Desertieren in Russland: Wer ins Gefängnis muss, hat Glück
Für russische Soldat:innen wird es immer schwieriger, den Kriegsdienst zu verweigern. Trotzdem ist Fahnenflucht ein Massenphänomen.

An diesem Ort wird nicht viel gesprochen. Und wenn, dann so leise, dass das Gesagte im Lärm vorbeifahrender Autos untergeht. Bis zum Roten Platz sind es nur wenige Gehminuten. Ein Paar mittleren Alters studiert die weit über 200 Fotos, die dicht an dicht vor einer orthodoxen Kirche hängen und vorwiegend junge Männer, aber auch einige Frauen zeigen. Dazwischen frische Blumen, vereinzelt brennen Kerzen. Darüber sind Fahnen aufgespannt, die das imperialistische Konzept der «russischen Welt» widerspiegeln: die Flaggen der Donezker «Volksrepublik», der Söldnertruppe Wagner, des Freiwilligenverbands Espanola, der russische Fussballultras rekrutiert, des zaristischen Russlands. Und das rote Siegesbanner, 1945 auf dem Berliner Reichstag angebracht. Es soll suggerieren, dass die hier ausgestellten toten Soldat:innen – ähnlich wie ihre Vorfahren – im Kampf gegen den Faschismus gefallen seien. Für eine gerechte Sache also.
Etliche Passant:innen ignorieren das Bild, das sich ihnen bietet, geflissentlich; andere werfen zumindest einen kurzen Blick darauf. Oder sie bleiben irritiert stehen, denn das Dargebotene widerspricht trotz vertrauter Symbolik dem gängigen Propagandamodus. Zwar veröffentlicht das russische Verteidigungsministerium eifrig Verlustmeldungen der ukrainischen Streitkräfte; über eigene Opferzahlen breitet die Armeeführung jedoch einen Mantel des Schweigens. Im ersten Kriegsjahr rückte sie lediglich dreimal Zahlen heraus; dann noch einmal 2023, nach dem Beginn der ukrainischen Gegenoffensive. Das wars.
Tricksen mit den Toten
Eine Frau küsst ein gerahmtes Foto und wischt anschliessend mit einem Tuch darüber – wie über eine Ikone. So etwas wie Trauer hat im offiziellen Narrativ keinen Platz. Weder für gefallene Kämpfer:innen noch für zivile Tote. Und schon gar nicht für die unzähligen Opfer auf der ukrainischen Seite. Die Fotowand entstand im Sommer 2023, nachdem Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war. Zwei Monate vor seinem Ableben hatte der gnadenlose Kriegsgeschäftemacher seine Söldnereinheiten auf einen «Marsch der Gerechtigkeit» in Richtung Moskau geschickt, um Wagner davor zu bewahren, unter die Befehlsgewalt der russischen Streitkräfte gestellt zu werden.
Prigoschins wird auch heute noch gedacht. Am Gedenkort kniet sich ein schwarz gekleideter Mann mit akkurat geschnittenem, ergrautem Haar auf den Boden und streicht mit leichter Hand über ein Prigoschin-Porträt. Er trägt ein Wagner-Abzeichen am Ärmel. Vier Monate lang habe er an der Front gekämpft, bis er schwer verletzt worden sei. Bereut habe er nichts; trotzdem begrüsst er die Bemühungen von US-Präsident Donald Trump, einen Waffenstillstand herbeizuführen: «So Gott will, wird es bald vorbei sein.» Gingen die Kämpfe weiter, würde nur noch mehr Blut vergossen werden. Ob es nicht merkwürdig wäre, wenn der Krieg auf Initiative der USA zu Ende ginge? «Besser ein merkwürdiges Ende als ein blutiges», sagt er ohne Zögern.
Es mag überraschen, dass ausgerechnet ein Wagner-Angehöriger für die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen plädiert, wo Russland nicht einmal alle per Verfassungsänderung einverleibten Regionen im Osten und Süden der Ukraine komplett kontrolliert. Allein steht er damit nicht. Wer das Kampfgeschehen aus unmittelbarer Nähe kennt, weiss sehr genau, dass sich hinter jeder militärischen Erfolgsmeldung eine hohe Zahl Tote aus den eigenen Reihen verbirgt.
