Putins bröckelnde Heimatfront

Le Monde diplomatique –

Was die Drohnen über dem Kreml bedeuten, weiß man nicht. Für den Hausherrn bedrohlicher ist die Stimmung im Land. Während die Siegeszuversicht sinkt, wächst das Misstrauen gegenüber den Eliten und die Kritik am System Putin, die jedoch aus unterschiedlichen Richtungen kommt und nicht unbedingt friedliebend ist.

Blumenprotest am Denkmal der Schriftstellerin Lessja Ukrajinka in Moskau, 24. Februar 2023
Moskau, 24. Februar 2023: Blumenprotest am Denkmal der Schriftstellerin Lessja Ukrajinka Foto: picture alliance/ap

Auf den ersten Blick scheint das russische Staatsschiff dem Sturm standzuhalten, den der Kreml mit dem Überfall auf den ukrainischen Nachbarn ausgelöst hat. Mehr als ein Jahr nach Kriegsausbruch befindet sich die russische Wirtschaft zwar in der Rezession, aber das Minus von 2,1 Prozent für das BIP 2022 bedeutet noch keinen Zusammenbruch. Und glaubt man den Umfragen auch staatsunabhängiger Meinungsforschungsinstitute, ist eine Mehrheit der Bevölkerung weiterhin für eine Fortsetzung der „Spezialoperation“.1

Allerdings werden die Risse in der russischen Gesellschaft stetig tiefer. Und erstaunlicherweise sind sich Menschen sehr unterschiedlicher politischer Orientierung in einem Punkt zunehmend einig: Unabhängig von ihrer Einstellung zum Krieg misstrauen immer mehr Russinnen und Russen den „Eliten“. Dieses Phänomen war bereits vor Februar 2022 zu beobachten, nun nimmt es an Bedeutung weiter zu.

In einem Klima der Angst, das sich laufend verstärkt, ist es sehr schwierig, der Gesellschaft den Puls zu fühlen. Angesichts dessen mag ein Blick auf die methodischen Anmerkungen der unabhängigen Meinungsforschungsinstitute zu ihren Ergebnissen hilfreich sein. Was sagt uns zum Beispiel der starke Rückgang der Antwortquoten? Laut einem Institut für Marketingstudien und Meinungsumfragen namens „Russian Field“ antworten aktuell nur noch 5,9 bis 9,3 Prozent der Befragten auf alle die „militärische Spezialoperation“ betreffenden Fragen. Das entspricht nur einem Drittel bis einem Viertel der vor Kriegsausbruch üblichen Quote.2

Bei einer im Februar 2023 durchgeführten Umfrage bat Russian Fields die Teilnehmenden, sich entweder für Maßnahmen zur Verstärkung der Offensive oder für Frieden auszusprechen. Nur 27 Prozent der Befragten unterstützten eine Eskalation der Kämpfe, während sich 34 Prozent Schritte in Richtung Frieden wünschten.3

Zwischen Ultranationalisten und Kriegsmüden

Dabei kann man deutlich drei Gruppen unterscheiden: Die „Kriegspartei“, der 25 bis 37 Prozent der Befragten zuzurechnen sind, befürwortet die Verfolgung Protestierender, verurteilt Deserteure und ist bereit, Einschränkungen in der Sozialpolitik zugunsten militärischer Ziele in Kauf zu nehmen. In dieser Personengruppe sind ältere Bürgerinnen und Bürger sowie Menschen mit höherem Einkommen überproportional vertreten.

Zur „Friedenspartei“ am anderen Ende des Spektrums zählen 10 bis 36 Prozent der Befragten, bei denen es sich vor allem um junge Russinnen und Russen sowie sehr arme Personen handelt. Zwischen diesen beiden Extremen befinden sich diejenigen, die eigenen Angaben zufolge zu keiner klaren Meinung kommen oder die widersprüchliche Antworten geben. Viele Menschen aus dieser dritten Gruppe lehnen zwar eine militärische Eskalation ab, vertrauen aber der offiziellen Position der Behörden.

