Yvonne Gilli: «Wir haben die Kosten im Griff»

Nr. 10 –

Zeit für eine Bilanz: Yvonne Gilli, Präsidentin des Berufsverbands der Schweizer Ärzt:innen (FMH), über zwei Jahre Corona, die Kontroverse um ihren Impfstatus, die Wirkung der Homöopathie und ihren Widerstand gegen die Kostendämpfungspläne von Bundesrat und Parlament.

«Zwei liegen auf der Intensivstation, der eine ist mit 200 irgendwo reingeblocht und lebensgefährlich verletzt, der andere hat sich nicht impfen lassen und ist schwer an Covid erkrankt – wer kommt zuerst dran?» Die ehemalige grüne Politikerin Yvonne Gilli.

WOZ: Yvonne Gilli, zurzeit ziehen viele Leute Coronabilanzen. Wie sieht Ihre aus?
Yvonne Gilli: Als Erstes möchte ich sagen, dass die Schweiz in der Behandlung eine exzellente Leistung erbracht hat. Vor allem bei schwer Erkrankten war die Mortalität im internationalen Vergleich sehr tief. Das hängt damit zusammen, dass wir – ebenfalls im internationalen Vergleich – noch eine gute Personalsituation hatten. Covid-Patient:innen sind sehr pflegeintensiv. Das sollte ein Lehrbeispiel sein für die künftige Gesundheitspolitik. Und noch etwas hat mich als FMH-Präsidentin sehr beschäftigt.

Nämlich?
Wie stark wir darum kämpfen mussten, dass Praxisärzt:innen mit ihren Bedürfnissen wahrgenommen wurden. Schon 2012 haben sie elektronische Meldeformulare gefordert, sind aber nie gehört worden: Am Anfang der Pandemie mussten sie die Fälle noch per Fax melden. Dann mussten wir darum kämpfen, dass die Praxen impfen können und dafür auch individuelle Beratungszeit in Rechnung stellen dürfen. Obwohl man wusste, dass sich Patient:innen nach einer solchen Beratung viel eher für eine Impfung entscheiden.

Wenn wir gerade beim Thema sind: Sie sagten lange, es sei Privatsache, ob Sie geimpft seien oder nicht. Viele haben das nicht verstanden.
Ich würde es nicht so formulieren: «Impfung ist Privatsache.» Eine Impfung ist eine medizinische Behandlung. Sie ist präventiv. Es kann verschiedene Gründe geben, warum man sie persönlich ablehnt oder warum sie ärztlich nicht indiziert ist. Im Frühstadium einer Schwangerschaft etwa.

Muss eine Frau, die weiss, dass in ihrem Betrieb Schwangerschaften nicht erwünscht sind, einem solchen sozialen Druck ausgesetzt werden, dass sie sagen muss: «Nein, ich bin nicht geimpft» – und dann auch noch erklären, warum? Als der Impfstoff verfügbar war, fand eine Polarisierung statt, die bar jeder Evidenz war – es ging gar nicht um eine epidemiologische Sichtweise, sondern darum, Gute und Böse zu schaffen. Das ist ein gefährlicher Weg.

Warum legten Sie Ihren Impfstatus schliesslich doch offen?
Ich kam zum Schluss: In dieser Phase der Pandemie ist es mir als öffentliche Person wichtiger zu sagen, dass ich hinter der Impfung stehe. In meiner Praxis hatte ich mit Patient:innen zu tun, die Angst vor Mythen hatten, die auf Social Media kursierten: Die Impfung mache unfruchtbar oder impotent. Ihnen sagte ich: «Ich habe drei junge erwachsene Söhne. Denken Sie, ich hätte die geimpft, wenn ich diesen Mythen auch nur den geringsten Glauben schenken würde?»

