Trauerspiel mit Tusk
Wie Polens Liberale sich die Zukunft verbauen
Das Wahlergebnis hat viele Beobachter überrascht. Erst im Oktober 2023 hatte ein breites Parteienbündnis um Donald Tusk die rechtsgerichtete Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) nach acht turbulenten Jahren von der Macht verdrängt.
Nachdem Tusk die neue Regierung gebildet hatte, der außer seiner Bürgerkoalition (Koalicja Obywatelska, KO) noch das rechtsliberale Zweiparteienbündnis Dritter Weg (Trzecia Droga, TD) und die Neue Linke (Nowa Lewica, NL) angehören, galt bei den Wahlen zum Staatsoberhaupt ein Sieg des KO-Kandidaten Rafał Trzaskowski als ausgemacht. Das hätte auch die prekäre „Kohabitation“ der Tusk-Regierung mit einem der PiS entstammenden Präsidenten beendet, was viele in der EU – auch vor dem Hintergrund des parallel laufenden Dramas um die Präsidentschaftswahlen in Rumänien – für bitter notwendig hielten.
Doch es kam anders. In der Stichwahl am 1. Juni schaffte Karol Nawrocki, der Kandidat der PiS, mit 50,9 Prozent einen hauchdünnen Sieg, und das bei einer historisch hohen Wahlbeteiligung von 71,6 Prozent. Tatsächlich war dieser Wahlausgang keineswegs überraschend.
Die polnische Gesellschaft ist seit Jahrzehnten zutiefst gespalten, es war also zu erwarten, dass es diesmal genauso knapp ausgehen würde wie vor fünf Jahren bei der Wiederwahl des Präsidenten Andrzej Duda.
Erstaunlich ist etwas anderes. Allen Beteiligten war bewusst, dass diese Wahl nicht einfach nur ein Rückspiel des Derbys von 2023 war, sondern ein Endspiel um alles oder nichts: Die Regierung kann ihre wichtigsten politischen Vorhaben nicht gegen, sondern nur mit dem Präsidenten umsetzen, der nicht nur über eine Vetomacht verfügt, sondern auch ein gewichtiges Wort in der Außen- und Verteidigungspolitik mitzusprechen hat. Daher hätte man von der Tusk-Koalition – angesichts der ungebrochenen politischen Zugkraft und der Cleverness des Gegners – ein kluges taktisches Konzept erwarten können, um mit diszipliniertem Teamplay eine Art Arbeitssieg zu erringen.
Doch die Koalitionäre um den fußballverrückten Ministerpräsidenten boten eher ein Bild, wie es die polnischen Fans seit Jahren von ihrer Nationalmannschaft kennen: planloses Herumgebolze, geboten von Selbstdarstellern, die nicht den besten Weg zum gegnerischen Tor, sondern den nächstbesten Schuldigen suchen, dem sie die unausweichliche Blamage anhängen können.
Das Resultat dieses Trauerspiels war bereits nach dem ersten Wahlgang vom 18. Mai abzusehen. Der bestätigte nicht nur das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem KO-Kandidaten Rafał Trzaskowski (31,4 Prozent) und dem PiS-Kandidaten Karol Nawrocki (29,5 Prozent), sondern bedeutete auch ein Menetekel für das Regierungslager.
Die beiden Kandidaten der extremen Rechten erreichten zusammen über 21 Prozent: Sławomir Mentzen von der national-libertären KWiN (Konföderation Freiheit und Unabhängigkeit) kam auf 14,8 Prozent, Grzegorz Braun von der KKP (Konföderation der Polnischen Krone) auf 6,3 Prozent der Stimmen. Dagegen erreichten die Kandidat:innen, auf deren Wählerschaft Trzaskowski in der Stichwahl hoffte, gerade einmal 14 Prozent: Szymon Hołownia vom TD (Dritter Weg) kam auf 5,0, Adrian Zandberg von der LR (Linke Gemeinsam) auf 4,9 und Magdalena Biejat von der NL (Neue Linke) auf 4,2 Prozent.1
Bei nüchterner Betrachtung war damit offensichtlich, dass sich die KO und Trzaskowski trotz einer komfortablen Ausgangslage in eine schier ausweglose Situation manövriert hatten. Wahlarithmetische Grundkenntnisse reichten aus, um zu verstehen, dass der PiS der Sieg in der zweiten Runde kaum noch zu nehmen war: Etwa 85 Prozent des Wähleranhangs der Parteien, die sich rechts von der PiS verorten, würden ihr Kreuz bei Nawrocki setzen; etwa derselbe Anteil der linken Stimmen würde Trzaskowski zufallen. Doch angesichts des deutlich besseren Abschneidens der libertären und rechten Kandidaten (21 gegenüber 14 Prozent) wäre das Debakel nur noch durch ein Wunder abzuwenden gewesen.
