Patrioten und Dissidenten

Le Monde diplomatique –

Der Krieg und die öffentliche Meinung in Putins Reich

Boris Wischnewski hat es eilig. Der Abgeordnete der liberalen Oppositionspartei Jabloko im Regionalparlament von Sankt Petersburg ist auf dem Weg zu einer politischen Versammlung. Als wir ihn fragen, ob er uns sagen kann, wie es in diesen Tagen um die öffentliche Meinung in Russland steht, muss er erst mal laut lachen: „Seid Ihr Psychiater?“

Es gibt in Russland zwei große Meinungsforschungsinstitute: Das noch zu Sowjetzeiten 1987 gegründete „Allrussische Zentrum zur Erforschung der öffentlichen Meinung“ WZIOM und das Lewada-Zentrum. Als das WZIOM 2003 zu hundert Prozent vom Staat übernommen wurde, stiegen der Soziologe und WZIOM-Abteilungsleiter Juri Lewada (1930–2006) und andere Mitarbeiter:innen aus. Ihr neu gegründetes Lewada-Zentrum ist auf Unabhängigkeit vom Kreml bedacht. Da das Institut auch Aufträge von Privat- und Auslandskunden annimmt, wird es seit 2016 vom Justizministerium als „ausländischer Agent“ abgestempelt.1

Anders, als man vermuten würde, kommen die Analysen beider Institute zu etwa demselben Befund: Seit März stehen rund 75 Prozent der Befragten voll oder weitgehend hinter der „militärischen Spezialoperation“. Die große Frage ist jetzt, ob die am 21. September angeordnete Teilmobilmachung von 300 000 Reservisten die öffentliche Meinung ändern wird.

Schon vor Verkündung des Mobilisierungsdekrets hatte der Direktor des WZIOM, Waleri Fjodorow, in einem Videointerview die Vorstellung einer „heiligen Einheit“ der Nation relativiert. Er betonte vor allem, dass die Umfragen nicht ausweisen, wie viele Befragte gar nicht antworten wollten: „Es gibt eine große Unruhe“, im Gegensatz zur Begeisterung von 2014 nach der Annexion der Krim.

Die WZIOM-Umfrage von Ende August zeichnet ein differenziertes Bild. Am größten war die Unterstützung für den Krieg bei der Alterskohorte, die vor der Perestroika geboren wurde: Bei den über 55-Jährigen, die sich über das Staatsfernsehen informieren, liegt sie 10 Prozentpunkte über dem Durchschnitt. Aber selbst von der Internet-Generation der 18- bis 24-Jährigen standen 65 Prozent hinter der Militäroperationen in der Ukraine.

Offenbar ist die herrschende Meinung: Wenn das Land im Krieg ist, muss man es unterstützen. Aktiv scheint das jedoch nur eine Minderheit zu tun, etwa indem sie Spenden für die Geflüchteten aus dem Donbass oder für den Ankauf von Drohnen und anderem Militärgerät sammelt. Zudem ließen sich laut WZIOM rund 1 Million Freiwillige von der Armee oder privaten Söldnertruppen wie der Gruppe Wagner rekrutieren, wobei die meisten von ihnen allerdings aus den ärmsten Regionen der Russischen Föderation stammen, insbesondere aus Tschetschenien, Nordossetien und Tschuwaschien.

In den ersten Monaten bewirkten die westlichen Sanktionen und Waffenlieferungen an die Ukraine noch eine starke Solidarisierung mit der Regierung, was die Antikriegsbewegung isoliert und auch geschwächt hat. Bereits im Mai sollen etwa 150 000 Russen, vor allem junge Männer mit Hochschulabschluss, in die Türkei, die Vereinigten Arabischen Emirate, Armenien und Georgien ausgereist sein.

In einem Interview mit der Nachrichtenagentur RIA Nowosti erklärte Fjodorow im August, etwa 10 Prozent der Befragten hätten in den ersten drei, vier Wochen nach Beginn der Ukraine-Invasion ihre Meinung geändert. Ein Teil der Kriegsgegner oder der Indifferenten sei auf einmal für „die Sonderoperation“ gewesen,3 weil die westlichen Sanktionen in ihren Augen bestätigten, was die russische Propaganda seit 2014 behauptet hatte: dass Russlands Gegner nicht die Ukraine ist, sondern die Nato und besonders die USA und sie alles tun würden, um Russland zu schwächen.

Kurz vor der Invasion hatten bei einer Umfrage des Lewada-Zentrums bereits 60 Prozent der Befragten die Nato für die Spannungen im Donbass verantwortlich gemacht (und nur 14 Prozent die Ukraine).4 Dann aber habe die Reaktion des Westens selbst die Gemäßigten dazu bewogen, sich mit Putins Entscheidung zu solidarisieren. Nachdem zuerst die baltischen Staaten, Polen und Tschechien russischen Staatsbürger:innen die Einreise mit Touristenvisa verweigerten, hat die Anfang September getroffene Entscheidung der EU, auch den Zugang zum Schengenraum zu erschweren, diese Wagenburgmentalität noch weiter verstärkt. An den Umfrageergebnissen änderte das wenig.

