Ständemehr: Der Kronzeuge schweigt vielsagend
Der Bundesrat entscheidet verfassungskonform, dass es für die Bilateralen III keine Mehrheit der Kantone braucht – die FDP ist ausser Rand und Band. Dabei hätte sie mit Andrea Caroni den Experten in den eigenen Reihen.
Am 2. Dezember vorigen Jahres erhielt Andrea Caroni einen grossen, gelben Blumenstrauss in die Hand gedrückt, eine Streichmusik mit einem Rapper spielte dazu im Bundeshaus auf. Seither steht Caroni als Ständeratspräsident über der Sache, leitet im laufenden Jahr die Geschäfte und äussert sich, wie er der WOZ mitteilt, «nicht öffentlich zu konkreten Themen».
Das ist im vorliegenden Fall bedauerlich. Denn Caroni – Rechtsanwalt, Honorarprofessor an der Universität St. Gallen und FDP-Ständerat aus einem Halbkanton – wäre der ideale Kronzeuge, um seine Partei auf den geeinten Pfad zu führen. Diese ist hochzerstritten in der Frage, ob die Bilateralen III auch das Ständemehr erfordern oder ob nicht doch das Volksmehr genügt.
Geschichtslose Verdrehung
Offenkundig wurde das letzte Woche, als es im Bundesrat in der Frage eine Niederlage für das machtverwöhnte Duo Karin Keller-Sutter (FDP) und Albert Rösti (SVP) absetzte. Keller-Sutter soll sich dem Vernehmen nach auf die Seite der SVP-Vertreter geschlagen haben – diese pochen aus der Not heraus aufs Ständemehr, weil die bilateralen Verträge mit der EU bisher noch immer ein solides Volksmehr erzielten. Doch für einmal machte Keller-Sutters Parteikollege Ignazio Cassis nicht mit. Der Aussenminister plädierte mit dem neuen Mitte-Mann Martin Pfister und den SP-Vertreter:innen Elisabeth Baume-Schneider und Beat Jans dafür, dass bei der Abstimmung über die neuen Verträge das Volksmehr ausreiche.
Das vereinigte Kommentariat der Sonntagspresse geriet ob des unerwarteten Entscheids in Aufregung. Der Chefredaktor der «SonntagsZeitung» sprach von einer «Trickserei», jener des «SonntagsBlicks» diagnostizierte einen «magistralen Furor», und die «NZZ am Sonntag» forderte «im Zweifelsfall mehr Demokratie», was für die Zeitung eine Abstimmung mit Ständemehr wäre. Drei Kommentare, drei Beispiele, wie SVP-Denkmuster unhinterfragt von den Schweizer Medien übernommen werden.
Denn Cassis, Pfister, Baume-Schneider und Jans haben das Stimmvolk gerade nicht ausgetrickst – sondern dessen Willen umgesetzt. Wiederholt haben die Stimmberechtigten Versuche der SVP abgelehnt, die ein Ständemehr bei internationalen Abkommen anstrebten. So schmetterten sie etwa 2012 die Initiative «Staatsverträge vors Volk» mit sage und schreibe 75 Prozent ab. Und von wegen Demokratie: Im Zweifelsfall schafft das Ständemehr nicht mehr, sondern weniger Demokratie. Kommt es zum Einsatz, wiegt die Stimme eines Appenzell-Innerrhoders 47-mal so viel wie diejenige einer Zürcherin. Eine skandalöse Verzerrung der Willensäusserung.
Überhaupt sind die Regeln unmissverständlich, wie das Bundesamt für Justiz in einem lesenswerten Gutachten festhält: Bei Staatsverträgen gibt es nur dann ein obligatorisches Referendum mit doppeltem Mehr, wenn es um den Beitritt zu einer supranationalen Organisation geht. Ansonsten zählt das fakultative Referendum mit Volksmehr. Wie aber kommt nun Caroni ins Spiel?
Elitäres Plebiszit
Der Ausserrhoder Liberale schickte sich 2020 an, diese Regeln zu ändern. In einer Motion forderte er, dass bei «völkerrechtlichen Verträgen mit Verfassungscharakter» ebenfalls das obligatorische Referendum zur Anwendung kommen solle. Doch der Vorstoss erlitt im Nationalrat Schiffbruch. Die Einwände waren zahlreich: Der Entwurf sei zu unklar formuliert, stärke die Kantone unnötig und baue mit dem Ständemehr eine «Fortschrittsbremse» für die Weiterentwicklung der Menschenrechte ein (siehe WOZ Nr. 45/20).
Dennoch meinen einzelne Bundesrät:innen und zahlreiche Parlamentarier:innen weiterhin, ein Referendum mit Ständemehr sei bei den EU-Verträgen möglich. Dabei berufen sie sich auf ein sogenanntes «Referendum sui generis». Das mag zwar nobel tönen, bedeutet aber eine Machtanmassung: Der Bundesrat oder das Parlament setzt dabei selbst eine Abstimmung an und bestimmt erst noch die Vorgaben. Dreimal nur geschah das in der Geschichte, zuletzt 1992 beim Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Doch für ein solches Referendum aus dem Nichts heraus fehlt – gemäss den allermeisten Rechtswissenschaftler:innen und dem Bundesamt für Justiz – die Rechtsgrundlage: Die kürzlich erfolgte Ablehnung der Motion Caroni spreche erst recht dagegen.
Das wiederum sieht auch Caroni so, gerade weil er mit einer neuen Regelung aufgelaufen ist. Er mag sich im Präsidialjahr zwar nicht öffentlich äussern, aber er hat zuvor seine Spuren gelegt. 2022 schrieb er in einem Beitrag in der juristischen Zeitschrift «Zentralblatt» gemeinsam mit Daniela Kühne zum Referendum sui generis: «Dieses ungeschriebene, eher schwach konturierte und auch nicht unbestrittene Recht der Bundesversammlung zum Plebiszit ist ein Fremdkörper in unserem direktdemokratischen Verfassungsgefüge.» Im Sommer vergangenen Jahres meinte er gegenüber dem Onlinemagazin «Republik» noch deutlicher, man könne nicht einfach Referenden erfinden: «Was mich wirklich stört, sind Plebiszite: Volksabstimmungen nach Belieben der Elite. Und das umso mehr, wenn sie die Verfassung nicht einmal vorsieht.»
Man kann nur hoffen, dass die FDP bis zur Parlamentsdebatte über die Referendumsfrage noch auf ihren Experten hört. Wenigstens hinter verschlossenen Türen.