Mexiko: Der Kampf gegen die Winddiebe

Nr. 21 –

Die Regierung will mit Megaprojekten den armen Süden in den modernen Norden integrieren. Indigene Völker wollen dagegen ein «anderes Mexiko».

Hört man Carlos Manzo zu, wie er über die Tierwelt, die Artenvielfalt, die Pflanzen mit einzigartiger Heilkraft, die Bäuerinnen und Fischer erzählt, die immer noch nach den Traditionen ihrer Ahnen leben - dann glaubt man plötzlich, auf dem Isthmus von Tehuantepec, dem engen Landstreifen zwischen dem Atlantik und dem Pazifik im Süden Mexikos, hätte einmal das Paradies sein können.

Carlos Manzo, ein Leader der hier lebenden indigenen ZapotekInnen, ist aber mit einer ganz anderen Realität konfrontiert. Er steht nur wenige Meter neben drei Meter tiefen, vierzehn auf vierzehn Meter grossen Gruben, worin tausende von Tonnen armierten Betons versenkt sind. Auf den ersten Blick denkt man an eine Befestigungsanlage. Die schmalste Stelle des amerikanischen Kontinents nördlich der Landenge von Panama - der Pazifik und der Atlantik liegen nur noch 220 Kilometer auseinander - ist tatsächlich von besonderer Bedeutung. Der Wind bläst hier mit bis zu 180 Stundenkilometern. In den Betonfundamenten werden Windmaschinen verankert, welche die Wucht des Windes auffangen und in Strom umwandeln. Sieben etwa dreissig Meter hohe Windmühlen sind bereits in Betrieb. Einen Park von mehr als 2000 solcher Maschinen wollen spanische und französische Firmen in diesem Windkorridor errichten.

«Sind das Windmühlen oder Monster?» Don Quijotes Frage stellte hier nach einem Besuch der Baustelle in der Siedlung Venta der Sprecher der zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung, Subcomandante Marcos. Der vermummte Rebellenführer hat Anfang 2006 das benachbarte Chiapas verlassen, wo die Befreiungsbewegung EZLN 1994 in einem bewaffneten Aufstand auf die vergessene Welt der Indigenen im Süden Mexikos aufmerksam gemacht hatte. Jetzt befindet sich Marcos auf einer Reise durch ganz Mexiko. Er nützt den Präsidentschaftswahlkampf, der am 2. Juli entschieden wird, für eine «andere Kampagne». Er will in Mexiko eine breite Opposition gegen die «gewaltsame Entwicklung von oben» aufbauen. Die Antwort auf die in Venta gestellte Frage ist für Marcos eindeutig: «Ja, es sind Monster. Eine weitere kostbare Region unseres Landes soll zerstört werden, diesmal wegen der Luft. Nach der Privatisierung des Bodens und des Wassers soll nun auch die Luft zur Ware gemacht werden. Auch den Wind wollen sie uns klauen! Wer hätte sich das auch nur im Traum vorstellen können?»

Bauern betrogen

Empörung, aber auch Ratlosigkeit herrscht unter den etwa vierzig Campesinos, die sich in Venta zu einer Protestversammlung eingefunden haben. Die ausländischen Firmen, so berichten die Bauern, verhandelten nicht mit dem Dorf, das vor dem Gesetz weiterhin über das Gemeindeland bestimmen kann. Stattdessen soll jeder einzelne Bauer einen Pachtvertrag von dreissig Jahren unterschreiben. Pro Hektar Land und Jahr würden windige 160 Franken bezahlt, ein Bruchteil dessen, so rechnen die Campesinos vor, was der gleiche Boden mit einer guten Ernte einbringen könnte. «Wir werden von den Behörden unter Druck gesetzt, sind nicht informiert. Viele, die unterschrieben haben, wurden einfach betrogen», meint ein Bauer resigniert. «Wir kämpfen tatsächlich gegen Monster.»

