Tag der prekären Arbeit: Abschied von der Grillparty

Nr. 17 –

Am 1. Mai wird in mehreren europäischen Städten eine Euro-Mayday-Parade durch die Strassen ziehen. Erstmals auch in Deutschland und in der Schweiz.

Bislang galt: Der 1. Mai ist Familienausflug und Grillparty bei der Gewerkschaft, und die revolutionäre Alternative schmeisst Steine. Doch dieses Jahr kommt was Neues: Der «Euro-Mayday» feiert in Hamburg und Genf (vgl. «Euro-Mayday in der Schweiz») Premiere. Euro-Maydays - in Anlehnung an das internationale Notrufsignal und an das englische Wort May für Mai - sind Paraden des «Prekariats», dieser wachsenden Gruppe von Beschäftigten verschiedenster Branchen, vereint durch ihren prekären Status. Wörtlich übersetzt heisst prekär «unsicher, misslich, schwierig», und es beschreibt treffend die Situation vieler Ich-AGs, Selbständiger oder Zeit-, Leih-, Kontingent- und SchwarzarbeiterInnen. Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen leben von der Hand in den Mund und sind oft ohne Vertrag und ohne Sozialversicherung. Allein in Deutschland gab es Ende 2004 sechs Millionen so genannter Minijobber (400-Euro-Jobs). Darüber hinaus arbeiten im nördlichen Nachbarland über ein Drittel der Vollzeitbeschäftigten zu Niedriglöhnen.

Das «Prekariat» - in Anlehnung an das Proletariat - mobilisiert nun europaweit zum Tag der Arbeit, von Sevilla bis Helsinki, von Hamburg bis Genf. In Mailand, der Industriemetropole Norditaliens, beispielsweise stellt der Mayday bereits die traditionelle Gewerkschaftsdemonstration in den Schatten: Die Beteiligung stieg innerhalb dreier Jahre von 5000 auf 70000 Personen im letzten Jahr. Zu den TeilnehmerInnen gehörten KünstlerInnen, Krankenschwestern, LKW-Fahrer, Hausarbeiterinnen, Kellner, Journalistinnen und illegalisierte MigrantInnen. Sieben Millionen Menschen hätten in Italien nur noch temporäre Arbeitsverhältnisse ohne soziale Absicherung, europaweit seien es mindestens dreissig Millionen, schätzt Alex Foti, einer der Organisatoren der Mailänder Parade. «Egal ob du als Computerprogrammierer oder als Kassiererin im Supermarkt arbeitest», so Foti, «du weisst nicht, ob du im nächsten Monat noch angestellt bist.» Verbesserte soziale Rechte und eine entsprechende EU-weite Gesetzgebung sind seiner Meinung nach das langfristige Ziel der europäischen Vernetzung - weswegen die Maydays das «Euro-» vorwegtragen.

Wie in Genf ist man auch in Hamburg erst am Anfang der Debatten. Und so geht es dem Organisationsbündnis auch in erster Linie um die «Sichtbarmachung» dieser Realität. Das war manch einem im Anfangsstadium der offenen Mayday-Zusammenkünfte zu wenig konkret: Die InitiantInnen des kleinen revolutionären Blocks auf der Hamburger Gewerkschaftsdemo wollten etwa geklärt wissen, ob man nun gegen den Kapitalismus sei oder nicht.

Tyrannei der reinen Lehre

Doch von der «Tyrannei der reinen Lehre» will man im Mayday-Bündnis nichts wissen. Grösstmögliche Uneinigkeit besteht zum Beispiel über die Definition von «Prekarisierung». Die meisten der Mayday-AktivistInnen arbeiten selbst prekär, aber sie wollen sich nicht in einer Opferrolle sehen. «Man braucht ‹Stoppt Prekarisierung› als Kampfbegriff, weil er als politische Strategie wichtig ist und um zu kommunizieren. Gleichzeitig gibt es den Versuch, den Begriff positiv zu wenden», sagt Steffi, eine der OrganisatorInnen. «Denn Prekarisierung hat gleichzeitig auch das Begehren einiger Menschen nach flexiblen Arbeitszeiten oder Mobilität erfüllt.» Nun ist dieser Zustand allerdings bei vielen Betroffenen unfreiwillig.

Wie sollen die verschiedenen Anliegen zusammengehen - die der illegalisierten Hausarbeiterin, des Zeitarbeiters oder des Künstlers? Von Identifikation stiftenden Slogans wie «Wir sind alle prekär» halten die Hamburger Mayday-OrganisatorInnen nichts. «Die Vorstellung von Einheit ist uninteressant und politisch falsch. Ich finde gerade spannend daran, die Vielfalt auszuhalten, zu betonen und darin die Auseinandersetzung zu führen», sagt Steffi. Mit den GewerkschafterInnen und allen Leuten, «die ihren prekären Status für verbesserungswürdig halten, sich in alten politischen Formen oder unter einem gewerkschaftlichen Dach nicht wohl fühlen».

