Aus dem Aquarium: Man ist ein kleiner Fisch
Tabea Steiner über Urpferdchen, Türme und Buchpreise

Im April bin ich nach Darmstadt gefahren, um die Grube Messel zu besuchen. Vor 48 Millionen Jahren stieg hier Lava an die Oberfläche und traf auf Grundwasser, das sich erhitzte und aus der Erde schoss. Aus diesem Loch entstand ein algenreicher See, an dessen Grund es kaum Sauerstoff gab. Das waren ideale Bedingungen für Versteinerungen, die bis heute gefunden werden: Blätter mit Farbpigmenten, Fledermäuse mit Hautschatten, Schildkröten bei der Paarung, trächtige Urpferdchen. Der erste Fund vor 150 Jahren war ein intaktes Krokodil.
Ein halbes Jahr später bin ich an die Frankfurter Buchmesse gefahren. Ich war im zweithöchsten Turm Sachsenhausens einquartiert; von allen Türmen Frankfurts belegt er Platz 42. Ich kam spät an, und als ich morgens aufwachte, glühte der Himmel, in allen Tönen wallte rotes Licht über den Horizont. Wie ich aus dem 20. Stock auf das Spektakel und über die Ebene schaute, wurde mir klar: Hätte ich vor 48 Millionen Jahren hier gestanden, ich hätte gesehen, wie dort, wo heute Darmstadt liegt, eine ungeheure Masse an Materie in die Höhe gesprengt wird, und das wärs dann auch gewesen für Frankfurts hohe Türme.
Meine Aufgabe auf der Messe war es, junge Autorinnen* an den Literaturbetrieb heranzuführen, eine Initiative, um Seilschaften unter Finta-Personen zu bilden. Wir trafen Lektorinnen, Agentinnen und Kritikerinnen und erfuhren, dass in Halle 3.1, wo sich die Literaturszene trifft, Wochen zuvor feststeht, wie hoch Verlage und Medien ihre Stände und Werbebanner bauen dürfen. Manche Logos sieht man von fast überall – die wenigsten können sich das leisten.
Der einzige Mann, den wir trafen, vertrat eine renommierte Institution. Beiläufig sprach er von den «acht bis zehn Verlagen, die für mich relevant sind». Ich sagte nichts dazu, sondern schaute auf mein Telefon. Fotos meiner Nichte wurden mir zugespielt, sie baute mit ihren Freundinnen eine Hütte. Die Tür dazu hatte ich ihr aus der Kiste gebastelt, in der meine Bücher angekommen waren. Mir fiel Rebecca Solnit ein, die in «Aus der nahen Ferne» beschreibt, wie Bücher Türen öffnen, im eigenen Leben, in die Leben anderer. Solnits bekanntestes Werk heisst «Wenn Männer mir die Welt erklären». Wichtiger Bestandteil dieser Messe ist die Verleihung des deutschen Buchpreises an den besten Roman des Jahres. Aus 180 Einsendungen von 106 Verlagen wurde nicht das dickste Buch gekürt, aber ein sehr gutes. Daneben gibt es den Preis der Hotlist, wofür sich nur Verlage bewerben dürfen, die unabhängig von publizistischen Konzernen sind. Gewonnen hat ein Roman von Thea Mengeler, der vom Verschwinden erzählt: «Was verschwindet, ist die Illusion einer Fortsetzung der eigenen Existenz.»
Vor meiner Abreise warf ich einen letzten Blick auf die hessische Ebene. Man ist ein kleiner Fisch in diesem Literaturbetriebsaquarium, aber es ist auch alles eine Frage der Perspektive, von welcher Seite und aus welcher Höhe man darauf blicken kann. Oder des Glücks, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Nur sehr wenige der Lebewesen, die je rund um die Grube Messel gelebt haben, sind zu Fossilien geworden, und auch davon wurde ein grosser Teil zu Treibstoff verarbeitet, in den hundert Jahren, als die Grube ein Ölschiefertagebau war.
Da Michelle Steinbeck krank ist, übernimmt diese Woche Tabea Steiner. Sie ist Autorin und Literaturvermittlerin und hat ausgerechnet in Frankfurt am Main ihren neuen Essayband «Heidi kann brauchen, was sie gelernt hat» vorgestellt.