Kost und Logis : Wann ist ein Dinkel ein Dinkel?
Bettina Dyttrich erklärt die «Urdinkel»-Kontroverse

Ob bewusst oder zufällig – die meisten WOZ-Leser:innen haben wohl schon einmal ein Brot aus «Urdinkel» gekauft. Wahrscheinlich, ohne genau zu wissen, was das bedeutet. «Urdinkel» tönt nach alten Sorten – wer kann da schon dagegen sein?
So alt ist «Urdinkel» allerdings gar nicht. Unter der Marke dürfen die eng verwandten Sorten Oberkulmer und Ostro verkauft werden. Erstere wurde um 1910 gezüchtet, Ostro ist noch jünger. «Dinkel ist kein Urgetreide, auch wenn das immer wieder behauptet wird», sagt Franca dell’Avo, Dinkelspezialistin bei der Getreidezüchtung Peter Kunz (GZPK) im zürcherischen Hombrechtikon. «Der Weizen ist älter. Und Dinkel enthält immer auch Weizengene.» Die GZPK orientiert sich an der von Rudolf Steiner inspirierten biodynamischen Landwirtschaft und hat sich zum Ziel gesetzt, für den Biolandbau geeignete Getreidesorten zu züchten – auch Dinkel. Eine bewährte GZPK-Dinkelsorte heisst Edelweisser. Sie ist robuster gegen Pilzkrankheiten als Oberkulmer und Ostro und gibt auch höhere Erträge. Aber viele Mühlen und Bäckereien verarbeiten nur «Urdinkel». Das hat Folgen: Über neunzig Prozent des Dinkels, der auf Schweizer Feldern wächst, sind Oberkulmer oder Ostro. Brot aus anderem Dinkel ist heute fast nur in Nischen erhältlich, etwa in Bioläden.
Ostro ist anfällig auf Gelbrost, eine Pilzkrankheit, die mit dem wärmeren Klima häufiger auftritt. Beim Oberkulmer ist der Ertrag tief und die Standfestigkeit schlecht – nach schlechtem Wetter liegen die Halme oft am Boden. «Ich kenne Produzent:innen, die die Nase voll haben von den Problemen mit dem Urdinkel», sagt dell’Avo. Es gehe ihr nicht darum, dass unbedingt GZPK-Sorten angebaut werden sollten. «Was ich bedenklich finde, ist die fehlende Vielfalt auf den Feldern. Die enge genetische Basis macht den Dinkel anfällig.» Dabei sei die Dinkeldiversität einmal riesig gewesen: «In der nationalen Genbank in Changins sind mehr als 2000 Landsorten erfasst.»
«Beim Dinkel ist das Alte gut», sagt hingegen Thomas Kurth von der IG Dinkel, der die Marke «Urdinkel» gehört. «Ostro und Oberkulmer enthalten viele wertvolle Fettsäuren und sind schmackhaft. Und sie erreichen auch mit wenig Dünger Top-Proteinwerte.» Es sei gerechtfertigt, den Dinkel genetisch möglichst weit weg vom Weizen zu halten, vor allem von den Hochleistungssorten der letzten fünfzig Jahre. «Urdinkel ist nicht glutenfrei. Trotzdem vertragen ihn viele besser als Weizen.»
Was ist «richtiger» Dinkel? «Das ist eine Riesendiskussion, ein Politikum», sagt Kurth. Trotz aller Differenzen arbeiten die IG Dinkel und die GZPK zusammen. «Das Ziel ist eine neue Urdinkelsorte», sagt Kurth. «Eine Sorte, die nah an den alten ist, aber robuster. Das wäre ein Meilenstein. Franca und ich werden beide in etwa zehn Jahren pensioniert. Ich bin zuversichtlich, dass wir das vorher noch schaffen.»
Bettina Dyttrich ist WOZ-Redaktorin.