Die Welt dreht sich: Quallen am Ärmelkanal
Rebecca Gisler über Sommergefahren

Die Sommerzeit birgt Gefahren: In der Bretagne, wo ich regelmässig meinen Sommerurlaub verbringe, gehören zu den bekannten Sommergefahren zum Beispiel Hornissen im Cidreglas, Sonnenbrände, obwohl keine Sonne scheint, toxische Grünalgen am Strand und vor allem die stacheligen Fische, auf Deutsch «Petermännchen» genannt, die sich bei Ebbe im Grund des seichten Wassers oder im Sand verstecken und deren Stachel beim Drauftreten höllisch wehtut. Als Kind wurde mir gesagt, dass man im Fall eines solchen Stichs ganz schnell jemanden bitten sollte, auf den Stich zu urinieren. Viel mehr als den Fisch an sich fürchtete ich deshalb damals, von einem fremden Menschen angepinkelt zu werden.
In diesem Jahr schien die bretonische Küste noch mit einer neuen Gefahr konfrontiert. «Es tut an den Füssen weh», beklagten sich die Strandgänger:innen, meinten damit aber nicht die Petermännchen, sondern die vielzähligen stacheligen Beine, Scheren und Rückenpanzer der toten Seespinnen, die wochenlang den Sandboden belagerten und so manche Füsse verwundeten.
Der plötzliche Krustentierfriedhof hielt aber niemanden davon ab, den Tag am Strand zu verbringen. Im Gegenteil. Sobald bekannt gegeben wurde, dass es sich um ein sehr seltenes, aber normales Phänomen der Häutungssaison der Krustentiere handle und keine Gefahr darstelle, waren alle beruhigt. Allerdings häufte sich der Anblick von farbigen Quallen an den Füssen der Strandgänger:innen: Plötzlich trugen alle diese ikonischen Plastiksandalen, die 1946 erstmals von der Marke Méduse fabriziert wurden, was auf Deutsch Qualle heisst. Mit diesen Sandalen kann man sorgen- und schmerzfrei über Muschel und- Krustensplitter aller Art den Wellen entgegenlaufen.
In den regionalen Medien wurde täglich über die toten Seespinnen berichtet. Das Naturphänomen wurde zum beliebtesten Smalltalksujet des Sommers und löste die unsichtbare Gefahr ab, über die zuvor breit diskutiert worden war: Zum Sommerbeginn wurden mehrere Strände in der Bretagne aufgrund von Fäkalien im Wasser gesperrt. Die Wasserqualität wurde regelmässig auf Kolibakterien überprüft, und glücklicherweise waren die Strände, die kurz vor den Sommerferien noch erhöhte Werte aufzeigten, wie durch ein Wunder pünktlich auf den Ferienbeginn wieder «sauber», sodass man sorgenfrei das Meerwasser geniessen konnte. «Man will ja lieber schwimmen als Angst haben», hörte man die Urlauber:innen sagen. Das galt auch in Bezug auf die Seespinnen. Und eines Tages, als man sich schon fast an die Krustentierfetzen im Sand gewöhnt hatte, waren sie auf einmal wieder verschwunden. Von Menschen entsorgt oder von der Flut mitgerissen, das weiss ich nicht.
Jedenfalls hatte ich mir natürlich auch ein Paar von diesen Plastiksandalen gekauft. Getragen habe ich sie allerdings nur einmal, und zwar nicht am Strand, sondern im Garten, um durchs hohe Gras zu gehen und den Kompost zu entsorgen. Zum Beginn des neuen Schuljahrs schwelge ich nun nostalgisch in den Erinnerungen an die sommerlichen Gefahren. Meine Méduses habe ich in der Bretagne gelassen. Mittlerweile sollen dort, wie immer im August, auch schon die echten Quallen an der Küste des Ärmelkanals angekommen sein.
Rebecca Gisler ist Autorin. Sie lebt in Zürich und manchmal auch in der Bretagne.