Entwicklung und Zusammenarbeit: Wie sich die Welt zum Besseren dreht
Klassische Entwicklungszusammenarbeit verstrickt sich in Widersprüche. Gross angelegte linke Alternativen sind hingegen gescheitert. Was tun?
Alle paar Monate ist sie wieder da: die grosse Debatte im Schweizer Parlament über Sinn oder Unsinn der Entwicklungszusammenarbeit. Selten wird in Bern emotionaler diskutiert als dann. Während die Linke das Schweizer Engagement in armen Weltgegenden lobt und für die «Solidarität gegenüber den Menschen in Krieg, Not und Armut» kämpft, erzählt die Rechte eine ganz andere Geschichte: Die Entwicklungshilfe richte vor allem Schaden an, und man solle, so SVP-Nationalrat Roger Köppel, «endlich die Kraft haben, Afrika sich selber zu überlassen, damit Afrika sich selber hilft».
Gemeinsam ist der linken und der rechten Erzählung, dass sie die Möglichkeiten der Entwicklungshilfe radikal überschätzen. Die Gelder, die die reichen Länder im Namen der Entwicklungszusammenarbeit aufbringen, machen nur einen kleinen Bruchteil aller wirtschaftlichen Ströme aus, die zwischen den Kontinenten fliessen: Handel, kommerzielle Investitionen sowie finanzielle Rückflüsse, die oftmals halblegal sind. Die linke Umarmung der Entwicklungszusammenarbeit als punktuelle Solidaritätsgeste ist nicht nur ein unkritisches, sondern auch ein höchst defensives Unterfangen. Dabei geht es doch um ein Kernanliegen der Linken: nämlich eine gerechtere Welt zu schaffen, in der niemand verhungern muss, die allen ein würdiges Leben ermöglicht.
Ein Modell für die Welt
Wie könnte eine Vision für eine progressive, wirksame Entwicklungszusammenarbeit aussehen? Um diese Frage anzugehen, müssen wir uns zuerst mit der jetzigen Realität herumschlagen, auch ein wenig mit der Weltgeschichte, mit dem globalen Wirtschaftssystem. Und zuallererst mit drei zentralen Begriffen, die bereits das ganze Problemfeld beinhalten.
Entwicklung: Der Begriff stammt eigentlich aus der Entwicklungsbiologie und -psychologie. Bezüglich der menschlichen Psyche ist darin auch eine individuelle Entfaltung enthalten. Doch die Entwicklungstheorie, die sich auf Länder und Weltgegenden bezieht, ist ausschliesslich uniform und deterministisch ausgelegt. So wie ein Kind biologisch langsam zu einem fertigen Erwachsenen heranreift, sollen sich die sogenannten Entwicklungsländer in wirtschaftlicher, sozialer und politischer Hinsicht dem Ideal angleichen: den industrialisierten, kapitalistisch und liberal-demokratisch geprägten Staaten Westeuropas und Nordamerikas. Hat ein Land dieses Stadium erreicht, ist seine Entwicklung nach gemeiner Lesart abgeschlossen.
Entwicklungshilfe: Dieses Konzept entstand erst nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge des US-amerikanischen Marshallplans zum Wiederaufbau Westeuropas. Es handle sich darum, so begründete der damalige US-Aussenminister George C. Marshall seinen dreizehn Milliarden US-Dollar teuren Plan in einer Rede, «dass Europas Bedarf an ausländischen Nahrungsmitteln und sonstigen lebenswichtigen Gütern, hauptsächlich aus Amerika, so viel grösser als seine gegenwärtige Zahlungsfähigkeit ist, dass es entweder wesentliche zusätzliche Hilfe benötigt oder aber sich einem wirtschaftlichen, sozialen und politischen Niedergang sehr ernsten Charakters gegenübersehen wird». Von Anfang an war ein zentrales Ziel des Marshallplans, die «kommunistische Gefahr» und den Einfluss der Sowjetunion abzuwehren. Nach der erfolgreichen Umsetzung in Europa dehnte die US-Regierung dieses Konzept auf «wirtschaftlich zurückgebliebene Länder» in Lateinamerika, Afrika und Asien aus.
Auch die sowjetische Führung nutzte das Instrument der Entwicklungshilfe, um arme Staaten in ihre Einflusssphäre zu ziehen und gemäss eigenem sozialistischem Ideal zu entwickeln. Nach der grossen Welle der Entkolonisierung Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre betätigten sich zudem Frankreich und Britannien in grossem Stil als Entwicklungshelfer, um den Verlust ihrer Kolonialreiche zu kompensieren.