Woher rührt das Missfallen, mehr noch die fundamentale Enttäuschung, die eine Mehrheit dazu brachte, die Präsidentschaftswahlen in ein Plebiszit gegen eine Regierung umzufunktionieren, die erst eineinhalb Jahre im Amt ist?
Der Motor der polnischen Wirtschaft brummt selbst unter zunehmend widrigen globalen Bedingungen verlässlich vor sich hin. Beim Wirtschaftswachstum belegt Polen unter den EU-Ländern mit plus 2,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für 2024 weiterhin einen der vorderen Plätze.
Auch einem Großteil der Bevölkerung geht es so gut wie nie. Das Durchschnittseinkommen steigt weiter, nicht zuletzt dank der 140-prozentigen Erhöhung des Mindestlohns seit 2015, auch wenn die exorbitanten Preiserhöhungen der letzten Jahre den Zuwachs an realer Kaufkraft bremsen und hohe Kreditzinsen den Konsum belasten. Die Arbeitslosenrate ist seit Jahren stabil niedrig (2023: 2,7 Prozent).
Das rührt allerdings auch von einer problematischen Entwicklung her, nämlich dem unaufhaltsamen Schrumpfen der Erwerbsbevölkerung.2 Eine demografische Trendwende herbeizuführen ist selbst der PiS mit ihren distributiven Maßnahmen zur Geburtenförderung nicht gelungen. Deshalb ist die Wirtschaft weiterhin auf beträchtliche Migration angewiesen – ein Thema, das auch in Polen politische Sprengstoff birgt.
Was die Rüstungsausgaben betrifft, so hat das Land die neue Nato-Vorgabe von 5 Prozent des BIPs beinahe erreicht, womit Warschau gegenüber Donald Trump punkten kann. Im Übrigen lässt sich die Erhöhung des Militärhaushalts einer Bevölkerung, die akute Ängste vor einer russischen Bedrohung empfindet, gut verkaufen. Zudem sorgen zusätzliche Aufträge für die bereits hoch entwickelte heimische Rüstungsindustrie für weitere Arbeitsplätze.
In einer verhalten optimistischen Analyse nach den Parlamentswahlen vom Oktober 2023 habe ich drei Problembereiche benannt, in denen die recht inhomogene neue Regierungskoalition aus KO, TD und NL ihre Bewährungsprobe bestehen müsse: das fiskalische Ausbalancieren von steuerlichen Entlastungen und dem kostspieligen Ausbau des Wohlfahrtsstaats; die gesellschaftspolitische Liberalisierung; die Entpolitisierung von Rechtsstaat, Medien und Kultur.3
Neuer Blockierer im Präsidentenpalast
Diese drei Aufgaben galt es zu bewältigen. Das hat die Crew von Donald Tusk bislang nicht geschafft. Und es stellt sich durchaus die Frage, ob die Regierung daran zerbrechen wird. Sie verweist zu Recht darauf, dass ihr die PiS – über den Staatspräsidenten und das durch ihr ergebene Vasallen besetzte Verfassungstribunal – das Leben schwergemacht habe. Doch die Ursachen für ihre Misere liegen tiefer: Die Regierung ist mental im Wahlkampf des Sommers 2023 stecken geblieben und treibt von sich aus die populistische Spirale an, deren polarisierende Wirkung ihren Gegnern nützt.
