Russland: Mit Blumen und Bäumen

Nr. 9 –

Wie die russische Bevölkerung tatsächlich zum Krieg gegen die Ukraine steht, lässt sich kaum ermitteln. Aber von der Verkäuferin über den Lehrer bis hin zu den Soldatenfrauen: Wer ihnen zuhört, spürt Kriegsmüdigkeit – und erfährt von stillem Widerstand.

eine Frau legt Blumen bei einem ­Gedenkstein für die Opfer der Sowjetherrschaft in St. Petersburg nieder
Politischer Protest mit Blumen: Letzte Ehre für Alexei Nawalny bei einem ­Gedenkstein für die Opfer der Sowjetherrschaft in St. Petersburg. Foto: Stepan Kulinich, Laif

Er sieht aus wie ein Osterbaum. Aber statt bunter Eier hängen an den blattlosen Zweigen des Wunschbaums Dutzende mit Paketschnur befestigte runde Plättchen. Auf diesen mit Kugelschreiber beschrifteten hölzernen Wunschzetteln dreht sich fast alles um Geld, Gesundheit, Glück und Familienzusammenhalt. Auf einigen Plättchen steht aber auch: «Kein Krieg!», «Frieden auf der ganzen Welt», «Dass der Krieg beendet wird». Das Wort «Ukraine» steht nirgendwo.

Das war im Sommer im Städtchen Wyborg nahe der finnischen Grenze. Die Holztäfelchen gab es für wenige Rubel in einem Laden in der Altstadt zu kaufen. Kurz vor dem Jahreswechsel steht der vollbehängte Wunschbaum immer noch am gleichen Platz, links vor der Ladentür, nur sind sämtliche Kritzeleien zum Thema Krieg und Frieden weg. Also am besten drinnen bei der Verkäuferin nachfragen, woran das liegt. Möglichst unverfänglich. Prompt wartet die Frau hinter der Kasse mit Neujahrsglückwünschen auf. Darauf zu reagieren, ist leicht: Hauptsache, es kehrt endlich Frieden ein.

Kaum Spuren des Dissens

Als habe die Frau nur auf das passende Stichwort gewartet, legt sie sofort los. «Vom Krieg profitieren doch so viele», echauffiert sie sich. «Ich will, dass dieser Mist endlich aufhört, aber erst muss dieser faule Kopf weg.» Sie zeigt nach oben. «Sie wissen schon, wen ich meine.» Wem dieser «faule Kopf» gehört, erschliesst sich von selbst. Den russischen Präsidenten nennt sie nicht beim Namen – im Laden hören fremde Ohren mit. Die Frage, wieso manche Holztäfelchen verschwunden sind, bleibt unbeantwortet.

Dass viele Menschen in Russland den Krieg ablehnen, hinterlässt in der Öffentlichkeit kaum Spuren. Polizei und Kommunaldienste sorgen dafür, dass Antikriegsgraffiti und Aufkleber schnell aus dem Stadtbild entfernt werden. Über unverbesserliche oder verzweifelte Aktivist:innen, darunter viele Rentner:innen, die sich mit Plakaten auf die Strasse stellen, berichten nur Oppositionsmedien auf ihren gering frequentierten Telegram-Kanälen. Weil es in Russland so wenig sichtbaren Protest gibt, drängt sich die Schlussfolgerung auf, der systemkritische Teil der Gesellschaft habe vor Wladimir Putins Machtapparat kapituliert.

Aber ob in St. Petersburg oder im Umland, im Laden oder beim Strasseneinkauf – niemanden lässt der Neujahrswunsch nach Frieden kalt. Manchen entlockt er ein resigniertes Seufzen, anderen ist Erleichterung anzumerken, mal für einen kurzen Augenblick in der Gegenwart anderer nicht so tun zu müssen, als ginge einen dieser als «militärische Spezialoperation» schöngeredete brutale Krieg nichts an.

Zweifellos hätten die Reaktionen gegenteilig ausfallen können, andererseits sagt die auch bei Umfragen ermittelte steigende Kriegsmüdigkeit in der russischen Bevölkerung wenig über ihre wahre Einstellung zum Kriegsgeschehen aus: Stehen die Menschen hinter den Entscheidungen des Kremls, nehmen sie wahr, welche Gräueltaten die russische Armee in der Ukraine begeht, fühlen sie Resignation und Ohnmacht, oder wollen sie einfach nur ihr altes Leben zurück?

