Fernsehen in einem solchen Ausmass für ihre Zwecke benutzt, wie wir es in Polen seit 1989 nicht gesehen haben. Es ist zu einem Propagandawerkzeug geworden.
Der wichtigste Grund aber ist, dass viele Menschen in der Regierung die erste politische Kraft sehen, die etwas Konkretes für sie geleistet hat. Ich spreche von «500+», einem Sozialprogramm, mit dem die Regierung Familien ab dem zweiten Kind finanziell unterstützt.
Was halten Sie als linker Politiker von diesem Sozialprogramm?
Es lässt sich nicht leugnen, dass es einen starken Umverteilungseffekt hat. Statistiken zeigen, dass das Armutsgefälle gesunken ist. Ebenso ist die Zahl der Kinder, die von Armut betroffen sind, drastisch zurückgegangen. Aber die Regierung baut damit keinen Wohlfahrtsstaat auf. Das Sozialprogramm hat immer noch riesige Lücken.
Wo denn genau?
Es gibt kaum Einrichtungen, die sich um die Betreuung von Kindern unter drei Jahren kümmern. Die Zahl der älteren Menschen, die Pflege benötigen, steigt. Es fehlen aber Institutionen, die sich um sie kümmern würden. Im Gesundheitswesen wiederum wächst die Ungleichheit beim Zugang zu medizinischen Leistungen. Wenn Sie die Lebenserwartung im reichen Warschauer Vorort Wilanow mit derjenigen im Quartier Praga-Nord vergleichen, dann sehen Sie einen Unterschied von zehn Jahren. Reiche können sich eine bessere, weil private medizinische Versorgung leisten, Ärmere nicht. Damit sich daran etwas ändert, müsste man die Ausgaben für das Gesundheitswesen massiv steigern.
Wie schwer fällt es Ihnen, sich als linke Partei Gehör zu verschaffen?
Unser Problem ist, dass wir nicht im Parlament sitzen, wo achtzig Prozent der öffentlichen Debatten geführt werden. Unsere Möglichkeiten, die Leute zu erreichen, sind also sehr beschränkt. Deshalb müssen wir das auf eine andere Art und Weise tun.
Wie zum Beispiel?
Nicht über die Medien, sondern im direkten Kontakt mit den Leuten. Wir helfen Arbeiterinnen und Arbeitern, wenn sie für ihre Rechte kämpfen müssen. Zum Beispiel haben wir in den letzten Wochen die Belegschaft einer Glasfabrik dabei unterstützt, ihre ausstehenden Löhne einzufordern. Mit solchen Aktionen haben wir in den letzten zwei Jahren Tausende Menschen erreicht. Das ist zwar aufwendig, aber auf diese Weise stabilisieren wir unser Projekt.
Immer wieder hört man, Razem sei kommunistisch. Das kommt in der polnischen Gesellschaft nicht gut an.
Die Regierung versucht, uns zu diffamieren, indem sie uns in die Kommunistenecke drängt. Razem steht in der Tradition der sozialdemokratischen Bewegungen und der Gewerkschaften. Das hat nichts mit dem kommunistischen Regime zu tun.
Ihre Umfragewerte liegen bei 3 Prozent. Vor zwei Jahren erreichten Sie bei den Wahlen noch 3,6 Prozent. Wenn sich nicht etwas ändert, dann könnte das Experiment Razem bald schon der Vergangenheit angehören.
Umfragewerte sind auf diesem Level unzuverlässig. Doch die Mitgliederzahlen von Razem nehmen stetig zu, allein im Raum Warschau um 25 Prozent im vergangenen Jahr. Im Moment haben wir hier ungefähr tausend Mitglieder. Ich bin mir also ziemlich sicher, dass wir bei den Wahlen in zwei Jahren die 5-Prozent-Hürde knacken und ins Parlament einziehen werden. Vorausgesetzt, wir haben freie Wahlen.
In den letzten Monaten beobachten wir, dass die Regierung ihren Einfluss auf die Judikative vergrössern will. Dazu gehört auch das Oberste Gericht, das über die Gültigkeit einer Wahl entscheidet. Gelingt dies, dann ist das eine echte Bedrohung für die nächsten Wahlen. Deshalb kam es im vergangenen Sommer zu grossen Protesten gegen die geplante Justizreform. Schliesslich hat der Präsident sein Veto eingelegt.
War das für Sie ein Schlüsselmoment?
Es war sicher wichtig, dass erstmals viele jüngere Menschen an den Protesten teilgenommen haben. Das war bei den Protestmärschen gegen die Neubesetzung des Verfassungsgerichts noch anders. Da kamen vor allem Menschen über fünfzig.
Die Proteste allein hätten aber nicht zum Veto des Präsidenten geführt. Ausschlaggebend war, dass sich seit einigen Monaten Spannungen im Regierungslager aufgebaut haben, und zwar zwischen dem stärker autoritären Flügel der PiS auf der einen Seite und den republikanischen Konservativen und dem Präsidenten auf der anderen Seite. Die Proteste brachten das Fass zum Überlaufen.
Es ist sehr gut möglich, dass wir in den nächsten Wochen wieder auf die Strasse gehen müssen. Denn die Vorschläge des Präsidenten, die er vor einigen Tagen präsentiert hat, unterscheiden sich bezüglich des höchsten Gerichts kaum von der vorherigen Justizreform.
Was könnte die Regierung schwächen?
Ihr Glaube, dass sie sich nun alles leisten kann. Es kommt immer häufiger vor, dass staatliche Firmen Aufträge an dubiose Unternehmen erteilen, die von Leuten gegründet wurden, die zuvor für die Regierung gearbeitet hatten. Dieses Fehlen von Ehrlichkeit hat die Regierungspartei PiS an der Vorgängerregierung stark kritisiert. Nun greift sie selbst auf ähnliche Mittel zurück, um ihre Macht zu stabilisieren.
Ich denke, dass dieses Verhalten für viele Menschen, die noch vor zwei Jahren die PiS gewählt haben, inakzeptabel ist.
Historiker und Politiker
Adrian Zandberg gehört dem insgesamt neunköpfigen Vorstand der Partei Razem an, die er 2015 mitbegründet hat.
Der 38-jährige Historiker unterrichtet an mehreren Hochschulen in Warschau. Seine Kindheit verbrachte er in Dänemark, wohin seine Eltern in den späten sechziger Jahren emigriert waren.