Kampf dem Mitgliederschwund

Dass sich das ändert, darum ringen zurzeit rund hundert GewerkschafterInnen aus der Bundesrepublik bei der von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi Hamburg und der Heinrich Böll Stiftung organisierten Tagung «Never work alone». Mit sieben KollegInnen aus den USA wollen sie klären, ob die Lösung für den Schwund an Mitgliedern und gesellschaftspolitischem Einfluss im Bündnis von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen liegt. Vom grossen Erfolg dieses «social unionism» berichtet unter anderem Valery Alzaga, Koordinatorin einer Kampagne papierloser DienstleisterInnen, die der britische Filmregisseur Ken Loach in «Bread and Roses» verfilmte. Einer der InitiantInnen der Tagung ist Peter Bremme, Fachbereichsleiter «Besondere Dienstleistungen» bei Verdi. Er kümmert sich um Callcenter-Agents, Wachleute oder um Friseurinnen, die den Stuhl im Salon, wo sie früher nur gearbeitet haben, nun pachten müssen. So genannte Kernarbeitergruppen sind nicht in Sicht, kein Betriebsrat oder Vertrauensmann regelt die Belange. «Viele wissen gar nicht mehr, was eine Gewerkschaft ist, was sie tut, wofür sie gut ist», sagt Bremme.

Wollen die Gewerkschaften nicht Geschichte werden, müssen sie sich also etwas einfallen lassen. Bremme hat deshalb zusammen mit Mayday-AktivistInnen den «Arbeitskreis undokumentiertes Arbeiten» gegründet. Diese Arbeit im Bereich prekär Beschäftigter, inklusive illegalisierter ArbeiterInnen, beschreibt er als Zukunftsarbeit innerhalb der Gewerkschaften. Bremme will künftig «in Bündnissen arbeiten, Netzwerke schaffen und über verschiedene Kontakte eine neue Attraktivität für Gewerkschaft vermitteln».

Und so werden am 1. Mai in Hamburg nicht nur die Gewerkschaften unter dem Motto «Überleben in der Stadt der Millionäre» durch die Strassen ziehen, sondern auch das Prekariat mit seiner Mayday-Parade.

Euro-Mayday in der Schweiz

Prekarisierung der Arbeit und Working Poor werden auch in der Schweiz zunehmend thematisiert. Eine letzten Herbst veröffentlichte Nationalfondsstudie bezeichnet eine Viertelmillion Erwerbstätige als Working Poor, die unter dem Existenzminimum leben. Dies bedeutet, dass monatlich nach Abzug der Wohnungs- und Gesundheitskosten weniger als tausend Franken für Nahrungsmittel, Kleider und so weiter übrig bleiben. Werden alle Haushaltsmitglieder dazugerechnet, steigt die Zahl der betroffenen Personen auf über eine halbe Million. «Häufig geht es dabei um Frauen (61 Prozent), Ausländer (59 Prozent) und Alleinerziehende (30 Prozent)», schreiben die Autoren.

Auch die Prekarisierung der Arbeit trifft weltweit vor allem Frauen. Laut der internationalen Arbeitsorganisation (ILO) bleibt die Mehrzahl der Frauen in flexibler, prekärer, schlecht bezahlter Arbeit und Teilzeitbeschäftigung kleben. In Europa inklusive der Schweiz sind beispielsweise über achtzig Prozent der Teilzeitarbeitenden Frauen.

Ob sich nun, wie laut Caritas, eine halbe Million Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen befindet oder, wie laut dem Staatssekretariat für Wirtschaft, lediglich 150 000 Personen (fast vier Prozent aller Erwerbstätigen), ist Definitionssache. Die Gewerkschaft Bau und Industrie schätzte allerdings für das Jahr 1999 allein die Zahl der schwarz arbeitenden Putzfrauen und -männer bereits auf 60 000 bis 100 000. Die Schweizer Frauen sind dreimal so häufig von der Prekarisierung betroffen wie die Schweizer Männer. Arbeit auf Abruf gilt in der Schweiz als die am meisten verbreitete Form eines prekären Arbeitsverhältnisses.

Die Genfer interprofessionelle Gewerkschaft SUD beteiligt sich zusammen mit anderen sozialen Bewegungen dieses Jahr zum ersten Mal an der europaweiten Mobilisierung und Vernetzung des «Prekariats». Eine grosse Euro-Mayday-Parade wird es zwar laut einem der Genfer OrganisatorInnen am 1. Mai nicht geben, dafür einen Stadtspaziergang. Wie in Hamburg geht es auch in Genf in erster Linie um die Sichtbarmachung der Prekarität. Und um das Knüpfen von Kontakten auf der Strasse. «Wir wollen zu einer breiten kämpferischen, ungehorsamen, subversiven und horizontalen Bewegung der Prekären beitragen», schreiben die AktivistInnen in ihrem 1.-Mai-Manifest.

Elvira Wiegers