Die Kriegspartei nutzt die sozialen Netzwerke als Sprachrohr – darunter die Plattformen von Gruppen, die man als „Ultranationalisten“ bezeichnen könnte. Sie kann sich derzeit noch uneingeschränkt äußern, löst aber bei der politischen Führung eine gewisse Beunruhigung aus. So erklärte im Februar der Duma-Abgeordnete Oleg Matweitschew von der Präsidentenpartei Einiges Russland: „Einen liberalen Maidan müssen wir nicht fürchten, denn die Liberalen sind alle geflohen.“ Die einzige Gefahr für den Staat sei „ein ultranationalistischer, leicht links eingefärbter Maidan und entsprechende Debatten über die Korruption.“4

Seit Beginn der Invasion füttern sogenannte Kriegsberichterstatter – Anhänger der extremen Rechten mit militärischen oder paramilitärischen Befugnissen – die sozialen Netzwerke mit Nachrichten über die militärischen Operationen. Der Bekannteste unter ihnen ist Igor Strelkow, ein früherer FSB-Geheimdienstoffizier mit monarchistischen Überzeugungen. 2014 eroberte er an der Spitze einer Einheit russischer Freiwilliger die Stadt Slawiansk im ukrainischen Donbass. Zwar hat Moskau die Separatisten militärisch unterstützt, aber ihre Anführer sind

aufgrund ihrer Unberechenbarkeit und ihres Fanatismus auch dem Kreml nicht geheuer.5 Strelkow musste deswegen den Donbass verlassen. Heute beklagt er auf seinem Telegram-Kanal, dass der Kreml den ukrainischen Feind nicht hart genug bekämpft. Telegram nutzen fast 1 Million Menschen. Nach den militärischen Rückschlägen im Herbst 2022 prangerten Strelkow und andere radikale Nationalisten die Fehler des Putin-Regimes an. Sie kritisierten die schlechte Organisation des militärischen Nachschubs, die Schwäche der Rüstungsindustrie, die Inkompetenz und Bestechlichkeit der Generäle und eine mediokre Führungselite, die im Luxus schwelge, während das Vaterland in Gefahr sei. Und sie mutmaßen, ein Teil von Putins Entourage wolle sich heimlich mit dem Westen aussöhnen, selbst wenn das die Kapitulation bedeuten sollte.

„Wenn sie Russland in diesem Krieg aufgeben, können wir ihren lieben Partnern aus dem Westen wahrscheinlich nichts anhaben“, schrieb Strelkow am 3. Februar 2023. „Aber wir werden alles tun, um sie selbst dann zu kriegen.“ Er bezweifelt, dass die Regierung den Krieg gewinnen wird. Noch weiter geht Maxim Kalaschnikow, ein Verbündeter Strelkows und Stalin-Bewunderer: „Es wird unvermeidlich zu einer großen Umwälzung kommen. Die da oben wissen das und machen sich Sorgen. Unser Ziel ist es, diese Umwälzung dann in einen nationalen, patriotischen Sieg umzumünzen.“6

Der Zorn der nicht zum eigentlichen Herrschaftssystem gehörenden Patrioten hat mittlerweile auch die loyalen Anhänger des Kriegslagers erfasst, was den Kreml enorm beunruhigt. Der Chef der Gruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, dessen Privatmiliz in der Ukraine kämpft und der mit den Generälen der Armee rivalisiert, spricht offen über Probleme wie soziale Ungleichheit, Korruption und Unfähigkeit innerhalb der Militärhierarchie.

Doch Prigoschins öffentlicher Aktivismus hat das Präsidialamt verärgert, das ihm mittlerweile den Zugang zu den russischen Gefängnissen verwehrt, wo er unter den Häftlingen Freiwillige für die Front rekrutiert hatte. Der neue Generalstabschef Waleri Gerassimow reduzierte außerdem den Munitionsnachschub für die Gruppe Wagner. Doch Prigoschin revanchierte sich rasch: Er wies seine Kämpfer an, Videos nach Strelkow-Art zu drehen, in denen der Militärführung und den Beamten Verrat vorgeworfen wird. In einem dieser Clips steht ein Söldner vor mehreren Leichen und sagt: „Hört auf mit dem Unfug. Lasst uns kämpfen, lasst uns unser Vaterland verteidigen.“7

Die Wut auf das Regime hat auch die Soldaten und Offiziere in den Schützengräben erfasst. Im Rahmen der Ende September 2022 verkündeten Mobilisierung wurden nach offiziellen Angaben 320 000, nach unabhängigen Schätzungen 500 000 Soldaten eingezogen.8 Die Zahl dürfte sich angesichts der im April 2023 von der Duma verabschiedeten Vorschriften noch erhöhen: Diese sehen eine elektronische Einberufung, ein Ausreiseverbot für Einberufene sowie das Einfrieren des Immobilienvermögens von Exilrussen vor.

Die Mobilisierung hat vor allem die ärmsten Regionen getroffen – insbesondere die Kleinstädte und Dörfer rückständiger Provinzen, also die traditionellen Wahlhochburgen Putins. Die Behörden beriefen zunächst Reserveoffiziere und Reservisten mit militärischer Spezialausbildung ein: Männer mittleren Alters mit niedrigem oder mittlerem Einkommen aus Regionen fern von Moskau. Sie zählen mehrheitlich zu den „Neutralisten“, also jener gesellschaftlichen Gruppe, die den Krieg nicht aus militaristischer Überzeugung, sondern aus Loyalität unterstützt. Sie tragen mittlerweile die Hauptlast der Kampfeinsätze.