Die Erfolgsbilanz der Regierung Tusk ist bislang karg. Sie rühmt sich zwar, dass sie die – wegen des schwelenden Konflikts um den Rechtsstaat – blockierten Mittel aus dem Wiederaufbaufonds der EU losgeeist und zusätzlich einige für Polen günstige Ausnahmeregelungen erreicht habe, aber die damit ermöglichten Investitionen werden nicht so schnell Wirkung zeigen. Was die Sozialpolitik betrifft, so hat die Regierung die heiligen Kühe der PiS-Ära – wie das üppige Kindergeld – nicht angetastet und zusätzliche Wohltaten, etwa eine 30-prozentige Erhöhung der Gehälter von Lehrer:innen, bewilligt.
Doch die Liste von „100 konkreten Vorhaben für 100 Tage“, die Tusk im Wahlkampf propagiert hatte, erwies sich als Bumerang. Viele dieser Vorhaben waren in so kurzer Zeit nicht umzusetzen, schon gar nicht mit Andrzej Duda im Präsidentenpalast. Die Enttäuschung der Wählerschaft war unausweichlich, insbesondere weil zugesagte steuerliche Entlastungen ausblieben, desgleichen die Rücknahme der starken Erhöhungen bei den Krankenversicherungsbeiträgen, die man Selbstständigen und Kleinunternehmern versprochen hatte.
Was die angekündigte gesellschaftspolitische Liberalisierung betrifft, so war von vornherein klar, dass angesichts einer tief gespaltenen Gesellschaft ohne einen Präsidenten aus dem eigenen Lager keine tiefgreifenden Reformen in der Frauen- und Genderpolitik durchzusetzen sein würden. Doch die Regierung hat selbst die bescheidenen Erwartungen enttäuscht. Immerhin gibt es seit Juni 2024 ein staatlich finanziertes Programm zur In-vitro-Fertilisation, und es wurden bestimmte Erleichterungen für eingetragene Partnerschaften eingeführt. Auch Ehen homosexueller Paare, die im Ausland geschlossen wurden, können nun ebenso anerkannt werden wie deren Eintragung als Eltern in die Geburtsurkunden ihrer Kinder.
Doch bei der Abtreibungsfrage bot die Regierung Tusk kein gutes Bild. Angesichts der Tatsache, dass sich die Koalitionsparteien nicht völlig einig waren, hätte man den gemeinsamen Willen zu humaneren Lösungen erklären, eine detaillierte Gesetzesregelung aber auf die Zeit nach der Präsidentschaftswahl verschieben sollen. Stattdessen ergingen sich die Koalitionäre – mit Blick auf die Umfragewerte – in endlosen und mitunter bösartigen Streitereien in den sozialen Medien.
Die Quittung bekamen sie bei der Wahl: Zwar stimmten die Frauen im zweiten Wahlgang mehrheitlich für Trzaskowski (54 Prozent), aber die jungen Leute (52 Prozent) wählten Nawrocki. Als ein noch größeres Alarmsignal für die KO muss der erste Wahlgang gelten, bei dem die 18- bis 29-Jährigen vor allem Sławomir Mentzen (KWiN, 36,1 Prozent) und Adrian Zandberg (LR, 19,7 Prozent) bevorzugten.
Den größten und vielleicht irreparablen Schaden haben die Koalitionäre aber auf dem Feld angerichtet, für den sie die größte Kompetenz beanspruchten: Die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit ist gewiss eine schwierige Aufgabe, denn das von der PiS hinterlassene Chaos macht einen rechtskonformen Ausweg nahezu unmöglich. Doch genau dies hätte ein besonnenes Vorgehen erfordert. Das Gegenteil war der Fall.
Die sofortige Rückeroberung der öffentlich-rechtlichen Medien (Fernsehen TVP, Polskie Radio und die Nachrichtenagentur PAP) durch die neue Regierung war problematisch, aber immerhin verständlich. Doch der Umgang mit dem früheren Justizminister Zbigniew Ziobro und dessen Vize Marcin Romanowski geriet zu einer grotesken Klamotte. Den beiden wird vorgeworfen, sie hätten Staatsgelder zugunsten parteinaher Organisationen und Medien zweckentfremdet, was zu PiS-Zeiten gang und gäbe war. Beiden gelang es, sich der Strafverfolgung zu entziehen und zugleich medienwirksam als politische Märtyrer zu inszenieren: Ziobro beruft sich auf seine lebensbedrohliche Krebserkrankung, Romanowski hat inzwischen „politisches Asyl“ in Ungarn gefunden.
