Wissenschaftsstandorte (9): Wenn Zucker und Salz Leben retten

Nr. 5 –

Bangladesch ist eines der ärmsten Länder der Welt. Doch das Choleraspital in Dhaka steht mit seiner Forschung den mächtigen internationalen Hilfsorganisationen zur Seite. Eine Erfolgsgeschichte.

Inam Islam ist zu schwach, um zu gehen. Die Cholera hat ihn an den Rand seiner Kräfte gebracht, ausgetrocknet. Gekrümmt und fiebrig zitternd liegt er auf dem einfachen Holzkarren, den seine Familie Richtung Choleraspital zieht, das im Zentrum Dhakas liegt, der Hauptstadt von Bangladesch. Das Choleraspital kennen hier die meisten Leute. Offiziell heisst es International Center Diarrhoeal Diseases Research Bangladesh (ICDDRB). Seit über vierzig Jahren hilft es rasch und unkompliziert, rund um die Uhr. Wer wie Inam Islam die zwanzig Taka (umgerechnet vierzig Rappen) Einschreibegebühr nicht bezahlen kann, erhält eine Gratisbehandlung.

An gewöhnlichen Tagen suchen hier zweihundert Cholera- und DiarrhöpatientInnen im Spital um Hilfe; mehrheitlich Kinder und Jugendliche, die zusätzlich an Mangelernährung leiden. Sie kommen zum provisorisch eingerichteten Zelt, das neben den Spitalgebäuden steht. Die Saris der Mütter und Schwestern, die den grössten Teil der Pflege übernehmen, bilden Farbtupfer im dämmrigen Zelt. Der Geruch von Desinfektionsmitteln hängt in der Luft, weinende Kinder, lautes Debattieren und plätscherndes Wasser sind zu hören.

Helena ist eben eingetroffen. Auf ihrem Arm trägt sie ihr fünfzehn Monate altes Söhnchen, das vor sich hindämmert. Entkräftet hängt sein Kopf nach hinten, Spuren von Erbrochenem im linken Mundwinkel. «Seit fünf Tagen erbricht Abdulla, hat Durchfall. Meine Nachbarn haben mir erzählt, das hier sei ein gutes Spital», sagt Helena. Sobald sie registriert ist, wird sie Abdulla zu einem der einfachen hölzernen Klappbetten bringen, die das Zelt füllen.

Die Betten sind mit dem Choleratuch bedeckt, einem Plastiküberzug mit Öffnung in der Mitte. Durch die fliesst der wässrige Stuhl der PatientInnen in einen Eimer. Unter jedem Klappbett plätschert es. «Ist der Stuhl weisslich wie Reiswasser und riecht nach Fisch, so ist es Cholera. Ist er einfach wässrig, ist es Diarrhö», erläutert der Arzt Schafik Sarker. Als Erstes muss die Dehydrierung, das Austrocknen des Körpers, gestoppt werden. In schweren Fällen hilft nur eine Infusion.

Meist werden die PatientInnen – auch die an Cholera erkrankten – nach ein, zwei Tagen nach Hause geschickt. In dieser Zeit schöpfen sie genügend Kraft, während ihre Angehörigen alles Wesentliche über Pflege und Ernährung lernen. Schwerkranke erhalten nach zwei Tagen im Zelt ein Bett im Spitalgebäude, das gleich farbig ist und gleich familiär wirkt wie das Zelt.

«Hier sehe ich Krankheitsbilder, die in den USA gar nicht existieren.» Linda ist seit wenigen Tagen in Dhaka. Die amerikanische Medizinstudentin wird während einiger Wochen Einblick in den Klinik- und Forschungsalltag des Zentrums erhalten. Sie gehört zu den rund fünfzig Studierenden, die das Spital jährlich besuchen. Für Medizinstudierende und ÄrztInnen, die länger bleiben wollen, existiert ein ein- bis zweijähriges «Fellowship»-Programm für Pädiatrie und innere Medizin. Das Zentrum verfügt über mehrere Labors und betreibt klinische, pharmazeutische und mikrobiologische Grundlagenforschung; so hat es Schluckimpfungen gegen Cholera und ein Zinktablettenprogramm gegen Mangelernährung und die damit verbundene hohe Kindersterblichkeit entwickelt.

Die erfolgreichste Erfindung des Zentrums aber ist die Oral Rehydration Solution, kurz ORS genannt: ein Löffel Zucker und ein Löffel Salz, aufgelöst in Wasser, sind die einfachen Grundkomponenten. Schafik Sarker verschreibt den an Cholera Erkrankten den «Zaubersaft», den das Forschungslabor des Spitals in den späten sechziger Jahren entwickelt hatte. Begeistert von der einfachen und kostengünstigen Lösung wollten die ForscherInnen ihr Wissen international streuen, ernteten aber Skepsis. «Alles, was aus Bangladesch kommt, ist erst mal verdächtig», sagt Istiak Zaman. Er leitet die Marketingabteilung des Zentrums. «Zu einfach, zu billig schien den westlichen Ärzten und Wissenschaftlerinnen diese Lösung. In ihren Augen war ORS lediglich «poor men's medicine» – Kostenpunkt zwölf Dollar.»

ORS als Marke zu registrieren, ging in der damaligen Euphorie schlicht unter. Heute wird die Lösung in verschiedenen Ländern hergestellt und vertrieben, doch das Zentrum sieht davon keinen Rappen. «Eine Schande», kommentiert Istiak Zaman, «so ist uns eine Einkommensmöglichkeit einfach entglitten. Doch – und das ist sehr positiv – ORS hat bis heute über vierzig Millionen Menschen das Leben gerettet, was die internationale Anerkennung überhaupt erst ermöglicht hat.»

