Kompass-Initiative: Ständemehr für Superreiche?
Selten erhielt der Start eines Volksbegehrens so viel Aufmerksamkeit und wurde gleichzeitig so wenig hinterfragt wie bei der Kompass-Initiative. Drei Milliardäre lancierten sie letzte Woche, einstige Grössen aus Showbiz und Sport gaben die Tanzbären, und die meisten Medien reihten sich in die Parade ein. Bis hin zur NZZ übernahmen sie die PR-Erzählung, wonach die Initiative die direkte Demokratie verteidige und eine «Passivmitgliedschaft» bei der EU verhindere.
Bloss: Die Initiative stärkt die Demokratie nicht, sondern schwächt sie fundamental. Man braucht nur den Initiativtext zu lesen.
Im Kern fordert er nichts anderes, als dass weitreichende Staatsverträge dem obligatorischen Referendum mit Ständemehr zu unterstellen seien. Ein solches ist bisher nur bei Staatsverträgen erforderlich, die einen Beitritt zu supranationalen Gemeinschaften zur Folge hätten, also etwa zur EU. Bei allen anderen Verträgen genügt das Volksmehr, so war es auch bei den bilateralen Abkommen. Bei deren Ausweitung, über die derzeit in Brüssel noch verhandelt wird, bleibt das die verfassungsrechtliche Grundlage. Das stellte auch ein lesenswertes Gutachten des Bundesamts für Justiz vergangenen Frühling klar.
Das Ständemehr kann bei Fragen des föderalistischen Zusammenlebens seine Berechtigung haben. Doch von einer Erneuerung der Bilateralen wären von Genf bis Rorschach alle Einwohner:innen und Kantone gleichermassen betroffen. Vor allem aber führt das vormoderne Relikt des Ständemehrs regelmässig zu einer grotesken Verzerrung des Willens der Stimmenden. Kommt es bei Initiativen zur Anwendung, dann zählt die Stimme einer Urnerin heute 41-mal mehr als die eines Zürchers, eine Verletzung des Grundsatzes der Abstimmungsdemokratie: eine Person, eine Stimme.
Dennoch haben rechtsnationale Kreise immer wieder versucht, das Ständemehr auch bei Staatsverträgen einzuführen. Die Absicht dahinter ist so simpel wie durchschaubar: Über die kleinen Kantone, in denen sie stark sind, wollten sie sich eine Vetomacht sichern. Die Anläufe scheiterten wiederholt: 2012 etwa die SVP-Initiative «Staatsverträge vors Volk» mit 75 Prozent, in der Romandie mit Werten über 80 Prozent. Das Ständemehr bedeutet oft auch eine Bevormundung der Westschweiz. Kein Wunder, sitzt kaum ein:e Romand:e im «Kompass»-Komitee.
Was die Milliardäre Alfred Gantner, Urs Wietlisbach und Marcel Erni, die Gründer des Vermögensverwalters Partners Group, nun also fordern, ist nichts anderes als eine Änderung der Spielregeln zu ihren Gunsten. Ihre Villen mit Seesicht stehen in den steuergünstigen Gemeinden Meggen LU, Schindellegi SZ und Zug. Viele der konservativen Kantone sind im 21. Jahrhundert zu Steueroasen mutiert. Ein Vetorecht für diese Kantone wäre vor allem auch eines für Reiche und Superreiche.
Unfreiwillig komisch wirkt in diesem Zusammenhang die Rückwirkungsklausel der Kompass-Initiative. Im Sommer drohten bekanntlich zahlreiche Reiche mit dem Wegzug aus der Schweiz, weil die Erbschaftssteuer-Initiative der Juso eine Rückwirkung entfalten könnte. Ständeräte und Rechtsprofessorinnen baten den Bundesrat um ein Zeichen, damit die Ärmsten nicht verscheucht würden. Überhaupt sollten Initiativen keinesfalls mehr eine rückwirkende Wirkung haben. Und was steht nun in der Kompass-Initiative? Sollte zuerst das Vertragspaket mit der EU ohne Ständemehr angenommen werden, danach aber auch die Initiative, müsste die erste Abstimmung wiederholt werden: ein Salto mortale unter den Rückwirkungsklauseln.
Mit ihrer Initiative will die «Kompass»-Truppe Druck auf Bundesrat und Parlament machen, einen EU-Vertrag von sich aus dem Referendum mit Ständemehr zu unterstellen. Ein solches Plebiszit würde jedoch erst recht nicht zur direkten Demokratie passen. Wie auch immer man zur EU steht, mit welchem Ergebnis die Verhandlungen mit ihr auch enden: Kommt der Vertrag durchs Parlament, kann die Bevölkerung das Referendum ergreifen. Dann wird abgestimmt: eine Person, eine Stimme.