In der breiten Öffentlichkeit kommt die Abrechnung mit der PiS, mit der die KO die Erwartungen ihrer Anhängerschaft bedient, schon deshalb nicht gut an, weil ihr Vorgehen an die zweifelhaften Methoden ihrer geschmähten Vorgänger erinnert. Selbst Justizminister Adam Bodnar, der ehemalige Ombudsmann für Bürgerrechte, hat an Autorität und Prestige eingebüßt. Juristische Fachverbände äußern sich besorgt, dass die notwendige Umstrukturierung der Staatsanwaltschaft nicht so sehr darauf zielt, die Unabhängigkeit der Justiz wiederherzustellen, als vielmehr die eigene parteipolitische Kontrolle zu festigen – wie früher unter der PiS.
Steht Polen nun die Fortsetzung der schwierigen Ära der Kohabitation oder gar eine Dauerkonfrontation bevor? Dazu ein kurzer Rückblick auf die Präsidentschaft von Andrzej Duda. Der galt weithin als „Füllfederhalter“, der auch die absurdesten Gesetze des Justizministers Ziobro abzeichnete. Seit der Abwahl der PiS-Regierung hat Duda jedoch ein Profil als eigenständiger Politiker mit Ellenbogen entwickelt, der für unnachgiebige Haltung statt für Inhalte steht.
Erst zögerte er die Bildung der Tusk-Regierung zwei Monate lang hinaus, dann blockierte er reihenweise die Gesetze der neuen Regierung. Dieser Rollenwechsel hat Dudas Popularität merklich erhöht: Während seine Zustimmungswerte im November 2023 noch bei 32,5 Prozent lagen, stiegen sie bis Mai 2025 auf 46 Prozent – ein Traumwert für ein Land, in dem das Misstrauen gegen die Institutionen historisch tief sitzt.
Der neue Präsident wird bemüht sein, die gestiegene Wertschätzung Dudas und dessen Stil zu beerben, was seine Bereitschaft zum Konflikt mit der Regierung erhöhen dürfte. Allerdings gibt es eine Reihe von Themen, bei denen auch im jüngsten Wahlkampf – trotz gewisser Akzentuierungen – weitgehend Einigkeit bestand. Zu diesem nationalen Konsens gehören: massive Investitionen ins Militär und Sicherung der kritischen Infrastruktur, keine Entsendung von Soldaten in die Ukraine, Reduzierung der Energiekosten, Bürokratieabbau, Investitionen in die Regionen und Verbesserung des maroden Gesundheitswesens.
Dagegen gibt es wichtige Themen, bei denen Konflikte vorprogrammiert scheinen. Mit Blick auf die nächsten Parlamentswahlen betrifft dies innenpolitisch etwa Erleichterungen bei der Mehrwert- und Einkommensteuer und „patriotische“ Inhalte im Bildungssystem, die die neue Regierung gerade erst zurückzunehmen versuchte. Auch Nawrockis scharfe Ablehnung des europäischen Green New Deal und des Migrationspakts lässt nichts Gutes erahnen.
Abzuwarten bleibt, inwieweit er mit Forderungen von Mentzen (Ablehnung des EU-Mercosur-Freihandelsabkommens) und des Rechts-außen-Kandidaten Braun (Austritt aus der Weltgesundheitsorganisation) liebäugeln wird. Diesen verdankt er zwar seinen Wahlsieg, zugleich werden sie dem Projekt einer dauerhaften national-konservativen Hegemonie von Kaczyńskis PiS in Polen gefährlich. Mit einer harten Linie gegenüber den Ukrainern im Land, deren Zugang zum Sozial- und Gesundheitssystem vielen Polen ein Dorn im Auge ist, könnte er durchaus seine Beliebtheit steigern.
