Reise nach Gagausien
Moldaus autonome Region ist prorussisch – und solidarisch mit der Ukraine
Moldau und Gagausien
Die Atmosphäre wirkt friedlich in Comrat, der Hauptstadt der autonomen Region Gagausien im Süden Moldaus. In der Leninstraße weht an jedem Haus die gagausische Fahne. Auf dem Platz vor dem Regionalparlament steht eine Lenin-Statue. Nachmittags hört man manchmal Schulkinder die gagausische Hymne „Tarafım“ anstimmen und am frühen Abend schlendern Menschen durch die Alleen.
Doch die Lage ist angespannt, seit am 25. März 2025 Gagausiens Regierungschefin Evghenia Guțul auf dem Weg nach Istanbul von Beamten der Antikorruptionsbehörde am Flughafen von Chișinău festgenommen wurde. Sie soll mit dem flüchtigen, russlandfreundlichen Oligarchen Ilan Șor in Verbindung stehen, der wegen Geldwäsche und Betrug im April 2023 in Abwesenheit zu 15 Jahren Haft verurteilt worden war.1 Guțul war auch Mitglied der von Șor gegründeten Partei, die seinen Namen trägt und vom Moldauer Verfassungsgericht im Juni 2023 verboten wurde.
Gegen Guțuls Verhaftung gab es vielerorts Proteste. In Comrat gingen Hunderte auf die Straße und forderten ihre Freilassung. Eine leitende Funktionärin wandte sich sogar an Wladimir Putin persönlich und ersuchte ihn um Hilfe. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow rief die Behörden auf, „auf solche Methoden zu verzichten und allen politischen Kräften des Landes Handlungsfreiheit zu gewähren“.2 Am 5. August wurde Evghenia Guțul zu sieben Jahren Haft verurteilt.
Seit dem Zerfall der Sowjetunion ist Gagausien für Russland eine strategisch wichtige Region, um in Europa Einfluss zu nehmen. Auf 1800 Quadratkilometern leben heute 130 000 Gagausen. Das turksprachige, christlich-orthodoxe Volk stammt ursprünglich aus der historischen Landschaft Dobrudscha, die heute teils zu Bulgarien, teils zu Rumänien gehört. Nicht zuletzt wegen ihres orthodoxen Glaubens wurden die Gagausen im 19. Jahrhundert „eingeladen“, das 1812 vom Zarenreich annektierte bessarabische Gebiet Budschak zu kolonisieren. Die muslimischen Tataren und Türken zogen in die umgekehrte Richtung und ließen sich in der osmanisch gebliebenen Dobrudscha nieder.
Gagausien sei das Produkt einer „kulturellen Symbiose an einem historischen Kreuzungspunkt“, erklärt Stefanida Stamova, Leiterin des Historischen Museum in Ceadîr-Lunga, inmitten der ausgestellten Bilder und traditionellen Gewänder. Die 16 000-Einwohner-Stadt ist das kulturelle Zentrum der Region. „Unsere Region war immer ein Durchzugsgebiet für Menschen auf dem Weg nach Westen oder Osten. Dadurch sind wir sehr eng mit anderen Völkern in West und Ost verbunden“, sagt die Lokalhistorikerin.
Als Teil Moldaus war Gagausien lange ein Spielball verschiedener Mächte: Bis zum Ersten Weltkrieg war es Teil des Zarenreichs, dann gehörte es zu Rumänien, bis es 1944 schließlich der Sowjetunion zugeschlagen wurde. In den beiden Epochen, in denen Moskau das Sagen hatte, wurde die Verwendung der gagausischen Sprache massiv eingeschränkt: „Ich weiß noch, dass es in der Schule strengstens verboten war, Gagausisch zu sprechen“, erzählt uns eine einheimische Journalistin, die anonym bleiben möchte.
Die allermeisten Bewohner haben heute Russisch als Muttersprache. Gagausisch wird im Alltag wenig gesprochen, hält sich aber beharrlich, denn die Sprache wird von Generation zu Generation weitergegeben, damit sie nicht ausstirbt.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion erlangten die Gagausen nicht die angestrebte Unabhängigkeit, sondern einen Autonomiestatus innerhalb der Republik Moldau. Die russische Sprache erleichtert weiterhin den Austausch mit der Russischen Föderation, wo man Gagausien als ideales Eingangstor nach Europa betrachtet.
