Mikrofinanz: Geld oder Leben

Nr. 41 –

Die Finanzkrise beschleunigt die Ausweitung des Mikrokredits zu einem Mikrofinanzsystem. Wie könnte es aussehen?


Derzeit entsteht eine neue Variante des Kapitalismus: die Mikrofinanz. Illustre Gäste diskutierten deren Zukunft letzte Woche an der Konferenz «Faire Finanzmärkte für alle» in Genf.

Die heftig geführte Debatte zwischen Mohammed Yunus, Friedensnobelpreisträger und Präsident der Grameen Bank in Bangladesch, und Michael Chu, Harvard-Dozent und Präsident der mexikanischen Compartamos Bank, machte deutlich, dass sich im weltweit rasch expandierenden Mikrokreditgeschäft zwei Wege herausgebildet haben: der soziale Weg von Yunus mit dem obersten Ziel, die Lebensbedingungen der armen KreditnehmerInnen zu verbessern, und - ebenso zugespitzt formuliert - der kommerzielle Weg von Chu, dem es vor allem auf die Rendite für die reichen KreditgeberInnen ankommt.

Tatsache ist, dass Grameen und Compartamos beide die gleiche mausarme Kundschaft ohne Zugang zum konventionellen Bankensystem bedienen. Der Anteil der an Frauen ausbezahlten Mikrokredite beträgt bei beiden 95 Prozent, und beide Finanzinstitute sind nach Gewinn strebende Aktiengesellschaften. Ihre Kleinkredite sind kein Geschenk, sondern verpflichten die KreditnehmerInnen zu Zins und Rückzahlung. Dass der durchschnittliche Kreditbetrag von Compartamos bei 450 US-Dollar liegt und jener von Grameen bei 70 US-Dollar, widerspiegelt lediglich den unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungsstand von Mexiko und Bangladesch.

Zwei verschiedene Konzepte

Doch die Debatte von Yunus und Chu hat klargemacht, dass es ein wesentlicher Unterschied ist, ob der Begriff Mikrokredit quantitativ definiert wird, das heisst als Ausleihen kleiner Geldbeträge an vermögenslose Arme, die bei konventionellen Banken nicht kreditfähig sind - oder ob das Wesen des Mikrokredits in seiner sozialen Qualität liegt, das heisst in der Befähigung der Armen, sich selber von der Armut zu befreien. Der soziale Mikrokredit von Yunus und der kommerzielle Mikrokredit von Chu sind zwei unterschiedliche ökonomische Konzepte, die es klar auseinanderzuhalten gilt. Herkunft und bisheriger Lebensweg von Yunus beziehungsweise Chu machen die Entwicklung der zwei Mikrokreditkonzepte nachvollziehbar. Sowohl der 1940 in Chittagong geborene Bangladeschi Yunus als auch der 1948 in Kunming geborene China-Amerikaner Chu sind an US-Universitäten ausgebildete Ökonomen. Yunus kehrte Ende der siebziger Jahre als Entwicklungsökonom und Professor an die Universität seiner Heimatstadt zurück und entwickelt seither die Theorie und Praxis des sozialen Grameen-Mikrokredits. Yunus agiert und analysiert aus Interessensicht der Armen des Südens. Diese haben zwar kein Geld, aber dafür haben sie Energie, Intelligenz, innere Werte und Ideen. Das tiefere Geheimnis des Grameen-Kredits ist die Befreiung und Fokussierung dieser Kräfte auf wirtschaftliche Aktivitäten, das bisschen Geld von der Bank ist in diesem Prozess ein nötiges Ferment. Die globalisierten Kapitalmärkte benötigt die Grameen Bank nicht, die Refinanzierung ist regional.

Michael Chu emigrierte als Kind mit seinen Eltern von China nach Uruguay, kam als Student in die USA und machte mit dem Harvard-Business-Diplom im Sack eine schöne Wall-Street-Karriere bis hin zum Partner des berüchtigten Hedgefonds KKR. Mitte der neunziger Jahre wechselte der perfekt Chinesisch, Spanisch und Englisch sprechende Weltbürger ins südamerikanische Mikrokreditgeschäft und entwickelt seither als Präsident von Compartamos und mehreren anderen südamerikanischen Mikrokreditbanken und als Harvard-Dozent das Konzept des kommerziellen Mikrokredits aus der Sicht der InvestorInnen aus dem Norden. Das Zentrum von Chus Taten und Worten ist die Sicherung des Wertetransfers von wirtschaftlich aktiven KleinkreditnehmerInnen im Süden zu KreditgeberInnen, wo immer die auch leben mögen.