Bei der Frage, wie es zum Desaster für die Tusk-Regierung kommen konnte, muss man sich die Protagonisten des Endspiels vom 1. Juni genauer ansehen. Da immer klar war, dass sich im zweiten Wahlgang die Kandidaten von KO und PiS gegenüberstehen würden, war deren persönliche Ausstrahlung und programmatische Orientierung ein wichtiger Faktor.
Für das Regierungslager war Rafał Trzaskowski der offensichtliche und zugleich offensichtlich unpassende Kandidat. Für ihn sprach, dass er in seinen sieben Jahren als Warschauer Stadtoberhaupt nicht viel falsch gemacht und sich von seiner unpopulären Vorgängerin Hanna Gronkiewicz-Waltz abgesetzt hatte. Die Stadt hat in vieler Hinsicht europäisches Niveau erreicht. Wenn der Rest des Landes auch nur annähernd so gut dastehen würde wie seine Metropolen, wäre Trzaskowski der ideale Kandidat gewesen.
Zudem brachte er Erfahrungen aus dem Präsidentschaftswahlkampf von 2020 mit, bei dem er gegen den Amtsinhaber Duda – und die von der Regierung gedopte PiS-Wahlmaschine – angetreten und nur knapp unterlegen war. Doch fünf Jahre später wirkte der 53-Jährige bei den zahlreichen TV-Debatten nicht wie ein künftiger Präsident von staatsmännischem Format, obwohl er im Unterschied zu Karol Nawrocki beachtliche politische Erfahrungen vorweisen kann, etwa als Abgeordneter des Europaparlaments, als Minister für Verwaltung und Digitalisierung und als Staatssekretär im Außenministerium.
Dagegen war der 42-jährige Karol Nawrocki für die PiS die Idealbesetzung, ein abermaliger Beweis für den politischen Genius und das soziale Gespür des Strategen Jarosław Kaczyński, der seine Partei nach wie vor fest im Griff hat.
Nawrockis Image als politischer Quereinsteiger und einstiger Boxer, der sich aus einfachen Verhältnissen zum promovierten Historiker und Leiter des erzkonservativen Instituts für Nationales Gedenken (IPN) hocharbeiten konnte, hat dem Kandidaten keineswegs geschadet. Mit diesem Profil verkörperte er den Underdog, der sich gegen die Eliten durchgebissen hat. Und der jetzt mit seinem (katholischen) „gesunden Menschenverstand“ gegen die „Dekadenz“ seiner Gegner und deren „Hörigkeit gegenüber polenfeindlichen Mächten“ antritt. Dabei zeigte er keine Scheu, den Ukrainern aus historischen Gründen die Mitgliedschaft in Nato und EU zu verweigern.4
Entscheidend für die Niederlage Trzaskowskis dürfte jedoch gewesen sein, dass die KO für die beiden Wahlrunden keine durchdachte Strategie hatte. Verluste beim eigenen Anhang waren in der zweiten Runde unvermeidlich. Angesichts der politischen Kräfteverhältnisse in der gesellschaftlichen Mitte musste er in den Debatten zu Themen wie Migration, Ukraine und gesellschaftspolitische Liberalisierung stärker rechts als links blinken und damit seine eigene Klientel befremden.
In dieser Situation hätte die KO zunächst konsequent und ausschließlich auf Inhalte setzen müssen, um dann bei der Stichwahl die Person des Gegenkandidaten aufs Korn zu nehmen. Nawrocki bot hinreichend Angriffsfläche: seine Verbindungen in die Halbwelt, handfeste Betrugsvorwürfe, ostentative Auftritte vor Rechtsradikalen und Hooligans. Stattdessen verfiel sie schon vor dem ersten Wahlgang in Hysterie und verschoss vorzeitig ihr Pulver gegen Nawrocki.
Diese Taktik erwies sich als fataler Fehler. Statt unentschlossene Wähler zu gewinnen – oder die vielen Leute, die weder die PiS noch die KO gut finden –, hat sie das Misstrauen gegen die KO weiter geschürt und der PiS die Mobilisierung ihrer Wählerschaft erleichtert. Das zeigte sich vor allem in der Provinz, wo die Menschen neidisch auf die Metropolen blicken und sich nach den PiS-Zeiten zurücksehnen, in denen der „fürsorgliche“ Staat unter Kaczyński die Entwicklung ländlicher Gemeinden mit viel Geld gefördert hat.