Entwicklungszusammenarbeit: In den siebziger Jahren führte die von zivilgesellschaftlichen Initiativen und nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) getragene «Dritte-Welt-Bewegung» dazu, dass sich der Fokus der staatlichen Entwicklungshilfe etwas verschob: von Investitionen in technischen Bereichen wie Energiegewinnung oder Transportwegen hin zu ländlicher Entwicklung, Bildung, Gesundheit und Armutsreduktion. Seit dieser Zeit ist auch langsam das Bewusstsein herangereift, dass Entwicklungshilfe ein paternalistisches Konzept ist, bei dem Entwicklungsländer die Vorgaben der Geldgeber zu erfüllen haben. Heute ist der Begriff der Hilfe verpönt. Das Wort der Stunde ist die «Zusammenarbeit», bei der gleichberechtigte «Partnerländer» miteinander und zuweilen gar mit VertreterInnen der Bevölkerung einen Dialog führen sollen.
In der Realität heisst das aber meist nur, dass die Regierungen armer Staaten etwas stärker eingebunden werden, etwa indem (gemeinsam) eine «nationale Armutsreduktionsstrategie» erarbeitet wird. Oder dass bei einem Landwirtschaftsprojekt die BäuerInnen vor Ort befragt werden, um die wirklichen Bedürfnisse oder vielleicht gar lokales Wissen einzubeziehen. Das alte Machtgefälle bleibt jedoch bestehen. Selbst wenn es neuerdings nicht mehr nur um Lieferungen von Geld oder Hilfsgütern geht, sondern vermehrt um den Transfer von Know-how oder den Aufbau staatlicher Leistungsfähigkeit: Das ist nichts anderes als Entwicklungshilfe unter neuem Label, bei der materielle und geistige Güter aus Industrieländern in den Globalen Süden fliessen, damit sich dieser dem Ideal der «entwickelten Länder» angleicht.
Gutes Leben an der Peripherie?
Das erklärte Ziel von Entwicklungszusammenarbeit besteht darin, durch eine «nachholende Modernisierung» im Globalen Süden die wirtschaftliche Ungleichheit zwischen Staaten und Weltgegenden einzuebnen. Das ist ein vollkommen unrealistisches Ziel, das allenfalls theoretisch durch eine Weltrevolution zu erreichen wäre. Denn die kapitalistische Produktionsweise, der sich praktisch kein Flecken der Erde mehr entziehen kann, beruht ganz wesentlich auf globaler Ungleichheit: Dieses Weltwirtschaftssystem funktioniert nur, weil es in ein Zentrum und eine Peripherie aufgeteilt ist.
Das zumindest macht die marxistisch orientierte Dependenztheorie plausibel. Was zu Zeiten des europäischen Imperialismus offensichtlich war, gilt bis heute: Investitionen sind in wenig entwickelten Gebieten oft profitabler als im Zentrum des Weltwirtschaftssystems. Denn an der Peripherie gibt es reduzierten Wettbewerb, billige Arbeitskräfte und leicht verfügbare Rohstoffe. Das hat zu einer internationalen Arbeitsteilung geführt, die (ein entwickeltes) Zentrum und (eine ausgebeutete) Peripherie voneinander abhängig gemacht hat. Doch Entwicklungsländer können nur dank tiefer Löhne und billigen Rohstoffnachschubs an der globalen Wirtschaft teilnehmen. Systemisch ist also gar nicht vorgesehen, dass sie sich voll entwickeln. Und selbst wenn einzelne von ihnen – wie einst Südkorea – die Schwelle hin zum Zentrum übertreten: Gewisse Gebiete der Welt müssen die Peripherie bilden.
«Afrika sich selber überlassen, damit Afrika sich selber hilft»: Das ist seit dem europäischen Imperialismus Ende des 19. Jahrhunderts, als ein grosser Teil der Welt in das kapitalistische Wirtschaftssystem gezwungen wurde, jedenfalls keine Option mehr. Einzelne Gemeinschaften können sich sehr wohl aus dem Weltwirtschaftssystem zurückziehen, indem sie naturnah autark leben. Aber auf staatlicher Ebene läuft eine solche Strategie auf extremen Isolationismus hinaus, der ökonomisch kaum tragbar ist und gegen innen in autoritärer Weise gegen den Willen vieler BürgerInnen durchgesetzt werden muss – zum Beispiel in Nordkorea.