Der Indigenen-Leader Manzo versucht, die Campesinos in ihrem Widerstand zu stärken: «Das Projekt ist illegal. Die Bevölkerung wurde nicht befragt. Studien über die Umweltverträglichkeit lieferten mexikanische Unternehmen, die erst kürzlich gegründet wurden und als reine Strohmännerfirmen dienen.» Manzo hat Erfahrung. Er kommt aus der benachbarten, rund 15 000 EinwohnerInnen zählenden Fischersiedlung Union Hidalgo. Dort ist es ihm zusammen mit den lokalen Fischern gelungen, ein anderes Grossprojekt zu stoppen. Im Golf von Tehuantepec plante die US-amerikanische Crevettenexportfirma Ocean Garden eine industriell betriebene Zuchtanlage. Eine ganze Lagune hätte privatisiert werden sollen. Mit dem massiven Einsatz von Chemikalien und Antibiotika sollen die in den USA und Japan begehrten Jumbocrevetten produziert werden. Die Fischer konnten den Behörden in Mexiko glaubhaft darlegen, dass ihre Fanggründe und die lebensnotwendigen Mangrovenwälder der Lagune in Gefahr wären.

Das erste Projekt der Firma ist nun auf Eis, kann aber unter einem anderen Namen jederzeit wieder neu aufgelegt werden. Der Gemeindepräsident von Union Hidalgo hat sich als Strohmann des Unternehmens zur Verfügung gestellt. Er ist ein Mann der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), jener Partei, die Mexiko bis 2000 während mehr als siebzig Jahren regiert hat, aber etwa den hiesigen Bundesstaat Oaxaca weiterhin unter ihrer Fuchtel hält.

Für ihren Widerstand musste die im Bürgerrat von Union Hidalgo organisierte Opposition einen hohen Blutzoll bezahlen. Seit 2003 wurden drei ihrer Mitglieder von der Polizei erschossen, und vier weitere sind bei mysteriösen Autounfällen ums Leben gekommen. Weil auch die juristischen Instanzen der Gemeinde und des Bundesstaates Oaxaca fest in den Händen der PRI sind, wurden die Gewalttaten bis heute nicht untersucht. Carlos Manzo verbrachte sieben Monate im Gefängnis. Gegen ihn und mehrere Dutzend AnhängerInnen des Bürgerrates laufen unbefristete Haftbefehle, weil sie als «potenzielle Gefahr für die öffentliche Ordnung» gelten. Eine legale Praxis, die heute in den Staaten des Südens, aber auch in ganz Mexiko angewendet wird, um ExponentInnen von sozialen Bewegungen zu kriminalisieren und damit zu neutralisieren.

Arm trotz reicher Biodiversität

Die Projekte von Union Hidalgo und Venta sind Teil dessen, was Präsident Vicente Fox im Jahre 2000 als Plan Puebla Panamá (PPP) vorgestellt hat. Aus der Sicht der Regierung geht es um nichts weniger, als die Gefahr einer Spaltung Mexikos zu verhindern. Ein internes Strategiepapier spricht von zwei Mexikos, die auseinander fallen könnten: «Das, welches sich umschaut und teilnimmt, das Mexiko der USA. Und jenes Mexiko, das in seinem Rückschritt gefangen ist, zusammen mit unseren südlichen Nachbarn (Zentralamerika).» Umfassende Infrastruktur- und Entwicklungsprojekte sollen den Süden Mexikos und die zentralamerikanischen Länder wirtschaftlich integrieren und internationale Investitionen anziehen. Der PPP ist auf 25 Jahre angelegt und sieht ein Investitionsvolumen von zwanzig Milliarden US-Dollar vor.

Im südlichen Mexiko, «das in seinem Rückschritt gefangen ist», leben über ein Viertel der rund 105 Millionen MexikanerInnen und drei Viertel der indigenen Bevölkerung (insgesamt 18 Millionen). Subsistenzwirtschaft ist der Alltag, oft aber ist auch die Grundversorgung nicht garantiert. Paradoxerweise ist aber gerade diese sehr arme Region reich an wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten. Mexikos Süden besitzt eine der grössten Biodiversitäten der Erde, insgesamt kommen hier zehn Prozent der weltweit existierenden Pflanzen und Tierarten vor, die für die Pharmaindustrie und Biotechnologiekonzerne besonders interessant sind. Im Süden Mexikos gibt es eine Vielzahl unerschlossener Süsswasserreserven, deren wirtschaftlicher Wert in der Welt des zunehmenden Wassermangels täglich zunimmt. Mexiko liefert siebzehn Prozent des täglichen Rohölbedarfs der USA, im Süden des Landes liegen weitere unerschlossene Ölvorräte. Attraktiv für den internationalen Tourismus sind die Hinterlassenschaften präkolumbianischer Kulturen, die immer noch lebendigen indigenen Kulturen und natürlich die Strände von Cancún, Acapulco oder Puerto Escondido.