Anders als die in Pro-Europäer und Pro-Russen gespaltene Gesellschaft von Moldau hat die Region Gagausien eine klare Haltung. „Die Moldauer sind mehrheitlich für den europäischen Weg, während die Stimmung in Gagausien weitgehend russlandfreundlich ist – was unmittelbar mit der Sprache zusammenhängt“, meint die Gagausisch-Professorin Elena Karamit, die früher Abgeordnete im Regionalparlament war.
„Das Problem ist, dass die Menschen alles glauben, was im Fernsehen gezeigt und gesagt wird. Das prägt ihre Meinung“, fügt ihre Freundin Ekaterina Jekova hinzu, Journalistin und ebenfalls eine ehemalige Abgeordnete. Die beiden Frauen haben den Youtube-Kanal GagauzMedia gegründet, wo sie sich mit lokalen Prominenten über verschiedene Themen unterhalten.
Bei der Meinungsbildung spielen zwar das Internet und die sozialen Netzwerke eine wachsende Rolle, aber „die Bevölkerung lebt mehrheitlich auf dem Land – und dort ist nach wie vor das Fernsehen das Medium des Vertrauens“, erklärt die Journalistin. Die allermeisten Sendungen kämen aus Russland. Gagausien und der Rest der Republik Moldau würden deshalb immer weiter auseinanderdriften: „Diejenigen, die Russisch sprechen, haben nie die moldauische Sprache3 gelernt“, erklärt Karamit. „Sie sehen ausschließlich russische Filme und russische Nachrichten im TV. Im Grunde führen sie das Leben eines anderen Landes, nicht das ihres Heimatlandes.“
Diese Situation spiegelte sich auch in den letzten Wahlen. Bei den Präsidentschaftswahlen 2024 stimmte in der Republik Moldau jeweils eine große Gruppe entweder für die proeuropäische Bewerberin Maia Sandu oder für den prorussischen Kandidaten Alexandr Stoianoglo. In Gagausien votierten über 95 Prozent für Stoianoglo.
Das gleiche Bild bot sich bei den Parlamentswahlen am 28. September 2025: Während in der Republik Moldau die Partei Aktion und Solidarität (PAS) der Präsidentin insgesamt 50,2 Prozent der Stimmen bekam und das pro-russische Bündnis Patriotischer Block mit 24,2 Prozent weit hinter seinen Erwartungen zurückblieb, wählten in Gagausien gerade einmal 3,19 Prozent die PAS und 82,35 Prozent das Bündnis Patriotischer Block. Zu diesem gehörte auch die Partei Inima Moldovei (Moldaus Herz) von Gagausiens Ex-Regierungschefin Irina Vlah, die zwei Tage vor der Wahl von der Zentralen Wahlkommission wegen des Verdachts auf illegale Finanzierung von der Wahl ausgeschlossen wurde. Inima Moldovei gilt als Neuformation der verbotenen Șor-Partei.
Die Stärkung seiner gagausischen Hochburg lässt Moskau sich durchaus etwas kosten, wie die britische Journalistin Sarah Rainsford herausfand.4 Seit Mai 2024 fallen den Zollbeamten am Flughafen von Chișinău immer häufiger moldauische Reisende auf, die nur für kurze Zeit nach Russland fliegen. „Personen, welche die Republik Moldau noch nie zuvor in ihrem Leben verlassen haben, kehren nach nur ein paar Tagen in Russland mit Geldscheinbündeln in der Tasche zurück“, schreibt die Journalistin. „Einmal entdeckte der Zoll an einem einzigen Tag mehr als 1,2 Millionen Euro. Niemand hat jemals sein Geld zurückverlangt.“ Zum Bargeld kämen außerdem nicht nachvollziehbare Überweisungen der mit Sanktionen belegten russischen PSB-Bank, die sich auf bis zu 12,8 Millionen Euro beliefen.
„Viele Gagausen bekamen Geld direkt auf ihr Bankkonto überwiesen und wissen nicht genau, woher es stammt“, berichtet ein rumänischer Journalist am Telefon, der schon lange zu dem Thema recherchiert und anonym bleiben möchte. „Ihnen wurde dann gesagt, wen sie wählen sollen. Vor allem aber wurde ihnen in Aussicht gestellt, dass es im Falle eines Wahlsiegs regelmäßig Zahlungen geben werde. Das geschah natürlich nicht.“
Manche Gagausen sehen zwischen der Europäischen Union und Russland keinen großen Unterschied. „Moldau wird so oder so der Verlierer sein. Die EU braucht uns nicht und außerdem unterstützt sie die amtierende moldauische Regierung, die sich uns Gagausen gegenüber fremdenfeindlich verhält“, schimpft der 18-jährige Gymnasiast Michail Kylchik, genannt Micha. „Auf der anderen Seite – wir sehen Russland nicht als die Wurzel allen Übels, aber in der Welt von heute kann man unmöglich gute Beziehungen mit Russland pflegen.“
Die junge Generation, die viel im Internet und in den sozialen Netzwerken unterwegs ist, ist insgesamt weniger empfänglich für die Propaganda aus Moskau. Einige verlassen die Region oder gleich das Land auf der Suche nach stabileren wirtschaftlichen Verhältnissen. „Ich glaube, unsere Jugend ist von der moldauischen Politik enttäuscht. Sie ist der Meinung, dass dieses Land keine Zukunft hat“, meint Micha.