Eine konservative Option besteht aber darin, das Leben an der Peripherie zumindest etwas zu verbessern. Genau das wollten die Millenniumsentwicklungsziele (MDGs) der Uno, die zwischen 2000 und 2015 die internationale Entwicklungspolitik bestimmten. «Erinnern wir uns daran, dass Armut eine Verweigerung der Menschenrechte ist», redete Uno-Generalsekretär Kofi Annan knapp zwei Jahre nach dem zögerlichen Start den Staatsdelegierten ins Gewissen: «Zum ersten Mal in der Geschichte, in diesem Zeitalter beispiellosen Wohlstands und technischen Fortschritts, haben wir die Macht, die Menschheit vor dieser schändlichen Plage zu retten.»
Am Ende waren die MDGs sogar ziemlich erfolgreich, weil Entwicklungsländer, -agenturen und NGOs nach der Jahrtausendwende tatsächlich bedeutende Zusatzanstrengungen unternahmen: Gemäss einer Studie der Brookings Institution sind allein wegen dieses zusätzlichen Engagements im Zuge der MDGs zwischen 21 und 30 Millionen Menschenleben «gerettet» worden, etwa durch die verstärkte Reduzierung der Kindersterblichkeit. Dank der zusätzlichen Anstrengungen seien auch 471 Millionen Menschen der extremen Armut entkommen (viele davon in Subsahara-Afrika und Indien), und 111 Millionen hätten die Primarschule abgeschlossen. Deutlich verlangsamt haben sich hingegen die Fortschritte in der Bekämpfung von Hunger und Mangelernährung.
Dass das bekannteste und grundlegendste MDG – die Halbierung der Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben – erreicht wurde, war hingegen von Anfang an abzusehen, weil der Trend bereits in diese Richtung ging. Das Ziel war auch insofern minimalistisch, wenn man sich vorstellt, wer als «extrem arm» gilt: jemand, dessen tägliches Einkommen unter 1,90 US-Dollar liegt – und zwar bereinigt nach Kaufkraftparität, was in vielen Entwicklungsländern gerade noch 60 Cents übrig lässt, die eine Kleinbäuerin dann vornehmlich in Form von selbst geernteten Naturalien in Händen hält. Zudem wurde das Armutsziel nur dank China erreicht, dessen Regierung aber dafür keinerlei Zusatzanstrengungen unternahm.
Der Weg Chinas
China ist überhaupt das Paradebeispiel dafür, dass «nachholende Modernisierung» nichts mit Entwicklungshilfe zu tun haben muss – und schon gar nichts mit den neoliberalen Rezepten von Staatsabbau und Marktöffnung, die besonders in den achtziger und neunziger Jahren den ärmsten Staaten aufoktroyiert wurden. China ist eine Art flexible staatskapitalistische Entwicklungsdiktatur. Die Politologin Yuen Yuen Ang bezeichnet die entsprechende Taktik als «gelenkte Improvisation», bei der die kommunistische Führung eher vage Zielvorgaben macht, in deren Bandbreite die lokalen Behörden improvisieren, was oftmals zu kreativen, den spezifischen Bedingungen und Bedürfnissen angepassten Lösungen führt.
Durch den staatlichen Aufbau von Industrien und eine kontrollierte, langsame Öffnung der Volkswirtschaft steigerte sich in China das reale Pro-Kopf-Einkommen binnen 36 Jahren um das Sechzehnfache. Gleichzeitig führten das Wachstum, die Urbanisierung und eine minimale, aber gezielte Sozialpolitik dazu, dass der Anteil der ChinesInnen, die in extremer Armut leben müssen, von fast neunzig Prozent (1981) auf unter zwei Prozent sank.
Die meisten dieser rund 850 Millionen ehemals extrem Armer müssen nun allerdings mit einem immer noch sehr tiefen Einkommen klarkommen, das nur knapp über der absoluten Armutsgrenze liegt. Die forcierte Urbanisierung hat neue soziale und ökologische Probleme geschaffen. Die Mittelschicht wächst zwar, doch muss auch sie sich ihren Wohlstand durch politische Gängelung erkaufen.