Bei der Entlohnung dieser Soldaten lässt sich der Staat nicht lumpen. Die Soldaten erhalten durchschnittlich 200 000 Rubel (rund 2500 Euro) im Monat – das Zehnfache des Lohn, der sich in den Kleinstädten einer deindustrialisierten Region erzielen lässt. Und im April kündigte Putin an, einen Sonderfonds für Familien von Gefallenen und für Kriegsveteranen einzurichten.

Revoltierende Soldaten

Maxim Kalaschnikow glaubt trotzdem, dass nur ein Sieg das Regime retten kann. In einem Video auf seinem Youtube-Kanal Roi am 5. Februar erklärte er: „Es zeichnet sich eine völlig neue Realität ab. Männer werden mit der Waffe in der Hand von der Front heimkehren, ähnlich wie einst die deutschen und italienischen Veteranen nach dem Ersten Weltkrieg. Sie werden als Maximalisten zurückkehren und sich sehr ungerecht behandelt fühlen. Und sie werden den Obszönitäten von Einiges Russland kein Gehör mehr schenken.“

Bisher haben die Soldaten ihren „Maximalismus“ meist anderweitig zum Ausdruck gebracht. Vereinzelt kam es zu spontanen Rebellionen, mobilisierte Soldaten protestierten gegen mangelhafte Ausrüstung und Ausbildung, manchmal verließen sie sogar ihre Einheiten, attackierten Offiziere oder stoppten Transportzüge.

Den Behörden ist es gelungen, diese erste Welle der Unzufriedenheit abzuwehren: Revoltierende Soldaten wurden in Kellern eingesperrt, geschlagen und eingeschüchtert. Mehrere dieser Aufständischen verurteilte das Regime zu exemplarisch harten Strafen.9 Im Januar dieses Jahres wurden viele der frisch einberufenen Rekruten vom Hinterland an die Front verlegt, was die Zahl der Gefallenen stark ansteigen ließ. Für das Jahr 2022 kamen Journalisten, die an Listen mit den Namen gefallener russischer Soldaten arbeiten, auf 200 bis 250 getötete Militärangehörige pro Woche. Die tatsächlichen Verluste könnten viel höher liegen. Im März 2023 standen auf den wöchentlichen Listen manchmal mehr als 800 Namen.10

Die Presse berichtet zudem über desertierte Soldaten, wobei wahrscheinlich nicht alle Fälle von Fahnenflucht publik werden. Militärangehörige machen sich aus Krankenhäusern davon, springen aus Zügen, die sie an die Front transportieren sollen, oder laufen Dutzende Kilometer, wobei sie sich häufig im Hinterland verirren. Inzwischen haben Angehörige von Rekruten Online-Diskussionsgruppen gegründet, um Deserteuren zu helfen, ihre Flucht zu planen, Unterkünfte zu finden und Militärpatrouillen aus dem Weg zu gehen. Im Februar und März wurden über das Internet 18 Videos gepostet, die zeigten, wie ganze Einheiten mobilisierter Soldaten Kampfeinsätze verweigern und ihren Abtransport von der Front fordern.11

Die Anthropologin Alexandra Archipowa zählt derweil mindestens 85 Orte in 65 Städten, an denen Blumen oder Spielzeug niedergelegt wurden.12 Und das, obwohl alle wissen, dass es gefährlich ist, öffentlich der ukrainischen Kriegsopfer zu gedenken. Mehrere Personen wurden bereits in der Nähe dieser „Blumenmahnmale“ festgenommen und wegen der „Diskreditierung der russischen Armee“ verurteilt.

Dennoch haben mehrere tausend Russinnen und Russen dieses Risiko bewusst in Kauf genommen. Viele von ihnen hatten zuvor noch nie an einer Protestveranstaltung teilgenommen, haben Archipowa und ihr Team ermittelt. Derartige Mahnmale entstanden etwa in Orenburg, Nischni Tagil, Omsk und Gorno-Altaisk, also in Städten, die bisher nicht als Zentren regierungskritischer Proteste aufgefallen waren.