Zum Jahresende gab das staatliche Meinungsforschungsinstitut VCIOM an, 45 Prozent der Befragten plädierten für eine Beendigung der «Spezialoperation». Im November vermeldete die unabhängige Forschungsgruppe Russian Field, dass sich erstmals eine Mehrheit für die Aufnahme von Friedensgesprächen ausspricht: 48 Prozent sind dafür, 39 Prozent dagegen.

So tun, als ob

Widerstand findet allerdings häufig nur als individueller Akt statt, denn die Gesellschaft ist – vom Regime durchaus so gewollt – von Vereinzelung geprägt. Unlängst veröffentlichte das russische Bildungsministerium aktuelle statistische Angaben über Kündigungen unter Lehrkräften: 193 000 im Jahr 2023. Im Vergleich zu 2017 bedeutet das einen Anstieg um ein Drittel, wie das kremlkritische russische Onlineportal «Istories» errechnete. Gründe werden nicht genannt. Lehrer:innen sind angesichts der vom Staat verordneten patriotischen Rundumerziehung der Jugend vom Kindesalter an einem immensen Druck ausgesetzt, strikte Vorgaben einzuhalten. Das fällt nicht allen leicht.

Wer trotz Kritik daran im Beruf verweilen möchte, dem bleibt als Handlungstaktik, nicht aktiv mitzumachen und sich nicht vereinnahmen zu lassen. Anna Majschewa*, die sich in der alternativen Gewerkschaft Utschitel (Lehrer) engagiert, hält dies prinzipiell für möglich. «Was geht, hängt von der jeweiligen Schulleitung ab», sagt sie. Ihr fällt sofort das Beispiel eines Lehrers im Gebiet Nischni Nowgorod ein, der versucht, seine Schüler:innen mit alternativen Angeboten von der Teilnahme an Ganztagesveranstaltungen der «Bewegung der Ersten» abzubringen.

Vier Millionen Mitglieder weist diese 2022 von der russischen Führung initiierte Bewegung mittlerweile auf. Ihr Ziel ist die Vermittlung «russischer traditioneller Werte» an Kinder, Teenager und junge Erwachsene bis 25 Jahre. Die Mitgliedschaft ist nicht obligatorisch, aber sehr erwünscht. Mit dem Argument, dass während des regulären Unterrichts organisierte patriotische Zusammenkünfte vom Lernprozess ablenkten, wirkt jener Lehrer auf Eltern ein, die Wert auf gute Noten ihrer Nachkömmlinge legen. Bislang eckt er damit nicht an.

Ein weiterer Lehrer, Stepan Konkow*, unterrichtet seit über zehn Jahren an einer Moskauer Schule Geschichte. Wegen seiner Erfahrung bringe ihm die Schulleitung grundsätzlich Vertrauen entgegen, sagt er. Sie verzichte auf Kontrollen seines Unterrichts. Er habe sich ausserdem bewusst dafür entschieden, keine Klassenleitungen zu übernehmen, was ihn von der Pflicht entbinde, regelmässig «Gespräche über Wichtiges» abzuhalten, also Lehrstunden mit vom Bildungsministerium vorgegebenen Inhalten zu patriotischer Erziehung. Nur als Vertretungslehrer musste er einige Male einspringen. Seine Philosophie formuliert er knapp: «Man muss einfach so tun, als ob.»

Auf dieser Devise ruht sich Konkow keineswegs aus: «Den Krieg benenne ich vor meinen Schüler:innen als Krieg, und wenn mich jemand berichtigt, es heisse ‹militärische Spezialoperation›, dann antworte ich: ‹Nenne es, wie du willst.›» Eigentlich sind Lehrkräfte angehalten, unpatriotisches Verhalten im Unterricht zu melden. An seiner Schule sei seines Wissens aber noch nie eine solche Meldung gemacht worden, obwohl er von einem Schüler einer achten Klasse gehört habe, der ausser sich geraten sei, nachdem nahe Verwandte in der Ukraine von russischen Raketen beschossen worden waren. Aus ihrer Erfahrung kennt Anna Majschewa zwar Fälle von Denunziation, trotzdem scheint ihr, das reale Ausmass sei längst nicht so gross wie oft angenommen.

