Die Welt dreht sich: Viel mehr als lesen

Nr. 35 –

Rebecca Gisler über Möglichkeiten von Büchern

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«Sie söttet weniger Büecher läse und meh uf Tiktok hänge», sagen mir die Sekundarschüler:innen, denen ich Französisch unterrichte.

Manchmal stehe ich in meinem Wohnzimmer und starre an das wandbreite Bücherregal, das voll mit Büchern ist, die ich teilweise gelesen habe, und mit solchen, die ich noch nicht einmal aufgeschlagen habe. Beim letzten Umzug brauchten wir zwanzig Kartons, um die verstaubten Bücher von einer Wohnung in die andere zu manövrieren. In solchen Momenten denke ich mir auch, dass die Bücher zu viel Platz in meinem Leben einnehmen. Trotzdem freue ich mich jedes Mal, die Bücher aus den Kartons zu holen und nach Sprache, Genre und Grösse sortiert ins Regal zu räumen.

In meiner Erinnerung spielten Bücher eine wichtige Rolle, als ich ein Kind war. Manchmal nahm ich so viele Bücher wie möglich mit in mein Bett, stapelte sie rund um mich herum und nahm immer wieder eines heraus, um darin zu lesen. Die Büchermauer gab mir ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.

Das wandbreite Bücherregal in meinem Wohnzimmer gibt mir dieses Gefühl noch heute. Dazu kommt die Euphorie. Euphorie, neue Texte entdecken zu können oder die Bücher noch einmal zu lesen, die ich schon einmal gelesen habe. Nun mussten wir aber rund um das Regal ein wenig umdisponieren: Die doppelten Buchreihen wurden zu einer einzigen umsortiert und das Regal an die Wand geschraubt, damit es nicht auf meine Tochter kippen kann, wenn sie im Büchergestell herumstöbert. Durch sie hat nicht nur das Regal, das plötzlich zur Gefahr wird, eine neue Dimension erhalten, sondern auch das Buch als Gegenstand: Ein Buch kann man lesen, ja. Ein Buch kann man aber auch über mehrere Stunden ins Regal stellen und wieder herausnehmen. Ein Buch kann man herumwerfen, auf den Boden, ans Fenster, an den eigenen Kopf.

Man kann an einem Buch riechen; manchmal riecht es druckfrisch und manchmal vermodert feucht. Auf einem Buch kann man herumbeissen – beim Zahnen hilft es sogar, die Schmerzen zu lindern. Man kann die Buchseiten aus dem Buch reissen oder sie essen, wie es im Fall von Robert Walsers «Poetenleben» (1917) geschehen ist. Man kann die gegessenen Buchseiten danach problemlos wieder ausscheiden. Man kann sich aber auch an den Buchseiten schneiden. Mit den blutigen Fingern kann man die anderen Bücher bemalen. Man kann mit verschiedenen Lauten und einem Buch so tun, als ob man lesen würde. Man kann ein Buch aber auch genervt anschreien oder müde darauf liegen.

Man kann so tun, als ob man ein Buch gelesen hätte, und darüber reden – siehe dazu auch Pierre Bayards «Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat» (2007). Man kann versuchen, mit den Finger- und Zehennägeln die Schrift eines Buches wegzukratzen. Man kann sich mit dem Autor:innenporträt bespassen oder höllisch laut aufschreien, wenn man Roberto Bolaños Gesamtwerk aus dem Regal zieht und es einem die Füsse zerquetscht.

Man kann ein Buch aber auch ganz einfach liegen lassen und nicht beachten. Man kann darauf warten, bis das Buch auf einen zukommt. Da meine Tochter all diese Dinge tagtäglich zu tun vermag, beginne ich selbst, das Buch und dessen Funktionen ganz neu zu entdecken. Wie dies in Zukunft mein Schreiben und Lesen beeinflussen wird, werde ich wohl noch herausfinden.

Die Autorin Rebecca Gisler liest und schreibt Bücher – noch isst sie sie nicht. Sie lebt in Zürich.