Neuro-Lamaismus: Friede, Freude, Weltweisheiten
Religion und Wissenschaft gelten gewöhnlich als Gegensatz. Nicht für den Dalai Lama und einige Neurowissenschaftler.
Ein Bild tiefster Seligkeit selbst für spirituell ungeübte Sinne: Fünf Naturwissenschaftler und der Dalai Lama sitzen umrahmt von Tibetfahnen an einem langen Tisch und lächeln; sie lächeln in die Kameras und in das übervolle Auditorium, und dieses lächelt zurück. Die Wissenschaftler senken vor Seiner Heiligkeit das Haupt, die sich neue neurowissenschaftliche Erkenntnisse anhört. Das Plenum wiederum lauscht andächtig auch dem geringsten Räuspern des Dalai Lamas; jeden seiner weisen Scherze quittiert es mit einem gelassenen Gelächter. Studentinnen stellen ihm der Reihe nach schüchtern ihre vorbereiteten Fragen. Schliesslich dankt Seine Heiligkeit den Referenten, dass sie sich kurz und klar ausgedrückt hätten, und hängt ihnen den obligaten weissen Schal um.
Ein folkloristisch untermaltes Bild der Seligkeit, vor allem aber ein auf den ersten Blick absurdes Bild war es, das sich letzte Woche an der Universität Zürich Irchel anlässlich des «Neuroscience Symposium mit Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama» bot. Denn hat die europäische Universität im Laufe der letzten Jahrhunderte nicht mühevoll die Vormundschaft geistlicher Autoritäten abgeschüttelt? Hat sie nicht das Prinzip des intersubjektiven Diskurses gegen metaphysische Spekulationen durchgesetzt? Hat nicht der rational nachvollziehbare Disput das theologische Dogma verdrängt? Und jetzt sitzen ein theokratischer Führer, der keinerlei demokratische Legitimation besitzt, und so genannte Spitzenforscher in trauter, von Scheinwerfern erleuchteter Runde im Auditorium Maximum und preisen gemeinsam die wunderbare Komplexität des menschlichen Gehirns, das schon Michelangelo fasziniert haben soll. Denn wie der Neurologe Jürg Kesselring erläuterte, symbolisiert das Fresko in der Sixtinischen Kapelle, das den seinen Arm ausstreckenden Gottvater bei der Erschaffung des Menschen zeigt, nichts weniger als die Anatomie des Hirns.
Heiliger Glanz
Was mag die Naturwissenschaftler bewogen haben, gemeinsam mit einem Religionsführer an einem wissenschaftlichen Symposium aufzutreten? Die Suche nach letzten Erklärungen? Persönliche spirituelle Bedürfnisse? Oder der Wunsch, sich im Glanz Seiner Heiligkeit zu sonnen? Der Dalai Lama seinerseits pflegt seit Jahrzehnten eine mitunter naiv anmutende Faszination für die Natur- und besonders die Neurowissenschaften. Regelmässig umgab und umgibt er sich mit «grossen Geistern des 20. Jahrhunderts» (dem Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker, dem Philosophen Karl Popper, dem Systemtheoretiker Francisco Varela, dem Hirnforscher John C. Eccles und anderen), um sich neue Erkenntnisse anzuhören (etwa zum Zusammenhang von Einsteins Denkkraft und seiner Gehirngrösse) und diese mit buddhistischen Anschauungen in Einklang zu bringen.
Oft wird in diesen Runden Gegensätzliches nur angedeutet; sobald es heikel würde oder man sich mit konkreten Problemen befassen müsste, schweigen die Wissenschaftler oder wendet sich der Dalai Lama einem neuen Thema zu. Als dieser am Zürcher Symposium auf die nur indirekt gestellte Frage nach der Reinkarnation hin darlegte, dass es gemäss der «buddhistischen Wissenschaft» einem menschlichen Geist möglich sei, mit einem anderen Geist, der sich nicht in einem Körper befinde, Kontakt aufzunehmen, erfolgte keine Reaktion (das Plenum durfte sich entgegen den universitären Gepflogenheiten ohnehin nicht äussern). Scheuten die Wissenschaftler Widerspruch und Auseinandersetzung? Oder gestaltet sich so ein Gespräch unter geläuterten Geistern?
Vornehme Kunstlehre
«Buddhistische Wissenschaft» - was für westlich und christlich geprägte Ohren wie ein Oxymoron klingt, ist für den Dalai Lama keines. Der Buddhismus ist kein dogmatisches Glaubensgebäude, keine klassische Ideologie, keine einheitliche Weltanschauung. Wesentlich geht es ihm um die Läuterung des Geistes, das Zügeln der Begierden, um grenzenlose Güte und Wohlwollen gegenüber jedem lebenden Wesen. Anfänglich war er, schreibt Max Weber in seiner Religionssoziologie, eine «spezifisch vornehme […], spezifisch unpolitische und antipolitische […] religiöse Kunstlehre eines wandernden, intellektuell geschulten Bettelmönchtums», die niemals versucht habe, die soziale Ordnung in der Welt zu ändern. Das ist er im Kern geblieben.
Der Buddhismus ist eine strikt individualistische Heilstechnik, welche primär die Überwindung der eigenen Verstrickung in die Welt zum Ziel hat. «In diesem Körper, der mit Denken und Unterscheidungsvermögen ausgestattet ist, ist die Welt und die Entstehung der Welt und der Pfad zur Aufhebung der Welt», sagt Buddha.