Offenbar kann nur ein dramatisches Ereignis einen Umschwung der öffentlichen Meinung auslösen. Dieser Punkt könnte mit der allgemeinen Mobilmachung vom 21. September erreicht sein. Die erste unmittelbare Auswirkung war eine Massenflucht von verschreckten Wehrpflichtigen: 100 000 reisten in das zentralasiatische Nachbarland Kasachstan aus. Aus Usbekistan kommt die vage Angabe, seit der Teilmobilmachung seien „hunderttausende“ Männer eingereist, zum Teil mit ihren Familien (Stand 30. September).

Im Sommer war die Stimmung noch seltsam normal

In den heißen Sommermonaten war die Atmosphäre in Sankt Petersburg dagegen noch seltsam normal gewesen. In den Weißen Nächten herrschte auf den Straßen ein buntes Gedränge, Urlaubsreisen aus dem ganzen Land frequentierten die Restaurants und Café-Terrassen und die Souvenirläden machten glänzende Geschäfte. Inmitten der scheinbar sorglosen Stimmung tauchten nur sporadisch die Symbole auf, die an die „militärischen Spezialoperation“ erinnerten: Hier und da ein auf die Kleidung aufgenähtes Z, manchmal kombiniert mit der schwarz-orange gestreiften Sankt-Georgs-Banderole, Symbol des Siegs über den Faschismus. Unaufdringlich war auch die Polizeipräsenz – jedenfalls im Vergleich zu dem letzten großen Krieg in Tschetschenien (1999–2009), als an jeder Ecke die Ausweise kontrolliert wurden.

Ähnlich entspannt ging es in der Fußgängerzone im Zentrum Moskaus zu. Ein Souvenirhändler witzelte: „Russische Fahnen sind ausverkauft.“ Die „entamerikanisierten“ McDonald’s-Filialen, seit Juni wieder aufgemacht – unter dem Logo „Das ist gut. Punktum“ –, waren brechend voll. Alles beinahe wie früher: der Geruch von Bratfett, die Fast-Food-Menüs, die aufgekratzte Stimmung. Nur die Deko wurde verändert, und das Bedienungspersonal trägt jetzt Schwarz. Opposition trat nur einmal in Erscheinung, in der Moskauer Metro: ein elegant gekleideter junger Mann mit gepflegtem Bart, auf seinem makellos weißen T-Shirt der Schriftzug „Ausländischer Agent“.

In Putins Russlands gibt es nur verlässliche Patrioten oder störende Elemente. Das im November 2012 in Kraft getretene Gesetz, nach dem sich NGOs, die Gelder aus dem Ausland erhalten, als „ausländische Agenten“ neu registrieren lassen mussten, wurde vor kurzem auf Einzelpersonen ausgeweitet; und das Feindkriterium „Finanzierung“ wurde ausgeweitet: Jetzt reicht es schon aus, durch das Ausland „beeinflusst“ zu sein. Kritikern der Staatsmacht drohen Polizeigewahrsam, Verhöre und Durchsuchungen. Am 8. Juli wurde der Moskauer Bezirksverordnete Alexei Gorinow zu sieben Jahren Haft verurteilt, weil er den russischen Überfall auf die Ukraine öffentlich verurteilt hat. Und den friedlichen Demonstrant:innen, die seit der Teilmobilmachung verhaftet wurden, drohen bis zu fünfzehn Jahre Gefängnis.

Währenddessen sendet das Staatsfernsehen seit Monaten in Dauerschleife rührende Berichte aus den „befreiten Gebieten“. Über die dankbare Bevölkerung und die rücksichtsvolle russische Armee, die stets darauf bedacht sei, auf beiden Seiten Menschenleben zu schonen. In regelmäßigen Abständen tritt Putin vor die Kamera, um zu erläutern, wie und warum Russland auf dieses oder jenes Ereignis reagiert.

Die morgendlichen Lageberichte von Generalleutnant Igor Konaschenkow, der mit monotoner unbeteiligter Stimme die Fortschritte und Rückschläge der „Sonderoperation“ herunterleiert, lassen allerdings den zähen Verlauf der russischen Operationen erahnen. Doch das angesprochene Publikum hatte sich von Anfang an eine gewisse Immunität gegen schlechte Nachrichten zugelegt. Das zeigte sich am deutlichsten, als die Ukrainer Mitte April den Lenkwaffenkreuzer „Moskwa“, das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte, versenkt hatten. Das hatte damals überraschenderweise keinen Absturz in den Umfragen zur Folge. Doch nachdem die ukrainische Streitkräfte seit Wochen mit ihrer Gegenoffensive erfolgreich sind, werden auch die Grenzen dieser Duldsamkeit sichtbar.

Der Schriftsteller Dmitri Iwanow erläutert uns seine Sicht der Dinge, die vielleicht am besten die herrschende Stimmung ausdrückt: „Ich bin gegen den Krieg. Was für ein Mensch muss man sein, um sich über ein Gemetzel zu freuen, in dem so viele unschuldige Menschen sterben?“ Aber wie die meisten seiner Landsleute sieht er die Ukraine als Opfer des Kalten Kriegs, den der Westen seit dem Untergang der Sowjetunion gegen Russland fortgeführt und verschärft habe.