Und: Von der wirtschaftlichen Modernisierung haben in China – wie auch in den anderen grossen Schwellenländern Indien, Brasilien und Südafrika – die bisherigen Eliten am meisten profitiert, was die Ungleichheit innerhalb dieser Gesellschaften in extreme Höhen trieb. Die grossen Schwellenländer vereinen nun Merkmale von Zentrum und Peripherie in sich – und sie treten als neue Wirtschaftsmächte international durchaus aggressiv auf, etwa in Zentral- und Ostafrika, wo sie sich riesige Landwirtschaftszonen aneignen und Rohstoffe ausbeuten.
Besonders China ist durch seinen rasanten Aufstieg zur zweitgrössten Volkswirtschaft der Welt auch zu einem zentralen Akteur in der Entwicklungszusammenarbeit geworden. Mehrere von Beijing geprägte Entwicklungsbanken finanzieren weltweit riesige Infrastrukturvorhaben – durch Kredite, die im Gegensatz zu denen der Weltbank kaum an fiskalpolitische, soziale oder ökologische Bedingungen gebunden sind.
Das vielleicht grösste Entwicklungsprogramm der Geschichte lässt China nun nach und nach vom Stapel: die Belt and Road Initiative (BRI), auf Deutsch auch gern «Neue Seidenstrasse» genannt. Im Mai 2017 pilgerten VertreterInnen von über hundert Staaten nach Beijing, darunter auch die Schweizer Bundespräsidentin Doris Leuthard, um dem internationalen BRI-Startschuss beizuwohnen. Chinas Präsident Xi Jinping sagte am Ende seiner feierlichen Rede: «Lassen Sie uns diese Initiative Schritt für Schritt weiterverfolgen und ein Resultat nach dem anderen erzielen. Auf diese Weise werden wir der Welt und allen Menschen echten Nutzen bringen!» Es waren die Worte eines Grossinvestors an die kleineren Investoren und die Vertreterinnen der globalen Finanzplätze.
Bei der «Neuen Seidenstrasse» geht es um Investitionen von über 900 Milliarden US-Dollar, vor allem in Infrastruktur wie Strassen, Eisenbahnnetze, Häfen und Kraftwerke. Damit entsteht vom ehemaligen Reich der Mitte aus ein wirtschaftliches Geflecht in 64 Ländern. Zum Beispiel in Kenia, wo bereits eine Bahnstrecke zwischen dem Hafen von Mombasa und der Hauptstadt Nairobi eröffnet wurde. Sämtliche Technologie wie auch die ganze Arbeiterschaft werden dann aus China herangekarrt. Und im Gegensatz zum Marshallplan und zu einem Grossteil der heutigen offiziellen Entwicklungszusammenarbeit handelt es sich dabei um Kredite. Nicht nur wegen des chinesischen Engagements, auch wegen kommerzieller westlicher InvestorInnen stehen viele Entwicklungsländer heute wieder einmal kurz vor einer Verschuldungskrise.
Faire Spielregeln
So weit einige Realitäten bisheriger Entwicklung und Entwicklungszusammenarbeit. Diese Realitäten sind noch ziemlich weit von der linken Vision entfernt: einer gerechteren Welt, die allen ein würdiges Leben ermöglicht. Es gibt einige vielversprechende Initiativen, oft von engagierten Einzelpersonen oder kleinen NGOs. Doch während diese bestenfalls eine spezifische Gemeinschaft ermächtigen und darüber hinaus Denkanstösse liefern können, sind auch grössere Entwürfe gefragt. Was tun?
Gross angelegte Entwicklungspolitik realer sozialistischer oder kommunistischer Staaten ist längst komplett diskreditiert: erstens, weil Mao Zedong 1958 mit dem «Grossen Sprung nach vorn» das Agrarland China in ein Industrieland verwandeln wollte und stattdessen eine riesige Hungerkatastrophe auslöste. Zweitens wegen der Sowjetunion, die in ihrem Teil der Welt die kapitalistische Produktionsweise auswechselte und danach wirtschaftlich zugrunde ging. Heutige links regierte Entwicklungsländer wie Venezuela, Ecuador oder Bolivien versuchen, ihre grossen Sozialprogramme durch den Export ihres Rohstoffreichtums zu finanzieren, was wiederum alles andere als nachhaltig ist.