Meditieren gegen das Dilemma
«Buddhistische Wissenschaft» ist also weniger innerer Widerspruch denn Konfliktprävention im Dienste der Harmonie. Der Lamaismus - die tibetische Variante des Buddhismus - kann sich aufgrund seiner Flexibilität konfliktfrei auch mit den modernen Naturwissenschaften amalgamieren, wenn es denn der individuellen Erlösung dient. Zwar übt der Dalai Lama an den Naturwissenschaften vorsichtig Kritik: In der Tat haben sie ein Objektivitätsproblem (und zwar generell, nicht nur bei der Untersuchung der Natur des Menschen, wie der Dalai Lama annimmt), weil sie glauben, Realität objektiv erfassen zu können, indem sie die Subjektivität des Untersuchten (und vor allem des Untersuchenden) ausschalten.
Doch dass dieses Dilemma mit buddhistischen Meditationstechniken gelöst werden kann, wie der Dalai Lama in seinem neuen, autobiografisch gefärbten Buch «Die Welt in einem einzigen Atom» diffus anregt (das dieser Tage im Berliner Theseus Verlag erscheint), ist mehr als fraglich; einmal mehr weicht er der wirklichen Auseinandersetzung mit einem konkreten Problem aus. «Glauben Sie, dass Roboter Bewusstsein hervorbringen können?», fragte der Computerwissenschaftler Rolf Pfeifer am Zürcher Symposium. Die Antwort des Religionsführers: «Das ist eine offene Frage.»
Solange Wissenschaft nicht rein materialistisch auftritt und also jeglichen Geist auf Materie reduziert, ist sie dem Dalai Lama willkommen. «Als sich mein Verständnis der Wissenschaften vertiefte, wurde mir nach und nach bewusst, dass viele Bereiche des traditionellen buddhistischen Denkens, soweit sie das Verständnis der materiellen Welt betreffen, im Vergleich zu den modernen Wissenschaften nur lückenhafte Erklärungen und Theorien bieten», schreibt er lernwillig. «Sollte die Wissenschaft abschliessend nachweisen können, dass gewisse Behauptungen des Buddhismus falsch sind, müssen wir die Erkenntnisse der Wissenschaft annehmen und überholte Anschauungen revidieren.» Zeugen solche Sätze, die aus dem Munde einer traditionellen Christin oder eines Mohammedaners nahezu undenkbar wären, von toleranter Weitsicht oder einer listigen Strategie der Anbiederung oder beidem? In den Ohren eines Naturwissenschaftlers jedenfalls, zumal eines spirituell interessierten, müssen sie erfreulich klingen.
Die Aufgeschlossenheit des Dalai Lamas gegenüber den Naturwissenschaften geht so weit, dass er seine Mönche immer wieder für seltsame neurowissenschaftliche Experimente zur Verfügung stellt, welche die positiven Auswirkungen der Meditation beweisen wollen. So werden dieser Tage mehrere der Meditationsspezialisten, die er in die Schweiz mitgebracht hat, an der Psychiatrischen Universitätsklink Zürich mittels des Elektroenzephalogramms (EEG) untersucht. Wie bereits frühere EEG-Messungen ergeben haben, hat sich das viele Meditieren offenbar auf die mönchischen Hirnströme niedergeschlagen: «Ihre Synchronizität und Frequenzanteile sind verändert. So haben sie zum Beispiel mehr Alphawellen, was man mit erhöhter Entspannung in Zusammenhang bringen kann», sagt der Neuropsychologe Michael Kometer, der die Mönche mituntersucht.
Kann man diese Erkenntnisse für die psychiatrische Praxis und gar neue Therapieformen nutzen? «Nicht direkt», räumt Kometer ein, der selber regelmässig meditiert, «zwischen den EEG-Messungen und psychischen Veränderungen gibt es keinen unmittelbaren Zusammenhang. Aber nun ist bewiesen, dass Meditation die psychische Gesundheit verbessert. Man gewinnt geistige Freiheit, man muss nicht immer unmittelbar auf alles reagieren. Das Selbstkonzept verändert sich, man wird entspannter, die emotionale Labilität nimmt ab.»
Wenn Lamaismus und Neurowissenschaften sich wie in Zürich in wohlwollender Einigkeit verbinden, treffen sich zwei vom Zeitgeist umschmeichelte Phänomene auch zum gegenseitigen Vorteil. Der Dalai Lama demonstriert mit den Naturwissenschaftlern publizitätsträchtig seinen Modernismus, und diese wiederum können sich von einer anderen Seite zeigen: Sie sind nicht nur exakte Rechner, sondern widmen sich auch höheren Sinnfragen.
Doch den individualistischen Ansatz, dem beide tendenziell folgen, indem sie das Soziale ausblenden, soll man nicht mit Egoismus verwechseln. Die gegenseitige mitfühlende Bereicherung, die sich in unverbindlichen Weltweisheiten niederschlägt, die sowohl in einem tibetischen Kloster als auch in der Aula einer westlichen Universität ihren Platz finden, soll schliesslich das Gute im Allgemeinen befördern: «Heute, im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, können sich Wissenschaft und Spiritualität näher kommen als je zuvor. Sie können sich auf einen gemeinsamen Weg begeben, der die einzigartige Chance in sich birgt, die Menschheit darin zu unterstützen, den Herausforderungen der Gegenwart zu begegnen. Auf diesem Weg sind wir alle miteinander verbunden. Möge jede und jeder Einzelne als Mitglied der menschlichen Familie die moralische Verpflichtung annehmen, diesen gemeinsamen Weg zu verwirklichen», spricht Seine Heiligkeit. *