Trockene Kanäle

«Wir sind nicht gegen die Modernisierung, aber wir fordern Mitsprache und gerechte Entschädigung», beteuert Isajas Seferino Martínez. Er gehört zum Volk der Chontal und ist Besitzer eines Restaurants am Strand. Die Strasse, die zu diesem nur von der mexikanischen Bevölkerung besuchten Meeresabschnitt führt, ist in einem kläglichen Zustand - so wie die achtzig Prozent der übrigen von der Bevölkerung täglich genutzten Strassen im südlichen Mexiko. Zügig ausgebaut wird im Rahmen des PPP hingegen die nur wenige Kilometer von Isajas Restaurant vorbeiführende Schnellstrasse Oaxaca-Stadt nach Salina Cruz, Mexikos wichtigem Hafen an der Pazifikküste mit einer grossen Raffinerie der staatlichen Erdölfirma Pemex.

Als die Regierung mit dem Bau der Schnellstrasse begonnen habe, berichtet Isajas, sei der Bevölkerung erklärt worden, bei den Vermessungsarbeiten handle es sich um Massnahmen zur Bereinigung alter Landkonflikte. Viele der so getäuschten BewohnerInnen hätten den Ingenieuren bei den Vermessungsarbeiten geholfen. Die Gemeinden, die ihr Land dann tatsächlich verkauft hätten, seien mit Preisen weit unter dem Wert der Grundstücke abgespiesen worden. Die Schnellstrassen werden für die Ölindustrie und den internationalen Tourismus gebaut. Die Mehrheit der ansässigen Bevölkerung kann sich die gebührenpflichtigen Autobahnen nicht leisten. Zu spüren bekommen sie den hohen sozialen und ökologischen Kosten der Schnellstrassen.

So genannte trockene Kanäle haben für Regierung und Wirtschaft Priorität: Autobahnen und eine Expressbahn sollen im Isthmus die Atlantikküste mit der Pazifikküste verbinden. Das wäre dann auch die kürzeste Verbindung zwischen der US-amerikanischen Ostküste und den asiatischen Märkten und würde den chronisch verstopften Panamakanal entlasten. Zudem ist der Süden Mexikos nach dem 11. September 2001 auch strategisch wichtiger geworden. Die US-Regierung fordert mit dem so genannten Plan Sur, die über 3000 Kilometer lange unkontrollierbare Grenze zwischen den USA und Mexiko faktisch nach Süden zu verlegen. Der Flüchtlingsstrom aus Zentralamerika, der Drogenhandel und das Durchsickern potenzieller Terroristen, so glauben US-ExpertInnen, könnten an der mexikanisch-guatemaltekischen Grenze viel effizienter unterbunden werden.

Mais wird importiert

Mexiko ist mit der Migration gleich dreifach konfrontiert: als Durchgangsland zwischen Zentralamerika und den USA. Dazu kommt die im eigenen Land provozierte Migration. Rund eine halbe Million MexikanerInnen fliehen jedes Jahr in die USA, weil sie in ihrem Land keine gesicherte Arbeit finden. Und schliesslich gibt es das Heer der internen MigrantInnen, die immer zahlreicher aus den indigenen Gemeinden des armen Südens kommen. Schätzungsweise rund zwölf Millionen (oder etwa ein Viertel der erwerbsfähigen Bevölkerung) sind gezwungen, als TagelöhnerInnen fern von ihren Familien und unter sklavenähnlichen Bedingungen einer ungesicherten Arbeit nachzugehen. In Baja California etwa schuften sie auf den Plantagen des Agrobusiness, das Gemüse und Früchte für den Export produziert.

Seit 1994 ist Mexiko Mitglied des Freihandelsabkommens mit den USA und Kanada (Nafta). Als wichtige Voraussetzung für den Beitritt musste Mexiko die Privatisierung von Boden erlauben, was die Abschaffung eines seit der mexikanischen Revolution in der Verfassung verankerten Grundsatzes zur Folge hatte, wonach nur Gemeinden und Privatpersonen Land besitzen konnten. Die Abschaffung von Einfuhrzöllen für Agrarprodukte zog einen massiven Preisverfall der mexikanischen Erzeugnisse nach sich, die mit der höheren Produktivität der stark subventionierten Landwirtschaft der USA nicht mithalten konnten. Millionen von KleinbäuerInnen haben ihre Existenz verloren. Mittlerweile werden im Ursprungsland des Maises dreissig Prozent des Mais- und fünfzig Prozent des Reisbedarfs aus den USA importiert. Die Nahrungsmittelsouveränität des Landes ist gefährdet.