Die wahltaktischen Fehler der KO resultieren aus einer gründlichen Fehleinschätzung: Im heutigen Polen werden Wahlen nicht im progressiven und akademischen Milieu entschieden. Entscheidend ist vielmehr, die Aspirationen der Mittelschicht zu bedienen und das Wählerpotenzial der Provinz auszuschöpfen.
In Warschau wird jetzt viel gerätselt, welchen Weg Nawrocki einschlagen wird. In der Innenpolitik wird der nächste Präsident sehr wahrscheinlich Dudas Politik fortsetzen, obgleich erst die Praxis zeigen wird, wie straff sich der Politikneuling von der PiS-Parteizentrale steuern lässt.
Nicht ausgeschlossen ist, dass Nawrocki auf internationaler Ebene mehr Ärger machen wird als Duda. Es wäre jedenfalls nicht überraschend, wenn er auf den Reparationen aus Deutschland für die Verbrechen im Zweiten Weltkrieg beharrt und Selenskyj unter Druck setzt, die Exhumierungsarbeiten in Wolhynien voranzutreiben, wo ukrainische Nationalisten zwischen 1943 und 1945 nach polnischen Schätzungen über 100 000 polnische Zivilisten massakrierten.
Die wichtigere Frage ist, ob die Regierung die neue Realität zur Kenntnis nimmt und wie sie darauf reagiert. Tusk hat ein Auseinanderbrechen seiner Koalition durch ein eilends organisiertes Vertrauensvotum abgewendet und eine grundlegende Regierungsumbildung angekündigt. An Neuwahlen kann er kein Interesse haben: Im besten – aber eher unwahrscheinlichen – Fall eines Wahlsiegs wäre lediglich der seit Ende 2023 herrschende Zustand einer institutionellen Dauerblockade bestätigt.
Die PiS hingegen könnte den Wahlkampf mit dem Argument bestreiten, dass nur sie mit „ihrem“ Präsidenten in der Lage wäre, eine handlungsfähige Regierung herzustellen.
Die KO ist allerdings schon jetzt dabei, den letzten Rest an Glaubwürdigkeit zu verspielen. Mit Verweis auf kleinere Unstimmigkeiten bei der Stimmenauszählung brachten Funktionäre der Partei wilde Gerüchte über eine größere Wahlfälschung in Umlauf. Dass eine Regierung ein nicht genehmes Ergebnis von Wahlen anzweifelt, für deren Durchführung sie selbst verantwortlich war, ist mehr als ominös.
Schließlich geben Stimmen aus dem Regierungslager zu verstehen, dass man frei werdende Sitze im Verfassungstribunal nicht gleich besetzen will. Sondern erst am Ende der Legislaturperiode, wenn die Regierung eine Mehrheit für ihre eigenen Leute herstellen kann. Lässt sich Donald Tusk hier von Donald Trump inspirieren? Wenn die aktuelle Regierung Polens so weitermacht, wird sie eine neue rechte Mehrheit – aus nationalkonservativen und radikallibertären Kräften – nicht nur nicht verhindern, sondern aktiv herbeiführen.
1 Sechs weitere Kandidat:innen kamen nicht über 1 Prozent.
2 Siehe Dominika Wojtowicz: „Schnelle Entwicklung, brüchige Fundamente? Kondition, Chancen und Herausforderungen der polnischen Wirtschaft“, Polen-Analysen, Nr. 349, 17. Juni 2025.
3 Siehe „Polen vor der Wende“, LMd, Dezember 2023.
4 Siehe „Kaczyńskis Kalkül. Polen als Frontstaat im Ukrainekrieg“, LMd, Dezember 2022.
Gert Röhrborn ist Autor und Übersetzer. Er lebt in Warschau und Belgrad.