„Die USA haben einen schweren Fehler gemacht, als sie die Umzingelung Russlands beschleunigt haben“, erklärt Iwanow. „Das hat schon Jelzin Verdruss bereitet. Wenn er heute an der Macht wäre, hätte er vielleicht genauso wie Putin entschieden, und jeder andere Generalsekretär auch.“ Es gebe nun einmal historische Konstanten. Der Krieg sei die logische Folge von fünf Nato-Erweiterungen. Die USA hätten ihn verhindern können und müssen. „Jetzt ist er da und könnte sich wie ein Buschfeuer ausbreiten“, sagt Iwanow und nennt Transnistrien, Moldau und Kaliningrad als nächste Brandherde.

In Russland herrschte lange die Meinung, dass der russisch-westliche Konflikt bis zum Winter auf dem ökonomischen Feld entschieden sein wird: Mangel gegen Mangel. „Die Russen und die Europäer haben nicht die gleiche Widerstandskraft“, meint der Historiker Khafiz Koutlaliew. „Wir haben Benzinrationierung, leere Lebensmittelregale und Hyperinflation schon erlebt.“ Die Wirtschaftskrise unter Jelzin ist noch nicht vergessen. Und bislang ist die ökonomische Lage viel harmloser als in den 1990er Jahren, die ein kollektives Trauma hinterlassen haben. Viele reden sich ein, dass das Leben auch ohne das neueste iPhone, Parmesan und Parisreisen noch möglich sein wird.

Immer wieder hört man, die EU werde aufgrund der Inflation als Erstes in die Knie gehen und verhandeln müssen. Zwar sehen fast alle schwierigen Zeiten kommen, aber noch ist keine Panik ausgebrochen. Es gibt keine Warteschlangen mehr vor den Geldautomaten. Der Bauboom in Moskau wie in der Provinz ist unübersehbar. Die Arbeitslosenzahlen sind zwar geschönt, aber tatsächlich auf einem historischen Tiefstand. Nach Angaben der Sberbank ist der reale Medianlohn seit dem Frühjahr gestiegen.

Der Informatiker Sergei Tolstich verfolgt im Internet nur die Wirtschaftsnachrichten, den Krieg versucht er weitgehend auszublenden. Mit seinen Kollegen entwickelt Tolstich ein linuxbasiertes Betriebssystem, andere Gruppen arbeiten an Alternativen zu Android. „Nachdem wir von digitaler Souveränität lange nur geredet haben, kommt sie jetzt endlich voran!“, verkündet Tolstich voller Stolz.

Die Staatsmedien erinnern ständig an das Durchhaltevermögen des russischen Volks in harten Zeiten. Die Sanktionen werden sogar als wirtschaftliche Chance für das Land dargestellt. „In den Gruppeninterviews, die wir durchführen, behaupten die Teilnehmer, dieselben Sanktionen habe es schon gegen die UdSSR gegeben“, erzählt der Direktor des Lewada-Zentrums Denis Wolkow. „Die Ankündigung der Sanktionen hat zunächst einen gewissen Schock ausgelöst; jetzt erscheinen sie geradezu als Segen; viele betrachten sie als Anreiz, strategische Bereiche der nationalen Wirtschaft voranzubringen.“

Bestärkt wird dieser Optimismus durch das Scheitern der westlichen Sanktionen. Das angekündigte Finanzchaos ist ausgeblieben, stattdessen hat das Embargo gegen Russland die Öl- und Gaspreise explodieren lassen und die Staatskassen gefüllt. Aber wird das so bleiben, wenn die russischen Prognosen danebenliegen?

„Jedes Unglück ist zu etwas gut“, meinte ein Mann, den wir im Sommer in einer Moskauer Bar trafen. „Der Krieg hat Covid beendet. Nichts mehr mit Masken und Ausgangsbeschränkungen!“ Doch solch demonstrative Gelassenheit kann die bellizistische Elite heute nicht mehr dulden. „Da draußen läuft eine Spezialoperation, aber viele Menschen, viele Familien fühlen sich nicht betroffen“, wütete einer von Putins Abgeordneten in der Duma. „Die ganze Gesellschaft muss alles tun, um den Sieg zu erringen.“

Das war eine Woche vor dem Mobilisierungserlass vom 21. September. Doch der kann die Stimmung erneut umschlagen lassen, wenn die einen in den Krieg geschickt werden und die anderen ihm entkommen wollen.

1 Siehe die Stellungnahme des Direktors des Lewada-Zentrums Lew Gudkow vom 7. September 2016 auf der Webseite der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb.de).

2 Die Demografin Julia Florinskaja im Interview mit dem russischen Exilmedium Meduza, Riga, 7. Mai 2022.

3 Ria Nowosti, 24. August 2022.

4 Website des Lewada-Zentrums, 24. Februar 2022.

5 Expert, Moskau, 27. Juni 2022.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Christophe Trontin ist Journalist in Moskau.