Progressive Entwicklungsmodelle sind heutzutage nur noch realistisch, wenn sie sich pragmatisch in die allumfassende kapitalistische Weltwirtschaft einfügen. Erfolgreiche Entwicklungsländer der letzten Dekaden sind durch eine pragmatische Mischung aus Marktwirtschaft und staatlicher Intervention ans Ziel gekommen. Dazu gehört eine starke Wirtschafts- und Industrialisierungspolitik, wobei der Staat verletzliche Bereiche (wie junge Industrien oder die Landwirtschaft) vor dem Weltmarkt schützt und gleichzeitig exportfähige Wirtschaftszweige wie auch die Infrastruktur aufbaut. Dafür bräuchten ärmere Länder jedoch zusätzlichen politischen Spielraum. Die Industriestaaten, die einst ihre eigene Entwicklung durch eine interventionistische Industrialisierungspolitik vorantrieben, verwehren im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) den heutigen Entwicklungsländern genau dies.
Linke Regierungen von Entwicklungsländern müssen aber auch die Möglichkeit haben, ihre Wirtschaftspolitik mit gezielten Sozialprogrammen und Geldtransfers zu flankieren, um die Armutsrate und die interne Ungleichheit zu senken. Selbst die Direktorin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, fordert immer wieder, die wachsenden Ungleichheiten zwischen und in Ländern anzugehen, denn diese seien ein Hemmnis für Wirtschaftswachstum und Entwicklung.
Dazu müssen Entwicklungsländer substanzielle Steuereinnahmen generieren können – Einnahmen, die ihnen multinationale Unternehmen zusammen mit Steueroasen entreissen. Rohstoffunternehmen wie Glencore mit Hauptsitz in der Schweiz zum Beispiel, die an der Peripherie der Weltwirtschaft geschäften, ihre Gewinne aber mehr oder weniger legal im Zentrum (in der Schweiz etwa) versteuern. Die NGO Global Financial Integrity hat berechnet, dass Entwicklungsländer durch solch illegitime Kapitalflucht seit 1980 insgesamt mindestens 13,4 Billionen (13 400 000 000 000) US-Dollar verloren haben.
Die unfairen Spielregeln der Welthandelsorganisation, die unfaire Steuerpolitik vieler westlicher Staaten: Das alles zeigt, dass Entwicklungsländer nur vorankommen können, wenn sich die Industrieländer einer echten Entwicklungszusammenarbeit verschreiben. Also nicht nur Hilfsleistungen, die betragsmässig unter den illegitimen Abflüssen liegen. Echte Entwicklungszusammenarbeit ist beidseitig, umfassend, ganzheitlich. Somit müssten sich alle Staaten als Entwicklungsländer verstehen. Die Welt verändert sich, eine globale Bedrohung wie die Klimaerwärmung wird erkannt – da muss sich die gesamte Staatenwelt weiterentwickeln.
Die Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs), die 2016 die MDGs abgelöst haben und bis 2030 erreicht werden sollen, gehen zumindest theoretisch in diese Richtung. Im Unterschied zu den MDGs, die fast ausschliesslich in Entwicklungsländern erfüllt werden sollten, gelten die SDGs in allen Staaten. Und sie umfassen auch das Ziel, Ungleichheit in und zwischen Ländern zu verringern. Gemäss den Zielvorgaben müssen etwa die reichen Länder ihre Agrar- und anderen Exportsubventionen auslaufen lassen.
Mit den SDGs, die aus 169 konkreten Zielvorgaben bestehen, haben sich die Uno-Mitgliedstaaten also tatsächlich auf eine ganzheitliche Entwicklungszusammenarbeit geeinigt, mit der Vision, den Planeten für alle Menschen langfristig lebenswert zu machen. Von irgendwelchen Anstrengungen ist im öffentlichen Diskurs, der von egomanischen Amtsträgern am Rand des Wahnsinns bestimmt wird, zwar gerade wenig zu vernehmen. Aber die Megakrisen der heutigen Zeit – in Wirtschaft und Umwelt, in Kriegen und Klima – lassen eigentlich gar keine Wahl.
Es ist sicher nicht falsch, wenn sich die Linke mit Gegenentwürfen zum kapitalistischen Entwicklungspfad befasst, sofern dies nicht in paternalistischer Weise geschieht. Aber dringender ist, im politischen Prozess der Industrieländer – zum Beispiel in der Schweiz – darauf hinzuwirken, dass die vereinbarten nachhaltigen Entwicklungsziele spätestens 2030 auch wirklich erreicht werden. Allein mit der Beendigung von Exportsubventionen, der Tiefsteuerpolitik oder der klimaschädlichsten Aktivitäten würden Menschen an der Peripherie des Weltwirtschaftssytems neue Entfaltungsmöglichkeiten erhalten. Das wäre echte Zusammenarbeit für Entwicklung.