© LMd, Berlin
Arbeiter wählen rechts
Die Wahl des ultrakonservativen Nationalisten Karol Nawrocki zum polnischen Präsidenten zeugt von einer starken politischen Polarisierung und einem Aufschwung der extremen Rechten. Wie lässt sich die Wanderung der Arbeiterklasse nach rechts erklären? Die Grenze zwischen den Wählern der beiden Kandidaten entspricht weitgehend der zwischen den Gewinnern und Verlierern der Transformation vom Kommunismus zum Kapitalismus nach 1989. Die Liberalen feiern die Erfolge dieses Prozesses. Die Regierung von Donald Tusk, der zuvor Präsident des Europäischen Rats war, freute sich sehr über den Artikel „Polens bemerkenswerter Aufschwung“ in The Economist vom 24. Mai 2025.
Tatsächlich gibt es durchaus Indikatoren für volkswirtschaftliche Erfolge. Nach Angaben der Weltbank ist das Bruttoinlandsprodukt in konstanten Preisen gemessen seit 1989 um das 3,5-Fache gestiegen – gegenüber einem Faktor von 1,6 in Frankreich oder Deutschland. Hinter diesen Zahlen verbirgt sich jedoch das Leid vieler gesellschaftlicher Gruppen, die beim Übergang zur Marktwirtschaft abgehängt wurden, wie etwa die Arbeiter:innen in den staatlichen Betrieben. Die heutige Arbeitslosenquote von 2,7 Prozent war lange Zeit viel höher: Zwei Jahrzehnte lag sie bei über 10 und 2002 sogar über 20 Prozent.
Dabei war der Sturz des kommunistischen Regimes von der Gewerkschaft Solidarność eingeleitet worden, mit ihren Streiks von 1980. Aber in den 1990er Jahren wurden die Arbeiter im Stich gelassen – von Politikern, die der Solidarność nahestanden, von der reicher werdenden Mittelschicht, sogar von der katholischen Kirche. In seiner Enzyklika vom Mai 1991 schrieb der polnische Papst Johannes Paul II.: „Der freie Markt ist das effizienteste Instrument zur Nutzung der Ressourcen und zur Befriedigung der Bedürfnisse.“
Die unter der wirtschaftlichen Schocktherapien leidende Arbeiterklasse wandte sich zunächst der postkommunistischen Linken zu, die 1993 die Parlamentswahlen gewann. 1995 wurde der Sozialdemokrat Aleksander Kwaśniewski Präsident, ein früheres Mitglied der Kommunistischen Partei. Doch die Linksparteien machten den Beitritt zur Nato und zur EU zum vorrangigen Ziel und vergaßen ihre Basis. 1992 lebten 32,4 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, 2002 waren es 57 Prozent, das sind 22 Millionen Menschen.
Zwischen 1996 und 2001 stieg die Zahl der Menschen, die ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen konnten, von 4,3 auf 9,5 Prozent. Für viele, vor allem junge Leute, blieb nur, das Land zu verlassen. Mehr als 2,5 Millionen gingen ins Ausland. Das senkte die Arbeitslosigkeit und brachte Rücküberweisungen ins Land, trug aber zum Zerfall der Gesellschaft bei. Die Rechte konnte Menschen, die sich verachtet fühlten, mit traditionellen Werten für sich einnehmen: moralische Überlegenheit als Ersatz für sozialen Aufstieg. Auch ihre Politik zur Förderung der Kaufkraft spielt eine Rolle: Die PiS war die erste Partei, die eine gewissen Umverteilung nach unten umsetzte.
In den 1980er Jahren marschierten die Intelligenzija und die streikenden Arbeiter Seite an Seite. Doch nach der Etablierung des Kapitalismus wurden die Gewerkschaften zur Bedrohung stilisiert, liberale Medien stellten Streikende als Unruhestifter dar, als Hindernis für den Aufbau des neuen Systems, das allein doch die Freiheit garantierte. So fand die Gazeta Wyborcza – einst mit der Solidarność verbunden – während des Lehrerstreiks von 1993, dass die Streikenden kein Gehalt erhalten sollten, und der Primas von Polen, Józef Glemp, stellte deren Vaterlandsliebe infrage. Inzwischen ist Polen eines der Länder Europas, in denen am seltensten gestreikt wird. Dabei war der Kapitalismus erst durch Massenstreiks möglich geworden.
Jan Radomski
Jan Radomski ist Soziologe an der Adam-Mickiewicz-Universität, Poznań.