Erst Ende der achtziger Jahre anerkannten die Weltgesundheitsorganisation WHO und die Unicef das Mittel ORS und begannen, das Zentrum in Krisensituationen beizuziehen – 1994, als eine Cholera- und Schingellaepidemie in Zaire täglich tausende von Menschen dahinraffte. «In den Flüchtlingslagern vor Ort waren zwar zahlreiche Hilfsorganisationen und ausgebildete ÄrztInnen aktiv, doch sie hatten keine Erfahrung mit Cholera», erinnert sich David Sack. Der US-amerikanische Arzt kam in den siebziger Jahren als Forscher ans Zentrum. Heute ist er dessen Direktor. «Trotz hohen Ausgaben für Antibiotika liess sich die Zahl der Toten pro Tag nicht senken. So wurden wir um Hilfe gebeten. Unsere Labortests ergaben, dass es sich um einen Cholerastamm handelte, der bereits resistent war.» Mit ORS und einem eigens entwickelten Antiserum senkte das Team des Spitals die Zahl der Todesfälle rasch drastisch.

Bangladesch wird zweimal jährlich regelrecht von einer Cholera- und Diarrhöwelle durchspült: im Mai und Juni vor, im Oktober nach der monsunbedingten Flut. Im Sommer 2004 staute sich das Wasser meterhoch in Dhaka. Im schlimmsten Hochwasser der letzten vierzig Jahre wurde das Spital ebenfalls überschwemmt – von PatientInnen. «Täglich kamen 700 bis 900 infizierte Personen hinzu, das ist eine Person alle fünf bis zehn Minuten», erinnert sich David Sack. «Die meisten von ihnen litten unter hochgradiger Dehydration. Ihr Puls flackerte nur noch, ihr Bewusstsein war am Schwinden.»

Sie fanden in Klappbetten Platz, auf jedem Quadratzentimeter oder in einem der drei Zelte auf dem Spitalparkplatz. Zusätzliches Personal wurde ausgebildet und eingestellt. PflegerInnen und ÄrztInnen arbeiteten in drei Schichten, zweimal drei Wochen. «Wir haben niemanden abgewiesen. Doch ohne die Familienmitglieder der Patienten wäre es nicht möglich gewesen», sagt David Sack.

Das Zentrum strebt praktikable und bezahlbare medizinische Anwendungen an. Seine Forschungen kombinieren klinische und mikrobiologische Resultate mit soziodemografischen und meteorologischen Daten nach internationalen Standards. Als in den neunziger Jahren ein als ausgerottet geltender Cholerastamm wieder auftauchte, konnte das Zentrum nachweisen, dass die Cholerazyklen mit bestimmter Witterung und Temperatur zusammenfallen. Die Bakterien, zeigte sich, gehen Verbindungen mit einer Alge ein. Daraus wurden einfache Ansätze zur Choleraprävention gewonnen: Wird das Wasser gefiltert, so werden 98 Prozent der Krankheitserreger ausgeschlossen. ·

Armutskrankheiten erforschen

Das International Centre for Diarrhoeal Diseases Research Bangladesh (ICDDRB) wird seit 1978 international geführt und finanziert. Zum jährlichen Budget von achtzehn Millionen Dollar tragen über 55 Länder, Universitäten und Organisationen bei, allen voran die USA mit fünfzehn Prozent, die Niederlande mit vierzehn, Grossbritannien mit zwölf Prozent. Die Schweiz finanziert mit den Beiträgen der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) jährlich fünf Prozent.

Am Zentrum arbeiten 2100 Personen, 95 Prozent kommen aus Bangladesch. Die Forschungen des Zentrums umfassen nicht nur Durchfallkrankheiten, sondern auch Familienplanung, Ernährung, Wasser, Impfstoffe, Demografie, Armut und Aids. Mit ungefähr vierzig Austauschprogrammen fördert das Spital den wissenschaftlichen Dialog im klinischen und pharmazeutischen Bereich zwischen in- und ausländischen Institutionen; darunter sind das Basler Tropeninstitut, die Universität Basel und die ETH Zürich.

In Matlab, 140 Kilometer von Dhaka entfernt, führt das Zentrum eine digitale Datenbank, die monatlich aktualisiert wird; sie hält von 220000 Personen fest, wer wann, wo und wie geboren und geimpft wurde, krank war, schwanger wurde, verhütet hat und umgezogen ist. Wie die Arbeitsbedingungen waren, wie die Ernährung, wird ebenfalls erfasst, einmal monatlich. Kein anderes Entwicklungsland verfügt über einen vergleichbaren Datensatz.

Serie Wissenschaftsstandorte

Welche Rolle spielt der Standort im Zeitalter von Internet und E-Learning für die Wissenschaft? Wie funktioniert Wissenschaft anderswo? Bisher erschienen: Basel (WOZ Nr. 3/04); Sarajevo (Nr. 9/04); Berlin (Nr. 16/04); Moskau (Nr. 20/04); Wissenschaft im Cyberspace (Nr. 28/04); Das ETH-Projekt Science City (Nr. 34/04); Princeton (Nr. 47/04); Lesotho (Nr. 50/04); Bangladesch (Nr. 5/05); Oxford (Nr. 22/05); Berkeley (Nr. 45/05).