Compartamos schwimmt im Geld

Die heute von Chu präsidierte Bank Compartamos ist ein Kind der katholischen Soziallehre, ihre Wurzeln liegen in einem Besuch von Mutter Teresa 1980 in Mexiko. Seither wurde der sehr erfolgreiche Compartamos-Mikrokredit entwickelt. Der Börsengang Anfang 2007 hat die AktionärInnen reich gemacht, die zwei Topmanager sind Multimillionäre geworden. Da Präsident Chu immer mehr GrossinvestorInnen aus dem Norden anbaggert, schwimmt Compartamos heute im Geld. Nach dem Börsengang ist in den Medien Kritik laut geworden, Compartamos ähnele zunehmend den Wucherern und Kredithaien, die den Armen ruinöse Kleinkredite zu überhöhten Zinsen aufschwatzen.

Zufall oder nicht, am Vortag der Genfer Konferenz wurde bekannt, dass Yunus’ Grameen Bank in Mexiko eine Mikrokreditbank gründen wolle und dazu den mexikanischen Multimilliardär Carlos Slim als Partner habe gewinnen können. Slim ist nach Warren Buffet der zweitreichste Mann der Welt (weshalb er ins Mikrokreditgeschäft einsteigt, ist bisher nicht bekannt). Das Joint Venture soll Grameen Carso heissen. Damit werden der soziale Grameen-Mikrokredit und der kommerzielle Compartamos-Mikrokredit zum direkten Konkurrenten auf dem mexikanischen Kreditmarkt. Bald schon können die armen mexikanischen Frauen wählen. Grameen Carso gegen Compartamos, das ist ein Systemwettbewerb von globaler Relevanz.



Bald hierzulande?

WOZ: Das Konzept Mikrokredit wurde zur Bekämpfung der Armut in den Ländern des Südens entwickelt. Wie relevant ist es für Europa und Nordamerika?

Ernst A. Brugger: Mikrokredite gibt es bereits in den USA und einigen europäischen Ländern in angepasster Form, insbesondere in Städten mit hoher Arbeitslosigkeit. In reicheren Volkswirtschaften haben breitere Kreise Zugang zu Krediten als in Entwicklungsländern. Relevant sind Mikrokredite im Norden deshalb vor allem für Arme und Arbeitslose ohne Eigentum und Vermögen.

Könnten Mikrokredite mithelfen, in der Schweiz Arbeitsplätze zu schaffen, falls es im Gefolge der Finanzkrise zu mehr Arbeitslosigkeit kommt?

In einem solchen Falle könnte sich ein massgeschneidertes Mikrokreditprogramm positiv auf die Schaffung von Arbeitsplätzen für Menschen ohne eigenes Vermögen auswirken.

Wer könnte ein solches Programm allenfalls entwickeln?

Wichtig ist, dass bei Mikrokreditinstitutionen banktechnisches Wissen vorhanden ist. Beim Mikrokredit wird Geld nicht verschenkt, weil dies in der Regel den Nehmer entwürdigt. Deshalb sind privatwirtschaftliche, allenfalls philanthropische Organisationen mit Finanz-Know-how am Besten geeignet.

Wie kann verhindert werden, dass die soziale und ökologische Zielsetzung des Mikrokredits von rein profitorientierten Investoren verdrängt wird?

Der nachhaltige Erfolg selbst der grössten Mikrofinanzinvestitionen in Entwicklungsländern hängt von der Effizienz und Qualität ihrer Dienstleistung für Einzelkunden ab. Wird der Preis für den Mikrokredit aus Profitgier zu hoch angesetzt, können Kreditnehmer, Konkurrenz vorausgesetzt, zu anderen Mikrokreditanbietern abwandern. Der wachsende Wettbewerb unter den Anbietern ist deshalb ausserordentlich wichtig für eine gute Balance zwischen ökonomischer und sozialer Zielsetzung des Mikrokredits.

Ernst A. Brugger ist Vizevorsitzender des World Microfinance Forums in Genf.


Mikrofinanz in China

Die grosse Debatte zwischen Yunus und Chu in der vollbesetzten Aula der Internationalen Arbeitsorganisation ILO in Genf hat auch eine zwanzigköpfige Delegation aus China mitverfolgt. Angeführt wurde sie von Yu Li, dem Direktor der Forschungsabteilung der chinesischen Zentralbank. Ihre eigenen Erfahrungen im weltweit grössten nationalen Markt für Mikrokredite haben die chinesischen Fachleute in verschiedenen Workshops präsentiert. Dabei zeigte sich, dass zurzeit in China sowohl der soziale als auch der kommerzielle Mikrokredit expandiert. Auf dem Lande gibt es Institute, welche mit dem Grameen-Modell arbeiten. Geld bekommt nur, wer regelmässig in einer Gruppe mitmacht, in der die mit dem Geld finanzierte Aktivität besprochen wird. In den Städten gibt es Mikrokreditbanken, welche von den KreditnehmerInnen nichts wissen wollen, solange die den Zins zahlen. China sei eben gross genug für den sozialen und den kommerziellen Mikrokredit, meinte dazu ein chinesischer Beamter.