Identität in Gefahr

Wenigstens seine Identität soll Mexiko behalten können. In bilingualen Schulen des Isthmus erfahren indigene Kinder, was ihre kulturellen Wurzeln sind. «Was uns die Grosseltern erzählen», heisst eine Sammlung von Texten, die den SchülerInnen Erbe und Kultur ihrer Vorfahren weitergeben sollen. «Von unseren Vorfahren haben wir gelernt», so steht in dem vom staatlichen Instituto Nacional Indigenista herausgegebenen Heft, «dass unsere Kultur im Land, im Wasser und in der Luft begründet ist. Ohne diese Kultur können wir als indigene Völker nicht überleben.»

Was die schönen Worte im Alltag konkret bedeuten sollten, hat die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation festgehalten. In dem auch von Mexiko unterzeichneten Abkommen heisst es sinngemäss: Indigene Völker, die von Entwicklungsvorhaben betroffen werden, müssen die Ziele und Folgen eines Projekts verstehen und beurteilen können. Sie sollen den kulturellen Gegebenheiten angemessen ausgeführt werden. Konsultationen müssen mit authentischen, das heisst von der Mehrheit der Indígenas anerkannten Organisationen durchgeführt werden.

Ganz offensichtlich werden die Vorschriften dieser Konvention bei der Umsetzung der PPP-Projekte krass missachtet. Die Zerstörung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft seit 1994 und die Massenmigration haben tief greifende Folgen. Die jungen Indigenen verlieren ihre Beziehung zu Land und Boden und sind nicht mehr bereit, für die «Mutter Erde» und ihre Kultur zu kämpfen. Im Jahre 2090 werde Mexiko sowieso der 52. Staat der USA geworden sein, prophezeien zwei bekannte mexikanische Autoren in einer satirischen Bestandesaufnahme ihres Landes. Die Landessprache heisse dann Espanglish. Indígenas und ihre Kulturen existierten nur noch als Exponate in Museen.

Von solchen Szenarien lassen sich Carlos Manzo und der von ihm verehrte Subcomandante Marcos aber nicht abschrecken. Der Widerstand geht für sie unvermindert weiter. Wer auch immer am 2. Juli zum Präsidenten gewählt werden wird, die Indigenen im Süden des Landes haben von ihm nichts zu erwarten. Auch der linke Kandidat Andrés Manuel López Obrador hat erklärt, als Präsident werde er die Grossprojekte im Süden im gleichen Stile weiterführen. Was aber ist die Antwort, die Manzo und Marcos auf das «Mexiko von oben» anzubieten haben? Sie geben zu, das «andere Mexiko», das sie «von unten» aufbauen wollen, brauche noch lange, sehr lange Zeit. Aber, so argumentiert Marcos: «Die Indios haben 500 Jahre in doppelter und dreifacher Ausbeutung gelebt. Ihr Zeitsinn ist ein radikal anderer.»

Wachstum für wenige

Im jüngsten Bericht der Weltbank wird Mexiko als zehntgrösste Wirtschaftsmacht eingestuft, einen Platz besser als im Jahre 2000, gleich nach Kanada, aber noch vor Indien. Gemessen an der durchschnittlichen Kaufkraft jedoch ist das gleiche Mexiko um vier Ränge auf Platz achtzig zurückgefallen, gerade einen Rang vor Botswana. Nur 0,18 Prozent der Bevölkerung seien Aktienbesitzer, stellt die Weltbank fest.

Das heisst: Mexikos Wirtschaft ist in den vergangenen Jahren wohl gewachsen, hat aber nur wenige sehr reich gemacht. Zum Beispiel Carlos Slim, der auf der «Forbes»-Rangliste der reichsten Männer der Welt auf Platz drei vorgerückt ist. Für den Multimilliardär und Bauunternehmer sind die Megaprojekte des «Mexikos von oben», die Infrastrukturprojekte des Plan Puebla Panamá, das grosse Geschäft geworden.