Blumen für Nawalny

Umgekehrt sollte das Protestpotenzial in Russland nicht unterschätzt werden. Zahlreiche, vor allem jüngere Menschen, zum Teil ganze Familien legten nach der Nachricht vom plötzlichen Tod des in Isolationshaft sitzenden Oppositionspolitikers und Kriegsgegners Alexei Nawalny an Gedenkorten in ganz Russland Blumen nieder. Ihm durch diese persönliche Anstandsgeste die letzte Ehre zu erweisen, geriet faktisch zum politischen Akt, weil sich dadurch jede:r verdächtig machte. Stellenweise kam es zu Festnahmen. Die Polizei verhinderte Massenansammlungen, wohl auch, um Bilder zu vermeiden, wie sie kurz zuvor unerwartet die Runde gemacht hatten.

Im Januar gerieten lange Schlangen vor den Büros von Boris Nadeschdin, dem einzigen Gegenkandidaten für die Präsidentschaftswahl Mitte März, der mit einem klaren Antikriegsstatement angetreten war, zur einzigartigen legalen Grossdemonstration für politische Veränderungen. Über 200 000 Russ:innen waren gekommen, um für seine Zulassung zu den Wahlen zu unterschreiben, trotz minimaler Erfolgswahrscheinlichkeit. Die Warteschlangen dürften vor allem ein sichtbares Zeichen des Unmuts über den Angriffskrieg gewesen sein. Ergibt sich die seltene Gelegenheit, politisch Haltung zu zeigen ohne hohes persönliches Risiko, dafür verhaftet zu werden, ergreifen Menschen diese.

Weg nach Hause

Ehefrauen und andere weibliche Angehörige russischer Frontsoldaten haben längst den Schritt in die Öffentlichkeit gewagt und entwickeln mit den fortschreitenden Kämpfen zunehmend Widerstandsgeist. Nach der Ausrufung der Teilmobilmachung im September 2022 organisierte sich zunächst ein Frauenrat, dessen Forderungen Verhandlungen mit der Ukraine einschlossen. Die Behörden stoppten dieses Engagement nach wenigen Monaten, indem sie den Rat als «ausländischen Agenten» brandmarkten.

Bei einer Kundgebung der Kommunistischen Partei am 7. November, dem ehemaligen Revolutionsfeiertag, machte in Moskau eine neue Gruppe von Soldatenfrauen auf sich aufmerksam: «Put domoj» (Weg nach Hause). Ihrem gleichnamigen Telegram-Kanal folgen knapp 15 000 Leute. Ende November veröffentlichten sie schliesslich ihr Manifest: Sie wollen ihre Männer, Söhne und Väter zurück. Sie fordern eine Beschränkung der Vertragslaufzeit für Armeeangehörige auf ein Jahr – rechtlich gesehen haben diese derzeit praktisch keine Option auf eine Rückkehr ins zivile Leben –, und sie heben explizit hervor, dass sie die Rekrutierung von Zivilist:innen als Zwangsakt betrachten. In diversen Städten fanden in den vergangenen Wochen von Put domoj organisierte Blumenniederlegungen statt, anfangs ungestört, später stellenweise von Festnahmen begleitet.

Politisch ist der Zusammenschluss diffus. Längst nicht alle aktiven Mitglieder outen sich als Kriegsgegnerinnen, wie es etwa die Moskauerin Maria Andrejewa wagt. Ihr Mann und ihr Bruder wurden in die Armee eingezogen, in der Telegram-Gruppe zählt sie zu den treibenden Kräften. Sie scheut nicht einmal davor zurück, sich vor einer Kamera lautstark mit ignoranten Fürsprecher:innen des Regimes auseinanderzusetzen.

Boris Nadeschdin traf sich übrigens als einziger Präsidentschaftskandidat mit den Frauen. Mittlerweile werben sie für eine Petition, die auf die Aufhebung der Mobilmachung abzielt, doch bisher haben nur rund 4600 Personen unterzeichnet.

* Namen von der Redaktion geändert.