Das oppositionelle Onlineportal «Mediazona» ermittelte aus offen zugänglichen Quellen, beispielsweise Nachrufen, über 100 000 Namen gefallener russischer Militärangehöriger. Unter Berücksichtigung weiterer Indizien wie der gestiegenen Zahl an Erbangelegenheiten kommt man auf mindestens 160 000. Die realen Ziffern dürften allein schon deshalb weit höher liegen, weil über den Verbleib unzähliger Vermisster gar keine Informationen verfügbar sind.
Einen Teil davon verbucht die Militärbehörde unter dem Kürzel «Sotsch» – «unerlaubtes Fernbleiben von der Truppe». Diese Finte erlaubt es, Gelder zurückzuhalten, die nahen Verwandten im Todesfall zustehen – ohne Leiche keine Entschädigung. Diese Praxis legte das unabhängige Onlinemedium «Wjorstka» nach der Durchsicht von Chats offen, in denen sich Angehörige von Soldaten austauschen, deren Spuren sich komplett verlieren. Doch gibt es auch jene, die es gar nicht erst so weit kommen lassen wollen: Fahnenflucht ist längst ein Massenphänomen.
Nach dem Einsatz Alkoholiker
Timofej Muratow* beobachtet eine gewisse Kriegsmüdigkeit. «Vorgestern war bei uns die Frau eines Mobilisierten zur Beratung, Ärztin von Beruf», erzählt der Jurist der Koalition «Appell an das Gewissen», der seinen richtigen Namen vorsichtshalber nicht öffentlich macht. Seine Gruppe leistet Unterstützung bei der Wehrdienstverweigerung; sie übernimmt auch die Verteidigung vor Gericht. «Noch vor einem Jahr wollte ihr Mann nach Urlaubsbeginn sofort wieder zurück zu seiner Einheit; jetzt will er nicht mehr», erzählt Muratow weiter. Die ersten zwei Wochen zu Hause habe er nur getrunken; überhaupt sei er, seitdem er zum Militärdienst eingezogen worden sei, zum Alkoholiker mutiert – mit bleibenden Leberschäden. Seine Frau habe ihn in eine psychiatrische Klinik einweisen lassen, wo er sich seit sieben Monaten aufhalte. Solange er gültige Nachweise über seinen Gesundheitszustand vorlegen kann, bewegt sich der Militärangehörige im legalen Rahmen, aber im Moment laufe es darauf hinaus, dass ihm wieder Diensttauglichkeit attestiert werde.
Wichtig sei es, alle rechtlich vorgesehenen Optionen auszuschöpfen und glaubhafte Hinderungsgründe für eine Fortsetzung des Militärdiensts darzulegen, ohne sich dem Militärdienst grundsätzlich zu verweigern, sagt Muratow. Zwar stehen nach einem längeren Fronteinsatz allen Militärangehörigen Rehabilitationsmassnahmen zu; trotzdem werden Soldaten zu den Waffen zurückbeordert. Wer sich dann widersetzt, macht sich strafbar. «Viele würden liebend gerne eine Haftstrafe absitzen», ist sich Muratow sicher. Aber in der Praxis sei der vorsätzliche Gang ins Gefängnis mit extrem hohen Risiken verbunden.
Manche kehrten noch vor ihrer Verurteilung zu ihrer Einheit zurück, sagt Muratow. Aber nicht etwa aus Angst vor einer harten Bestrafung – das übliche Strafmass liegt bei fünf Jahren Haft. «Weitaus schlimmer als eine reale Haftstrafe ist eine Bewährungsstrafe», so Muratow. Damit verweist er auf ein Paradox, das Verteidiger:innen in die absurde Situation bringt, vor Gericht einen Schuldspruch mit Gefängnis für die Angeklagten zu erwirken. Der Grund: Nur bei Freiheitsentzug erfolgt die Entlassung aus der Armee. Wer auf Bewährung freikommt, wird strafversetzt und einer Sturmeinheit zugeteilt. «Das kommt einem Todesurteil gleich.» Wer es schafft, sich dem zu widersetzen, darf wegen Strafwiederholung zumindest darauf hoffen, dass eine erneute Verurteilung zur gewünschten Freiheitsstrafe führt.