Aber nach wie vor finde ich es wichtig, dass man versteht, warum medizinische Behandlungen nicht offengelegt werden müssen. Dieses Recht wird auch mit der Schweigepflicht im Strafgesetzbuch stark geschützt. Wenn es nicht gewährleistet ist, führt das zu Stigmatisierung.

Eine Impfpflicht wäre für Sie nie infrage gekommen?
Meines Wissens gab es nie die Evidenz, also den Nachweis dafür, dass eine Pflicht die erwünschte Wirkung erzielt hätte. Und da brauchen wir schon Evidenz, finde ich, bevor wir einen so massiven Eingriff in die persönliche Freiheit vornehmen.

Gäbe es Situationen, in denen Sie eine Impfpflicht gerechtfertigt fänden?
Ja. Man kann ja in der Schweiz auch auf der Basis der heutigen Gesetzgebung für bestimmte Berufsgruppen gewisse Impfungen verlangen. Oder bei Einreisebestimmungen – wenn jemand in ein Land des Globalen Südens reisen will, wo Masern katastrophale Folgen haben können, ist es indiziert, gegen Masern geimpft zu sein.

Aber die Fragen gingen ja viel weiter: Wer hat noch Zugang zu einer intensivmedizinischen Behandlung, wenn die Ressourcen knapp werden? Zwei liegen auf der Intensivstation, der eine ist mit 200 auf der Autobahn irgendwo reingeblocht und lebensgefährlich verletzt, der andere hat sich nicht impfen lassen und ist schwer an Covid erkrankt – und jetzt? Wer kommt zuerst dran?

Wenn wir ethische Diskussionen führen, ist es wichtig, uns zu fragen, wohin wir eine gesellschaftliche Entwicklung treiben. Wenn wir einfach aus einer aktuellen Polemik heraus anfangen, Entscheidungen zu fällen, schaffen wir Präjudizen. Diese Fragen poppen in der Medizin immer wieder auf. Der SVP-Nationalrat Toni Bortoluzzi forderte einst im Parlament, Drogensüchtige sollten ihre Spitalbehandlungen selbst bezahlen.

Was ist Ihr Fazit? Alle haben ein Recht auf Behandlung, egal, wie sie ins Spital gekommen sind?
Ja. Ich kann mich gut erinnern, wie man mich beim Nationalratswahlkampf 2015 allen Ernstes gefragt hat: Wenn Sie zwei Verunfallte antreffen, einer dunkelhäutig und der andere ein Schweizer, welchen behandeln Sie zuerst? Das war an Wahlveranstaltungen im Kanton St. Gallen. Und es gab keinen Aufstand in irgendeinem Saal.

Die Frage kam mehrmals?
Regelmässig! Die Flüchtlingskrise von 2015 war eine ähnlich polarisierte Situation wie die Pandemie. Das zeigt einfach, wie schnell solche Schattenseiten an die Oberfläche kommen, wenn wir eine Bedrohung wahrnehmen.

Wegen der drohenden Knappheit auf den Intensivstationen wurde ein Triagegesetz gefordert. Fänden Sie das sinnvoll?
Was das angeht, bin ich ambivalent. Einerseits verstehe ich, dass sich die Ärzt:innen auf den Intensivstationen, die hart am Limit arbeiten, Richtlinien wünschen, wie sie das Ganze möglichst gerecht bewältigen können. Aber es ist die Verantwortung der Politik, zu verhindern, dass eine Triage nötig wird. Ich machte mir Sorgen, dass solche Richtlinien die Politik entlasten und die Verantwortung zu den Ärzt:innen verschieben.