Nur ein Viertel der Blumenmahnmale wurde an Orten mit Bezug zur Ukraine errichtet – etwa in Straßen mit „ukrainischen“ Namen. In 47 der 85 untersuchten Fälle organisierte man das Gedenken vielmehr an Stätten, wo an die Opfer staatlicher Verbrechen oder staatlichen Missmanagements erinnert wird. Dazu zählen Denkmäler zur Mahnung an den stalinistischen Terror oder an die Katastrophe von Tschernobyl oder auch Plätze, an denen Oppositionelle umgebracht wurden.

„Die Botschaft ist unmissverständlich: Der Staat hat in der Vergangenheit Menschen getötet, er tötet heute, und er wird auch in Zukunft töten“, sagt Archipowa. In den Städten Schachty und Saratow wurden Denkmäler für die Opfer des Faschismus als Gedenkorte ausgewählt. Damit zog man eine Parallele zwischen dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und dem Überfall der Nazis auf die Sowjetunion. Eine weitere Welle des „Blumenprotests“ durchlief des Land um den 24. Februar, dem ersten Jahrestag des Kriegsbeginns. Trotz verschärfter Repressionen durch die Polizei schafften es die Menschen in 59 Städten, an mindestens 82 Orten ein spontanes Blumengedenken zu organisieren.13 So hat sich die Praxis, Blumen an Denkmälern für Opfer staatlicher Verfolgung niederzulegen, zu einer etablierten Form des kollektiven Protests gegen den Krieg entwickelt.

Im Krieg schließt das Volk die Reihen, hört man oft. Für das heutige Russlands muss diese Annahme differenziert werden. In allen sozialen Schichten und ideologischen Lagern lässt sich derselbe Prozess beobachten: Die Begriffe „wir“ und „die anderen“ nehmen neue Bedeutungen an. Das „wir“ steht je nach Kontext für „die einfachen Leute“, „die wahren Patrioten“ oder „die Opfer des Staats“. Wer mit „die anderen“ gemeint ist, ist dagegen klar: Es sind die Behörden und nicht mehr nur der äußere Feind.

Sollte dem Kreml keine Wende auf dem Schlachtfeld gelingen, könnte sich die Front ins Hinterland verlagern. Und in den Augen aller – ob Nationalist oder Pazifistin – ist es einzig die Regierung, die das Land an den Rand der Katastrophe geführt hat. Dann wird die Schlacht um die Ukraine zur Schlacht um ein neues Russland.

1 Die Institute Lewada, Re:Russia und Russian Fields, die keine öffentlichen Gelder erhalten, verzeichneten je nach Formulierung der Frage zur „Spezialoperation“ Zustimmungsraten von 56 bis 77 Prozent. Die genannten Zahlen stammen aus diesen Umfragen.

2 „Ein Jahr militärische Spezialoperation: Die Meinung der Russinnen und Russen“ (auf Russisch), zwischen 31. Januar und 6. Februar 2023 durchgeführte Umfrage, www.russianfield.com.

3 „Versunken im Krieg: Chronik der öffentlichen Meinung“ (auf Russisch), Russia, 1. März 2023, www.re-russia.net.

4 „Mitglieder der Partei Einiges Russland verweisen auf die Gefahr eines ultranationalistischen Maidan“ (Russisch), Politnavigator, 3. Februar 2023, www.politnavigator.net.

5 Siehe Juliette Faure, „Wer sind die russischen Falken?“, LMd, April 2022.

6 „Gefahren und Dämonen der großen Umwälzung“ (auf Russisch), LiveJournal, 7. Januar 2023, www.m-kalashnikov.livejournal.com.

7 „Razbruzka_vagnera“, Telegram, 17. Februar 2023.

8 „Lass uns heiraten. Die Zunahme der Hochzeiten deutet darauf hin, dass Mitte Oktober mindestens 429 000 Menschen mobilisiert waren“ (Russisch), Mediazona, 24. Oktober 2022, www.zona.media.

9 „Ein Soldat wurde wegen des Angriffs auf einen Offizier zu fünfeinhalb Jahren verschärfter Haft verurteilt“, Gazeta.ru, 11. Januar 2023, www.gazeta.ru.

10 „Verluste Russlands in der Ukraine“, aktualisierte Infografik, Mediazona, www.zona.media/casualties.

11 „Mobilisierte Soldaten reichen Beschwerden ein“, Telegram-Kanal Viorstka, 9. März 2023, www.t.me/svobodnieslova/1566.

12 Alexandra Archipowa, „Empathie als Form des Protests“ (Russisch), Kholod, 2. Februar 2023, www.holod.media.

13 Siehe Archipowas Telegram-Kanal vom 27. Februar 2023, www.t.me/anthro_fun/2075.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Alexeï Sakhine und Lisa Smirnova sind Journalisten und Mitglieder der Koalition „Sozialisten gegen den Krieg“.