«Mediazona» geht derzeit von fast 20 000 Strafverfahren wegen «Sotsch» aus. Diese Einschätzung ist aber nur bedingt aussagekräftig. Die Justizbehörde hält statistische Angaben unter Verschluss, und selbst die Gerichte informieren nur selektiv über laufende Prozesse und Urteile. Allein im von Russland annektierten Donbas hat die Polizei mindestens 2850 Fahnenflüchtige zur Fahndung ausschreiben lassen. Wie viele insgesamt gesucht werden, ist unklar.
Einmal hatte Muratow mit einem frommen Evangelikalen zu tun, der aus Pflichtgefühl der Einberufung gefolgt war, sich dann aber abgesetzt hatte. Ein Jahr lang lebte er ungestört, bis ein Verwandter ihn anzeigte. Andere halten sich ebenfalls unbehelligt an ihrem Wohnsitz auf oder gehen sogar einer geregelten Arbeit nach – Hauptsache, sie fallen nicht auf. Manche Militäreinheiten suchen systematisch nach Fahnenflüchtigen. Werden sie fündig, lassen sie die Betreffenden im Regelfall kurzerhand zur Truppe zurückschaffen.
Russisches Roulette
Strafermittlungen könnten ins Stocken geraten oder gar nicht erst eingeleitet werden, weil den zuständigen Behörden schlichtweg die nötigen Kapazitäten fehlten, gibt Muratow zu bedenken. Er will sich nicht festlegen, ob Fahnenflucht tatsächlich zunimmt oder sich die Justiz nur häufiger mit dem Phänomen befasst. Auch schon vor Beginn der Teilmobilmachung im September 2022 und der darauf folgenden Verschärfungen im Strafrecht hätten Soldaten in grosser Zahl den Dienst quittiert. Konsequenzen blieben damals aus. Seither ist das reguläre Ausscheiden aus dem Armeedienst nur noch in absoluten Ausnahmefällen zulässig. Klare Gesetzmässigkeiten im Umgang mit abtrünnigen Armeeangehörigen lassen sich keine ausmachen – bis auf eine: je weiter weg von Moskau, desto grösser die Willkür. So sieht russisches Roulette aus.
Seit dem 1. April bis Mitte Juli läuft die Frist zur Einberufung zum regulären Wehrdienst für Männer bis dreissig Jahre. An der Front dürfen sie nicht eingesetzt werden, wohl aber kommt es vor, dass frische Rekruten dazu genötigt werden, mit den Streitkräften einen Vertrag zum Kriegseinsatz zu unterzeichnen. Solange die Kampfhandlungen weitergehen, braucht es dringend Nachschub. Da sich dieser formal im Moment nur auf freiwilliger Basis formiert und selbst reichlicher Sold als Lockinstrument nicht ausreicht, bilden Häftlinge nach wie vor eine wichtige menschliche Ressource, weiss Sergei Plotnizki* zu berichten. Er arbeitet für eine der wenigen Menschenrechtsorganisationen, die sich in Russland noch vor Ort mit dem Strafvollzug befassen.
Plotnizki steht in direktem Austausch mit Gefangenen und versucht, deren Haftbedingungen zu verbessern. Das werde immer schwieriger. «‹Wenn du nicht arbeiten willst, schliess einen Vertrag mit der Armee ab, oder du bleibst im Strafblock bei unzureichender Verpflegung›», gibt er wieder, was sich einer seiner Schützlinge, ein Mann um die sechzig, im Gefängnis anhören musste.
Der Mann weigerte sich, Uniformen fürs Militär zu nähen. Er sieht sich dabei im Recht. Aber was zählt das schon, solange sich das Recht den Prinzipien der «russischen Welt» unterzuordnen hat?
*Name geändert.