Bundesrat Alain Berset möchte mit einer Kostenbremse verhindern, dass die Kosten im Gesundheitswesen immer weiter steigen (vgl. «Zurück auf dem Tapet: Artikel 47c» ). Letzte Woche hat der Nationalrat zugestimmt. Warum sind Sie dagegen?
Die Kostendämpfungsmassnahmen führen zu einer Zweiklassenmedizin, insbesondere der umstrittene Artikel 47c im Krankenversicherungsgesetz. Er besagt, dass Tarifpartner, also Krankenversicherer und Leistungserbringer, sich auf Kostenziele einigen sollen. Kostenziel ist ein höflicher Name für ein Globalbudget. Und wenn diese Ziele nicht eingehalten werden können, sollen die Tarife gesenkt werden. Damit sind die entsprechenden Leistungen nicht mehr kostendeckend.

Das bedeutet einen weniger guten Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in der Grundversicherung, sprich Zweiklassenmedizin. Es ist schon erstaunlich, dass die Linke im Parlament eine solche Vorgabe unterstützt.

Malen Sie da nicht etwas schwarz?
Die SP-Nationalrätin Barbara Gysi stellte den Antrag, es dürfe nicht passieren, dass notwendige Leistungen vorenthalten würden. Aber Leistungen, die nicht kostendeckend sind, können nicht erbracht werden. Genau das hat Deutschland gezeigt, wo es diese Regulierung bereits gibt. Daher müssen wir nicht darüber spekulieren, was passiert – wir wissen es! In Deutschland hat es zu massiven Qualitätseinbussen geführt. In einem Ausmass, dass man diese Massnahmen wieder rückgängig machen will.

Die Kostenbremse soll ja nur zum Einsatz kommen, wenn die Kosten «unerklärlich» steigen.
Die Politik soll neu definieren, was das medizinisch vertretbare Mass für die Kostenentwicklung ist. Damit werden politische und ökonomische Kriterien für medizinische Entscheidungen massgebend. Das führt dazu, dass nicht mehr alle uneingeschränkt zur medizinisch optimalen Behandlung Zugang haben, sondern nur noch jene, die sich diese über private Zusatzversicherungen finanzieren können.

Haben Sie denn einen Vorschlag, wie man die Kosten in den Griff bekommt?
Wir haben sie im Griff.

Die Prämien steigen trotzdem.
Aber die Prämien sind nicht dasselbe wie die Kosten. Sogar wenn die Kosten gar nicht mehr gestiegen wären, wären die Prämien immer noch gestiegen. Weil im Leistungsspektrum immer mehr über Prämien finanziert wird und immer weniger über Steuergelder. Die Kantone haben sich aus den Prämienermässigungen zurückgezogen, und es gab Vorgaben, dass man gewisse Behandlungen nur noch ambulant durchführt – was grundsätzlich sinnvoll wäre, aber es bewirkt einen Prämienschub. Denn wenn eine Leistung stationär erbracht wird, wird mehr als die Hälfte über Steuern finanziert und der andere Teil über Prämien. Ambulante Eingriffe werden zu hundert Prozent über Prämien finanziert. Jede Operation, die stationär erbracht wird, ist teurer, aber sie spart Prämien.

Das könnte man ja ändern.
Klar. Aber man ändert es nicht über Kostenziele. Die Reform dazu ist bereits im Parlament. Das ist ja auch ein linkes Anliegen: weniger Prämien- und mehr Steuerfinanzierung.

Sie sind auch Komplementärmedizinerin, haben Zusatzausbildungen in klassischer Homöopathie und Traditioneller Chinesischer Medizin. Manche behaupten ja, Komplementärmedizin helfe vor allem, weil sich die Leute dort noch Zeit nehmen, miteinander zu reden.
Da ist mit Sicherheit etwas dran. Es stimmt, dass sich Komplementärmediziner:innen in der Regel mehr Zeit für Patient:innen nehmen und das eine sehr positive Wirkung hat. Komplementärmedizin ist beliebt – etwa ein Drittel der Patient:innen fragte solche Leistungen nach. Spätestens wenn man mit chronischen Erkrankungen konfrontiert ist, die die Schulmedizin allein nicht heilen kann, oder mit Medikamenten, die starke Nebenwirkungen haben, wird Komplementärmedizin für viele eine wichtige Option.