Und was sagt das offizielle Gagausien zu den undurchsichtigen Verbindungen nach Moskau? Es ist schwer, darauf eine Antwort zu bekommen. Die Regionalregierung reagierte nicht auf unsere Anfragen.
Nur Anatoli Topal, Bürgermeister der Stadt Ceadîr-Lunga, empfing uns in seinem Rathaus und beantwortet unsere Frage so schnell wie diplomatisch: „Wir haben russische Schulen, unsere Verkehrssprache ist Russisch. Manche Bewohner haben ein nostalgisches Verhältnis zur Sowjetunion und betrachten die Russische Föderation als deren Nachfolger. Doch von direkten Beziehungen zwischen Gagausien und Russland kann keine Rede sein, weil Gagausien integraler Bestandteil der Republik Moldau ist und die Basis für die Beziehungen zu Russland die nationalen Interessen der Republik Moldau sein müssen.“
Topals Kleinstadt liegt keine zehn Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Wie schaut der Bürgermeister auf den Krieg? „Historisch sind wir mit der Ukraine eng verbunden. Tausende Gagausen leben auf der anderen Seite der Grenze, sodass nach Ausbruch des Krieges viele Flüchtlinge zu uns gekommen sind. In einer solch schwierigen Situationen unterstützen wir die Ukrainer weiterhin. Wir hoffen, dass die politisch Verantwortlichen rasch eine gemeinsame Sprache finden und wieder Frieden einkehrt.“ Es klingt wie sorgfältig einstudiert.
Währenddessen sind die ukrainischen Großstädte und Kriegsschauplätze Odessa, Mykolajiw und Cherson nur wenige Autostunden entfernt. Eine Journalistin – auch sie will anonym bleiben – erzählt, wie im Februar 2025 mehrere Drohnen auf moldauischem Gebiet explodiert sind, eine davon am Stadtrand von Ceadîr-Lunga. Laut der moldauischen Presseagentur Mold Press gehörten die aufgefundenen Trümmerteile „nach ersten Erkenntnissen zu einer russischen Drohne“.5
Außer mit Russland fühlen sich die Gagausen auch mit der Türkei eng verbunden. Am Stadtrand von Comrat führt eine holprige Straße zu einem Fußballstadion, das offensichtlich gut in Schuss gehalten wird. Es bildet einen seltsamen Kontrast zu der vernachlässigten, wenig entwickelten bäuerlichen Region. Unser Fahrer erklärt, das Stadion sei von Erdoğan finanziert worden: „Zur Einweihung ist er 2018 persönlich angereist und mit seinem Hubschrauber direkt am Spielfeldrand gelandet.“
Auf dem Stadiongelände weht die gagausische Fahne neben der Fahne von Moldau und der Fahne der Türkei, unter der sich ein Konterfei des türkischen Staatspräsidenten in Heldenpose befindet. Auf unserer Rückfahrt in die Hauptstadt Chișinău geht die holprige Straße in den Außenbezirken von Comrat schließlich in eine gut geteerte Schnellstraße über. „Diese Straße hat die Europäische Union gebaut“, sagt der Fahrer.
1 Șor wird von der Regierung zudem beschuldigt, finanzielle und organisatorische Unterstützung vom Kreml zu erhalten. Siehe Glen Johnson, „Moldaus Angst vor dem Zerfall“, LMd, Juni 2023.
2 „Der Kreml verurteilt die Verhaftung der gagausischen Regierungschefin in Moldawien“ (auf Russisch), 26. März 2025, kommersant.ru.
3 Das Moldauische unterscheidet sich nur sehr geringfügig vom Rumänischen.
4 Sarah Rainsford, „Russian cash-for-votes flows into Moldova as nation heads to polls“, 20. Oktober 2024, bbc.
5 „Fragments found in Ceadîr-Lunga belong to Russian drone“, 13. Februar 2025, moldpres.md.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld
Hugo Laulan ist Student an der École publique de journalisme in Tours.