Umstritten ist vor allem die Homöopathie, die als nicht evidenzbasiert gilt. Viele Studien können bei den Globuli keine Wirkung nachweisen. Das sollte Sie interessieren, Sie legen ja viel Wert auf Evidenz …
Ja, das interessiert mich sehr, aber in beiden Disziplinen: der Schulmedizin und der Komplementärmedizin. Auch in der Ersteren arbeiten wir oft mit wenig Evidenz – besonders bei neuen Krankheiten wie Covid-19. Aber das spricht nicht dagegen, dass wir versuchen, die Evidenz zu stärken. Es gibt auch zur Homöopathie viele evidenzbasierte Studien. Auch universitäre Institute an medizinischen Fakultäten forschen dazu, zum Beispiel hier in Bern.

Diese erforschen aber nicht die Wirkung eines einzelnen Medikaments.
Weil die Betreuung in der Homöopathie und der anthroposophischen Medizin individualisierter ist, kann es sein, dass zwei Patientinnen mit der gleichen Erkrankung nicht das gleiche Medikament bekommen. Darum braucht es angepasste wissenschaftliche Untersuchungen, um evidenzbasiert Resultate zu erhalten. Man untersucht stärker bezogen auf eine spezifische Krankheit und macht zum Beispiel Fallstudien statt Studien zu einer Wirksubstanz.

Medikamente der klassischen Homöopathie sind so stark verdünnt, dass sich die Wirksubstanz gar nicht mehr nachweisen lässt. Wie sollen sie denn wirken?
Wir würden gern die Forschung verstärken, um den Wirkungsmechanismus besser zu verstehen. Aber damit, dass man den Wirkungsmechanismus nicht vollständig versteht, sind wir auch in der Schulmedizin vertraut. Medizin ist nie reine Naturwissenschaft. Sie kann es in einem einzelnen Bereich sein, zum Beispiel in der Bildgebung. Aber ganz viele Elemente der medizinischen Versorgung – wir haben vom Wert des Gesprächs gesprochen – sind stärker sozial- als naturwissenschaftlich.

Zum Schluss noch ein anderes Thema: Der Gesundheitssektor ist ökologisch alles andere als nachhaltig. Die Pandemie hat zu noch grösseren Abfallbergen geführt …
Da gibt es einen grossen Reformbedarf – dem aber immer wieder absurde Regulative entgegenstehen. Ein aktuelles Beispiel aus der Pandemie: Weil wir am Anfang nicht genug Handschuhe und Masken hatten, wurden neue Vorschriften erlassen, welche Vorratshaltung Praxen haben müssen. Aber sie können diese Vorräte gar nicht bewirtschaften: Ein grosser Teil des Vorrats verfällt, muss weggeworfen und neu beschafft werden. Es wäre ein Leichtes, die Vorratsbewirtschaftung in Kooperation mit Spitälern zentraler zu planen.

Das ist nur ein kleines Beispiel, wie man aus einer kurzfristigen Sicht ein neues Problem schafft, das der Nachhaltigkeit diametral entgegensteht. In diesem Bereich haben wir – ich formuliere es mal positiv – ein Riesenpotenzial.

Die grüne Ärztin

Yvonne Gilli (65) ist im Kanton Zug aufgewachsen. Sie lernte zuerst Pflegefachfrau, holte dann die Matura nach und studierte Medizin. Sie ist spezialisiert auf allgemeine innere Medizin. Zusätzlich bildete sie sich in klassischer Homöopathie und traditioneller chinesischer Medizin weiter.

Gilli, die in Wil SG wohnt, sass von 2007 bis 2015 für die St. Galler Grünen im Nationalrat. Seit Februar 2021 ist sie Präsidentin der FMH, des Berufsverbands der Schweizer Ärzt:innen. daneben arbeitet sie noch in einer Gemeinschaftspraxis in Wil.