Daniel Schmid (1941-2006): Platz für Schmetterlinge

Nr. 32 –

Er ist der weltweit bekannteste Filmemacher aus der Deutschschweiz, weil seine Filme Wurzeln, aber keine Grenzen haben.

Der Filmemacher Daniel Schmid ist am Wochenende 64-jährig gestorben. Die Filmwelt weilte am Festival von Locarno, wo auch er zu den Habitués gehört hatte, alljährlich kurz aufgetaucht und dann spätnachts an der Bar des «Grand Hotels» anzutreffen war. Das «Grand Ho-tel» von Locarno gibt es nicht mehr. Mit ihm ist eine Welt geschlossen worden, die der Bündner liebte und die er liebevoll pflegte: Die Welt der künstlich betonten Emotionen, die Welt der Überhöhung, die Welt der Inszenierung, des Scheins dessen, was eine Ahnung davon gab, dass hinter dem Wirklichen, daneben, darunter, darüber und mittendrin noch viel Aufregendes verborgen lag. Man musste es nur wachkitzeln, musste daran glauben, dass es zumindest für ein paar Augenblicke sichtbar und also wirklich werden konnte. Er wollte uns schauen lassen und «sognare insieme -cogli altri», wie Fellini ihm das vorgegeben hatte, zusammen mit anderen im Dunkeln sitzen in der gemeinsamen Erwartung, dass etwas Wunderbares geschehen wird.

Jene, die Daniel Schmid kannten, haben von der Herzlichkeit geschrieben, von der Wärme der persönlichen Begegnungen und von persönlichen Erinnerungen. Schmid war ein sanfter Mann, geprägt vom Matriarchat von Mutter und Grossmutter, bei denen er in Flims aufgewachsen war. Das Sanfte war ein Wesenszug, der sich leicht auch in seinen Filmen ablesen lässt. Immer sind sie von Zärtlichkeit beseelt, einer Art Streicheln des in Szene Gehobenen oder einem atemstockenden Innehalten, wenn der Zau-ber sich wie in «Bacio di Tosca» einfach offenbarte. Mit Daniel Schmid konnte man die Zeit vergessen, den Moment als solchen geniessen. Und wenn im Gespräch auch die Last des Wirklichen mit dabei war, des Privaten wie des Globalen, so wog sie auf einmal nicht mehr so schwer.

Unvergessen ist für mich ein Nachmittag auf «seiner» Hotelterrasse in Flims, wo ich hingereist war, um ein Interview am Ort seiner Kindheit zu machen und eintauchte in die Erzählungen, die bis zum Einnachten dauerten. Eben erst war ich auf einer Bergtour ins Bergell unterwegs auf einer ebenso nahrhaften wie traumhaften Route, von der er mir mehrmals vorgeschwärmt hatte, ins Bergell seiner Mutter, in jene Landschaft, der Daniel Schmid in «Violanta» ein filmisches Schaumal errichtete. Die Kamera von Renato Berta, der das Werk Schmids über die Jahre hinweg mitprägte, holte das Bergeller Massiv in Soglio rein und vervielfachte den überwältigenden Eindruck, im Bedrohlichen geborgen zu sein.

Nicht umsonst nannte Berta das, was Schmid machte, «Mise-en-atmosphère». Er hat es als Erster im Schweizer Film gewagt, frei zu spielen, Spiel-Filme zu gestalten. Den Kick hatte ihm sein Freund Rainer Werner Fassbinder gegeben, als er dem Filmstudenten sagte: «Du bist ein verwöhnter Schweizer, du wirst nie einen Film machen, ihr habt euch sowieso immer aus der Geschichte davongestohlen.» Dem zeig ichs, sagte sich der Bündner, und er drehte mit programmatischem Titel «Heute Nacht oder nie!».

«Wenn man etwas wirklich will, so wird man es gegen alle Widerstände schaffen», hat ihm später Douglas Sirk gesagt, der grosse Melodramatiker, den Schmid bewunderte. Und er hat es geschafft: Daniel Schmid ist der weltweit bekannteste Filmemacher aus der deutschen Schweiz, weil er Filme gemacht hat, die Wurzeln haben, aber keine Grenzen kennen, eine Handschrift haben und nicht fernsehkonform stumpf geschliffen sind wie vieles, was man heute zu sehen bekommt.

Schmids Filme sind Filme in Räumen. Da wird Vergangenheit zu Gegenwart («Hors Saison»), da gibt es Landschaften, aus denen Geschichte auftaucht («Jenatsch») und Höhlen, in denen die Toten lebendig werden («Violanta»), oder Häuser, in denen die ganze Welt für einen Abend auf dem Kopf stehen darf («Heute Nacht oder nie»). Ihr Personal sind Dienende seit dem in Venedig gedrehten «Thut alles im Finstern Eurem Herrn das Licht zu ersparen», masslos Leidenschaftliche («La Paloma», «Hécate») oder Menschen, deren Leben Musik ist – wie es das für ihn, den Callas-Verehrer, war («Il bacio di Tosca») –, ein Spiel auch mit fliessenden Grenzen («The Writ-ten Face»). Er, der nicht ein politisch Engagierter war, aber sehr wohl ein Mitleidender an der Dummheit der Politik unserer Zeit, hat das eigene Land in «Beresina» durch ein Spiegelkabinett geschleust.

Daniel Schmid liess in seinen Filmen den Raum stets offen, denn er war überzeugt davon, dass da auch noch Platz bleiben müsse für den Schmetterling, der im letzten Moment ins Bild fliegt. «Jede Realität wird Fiktion im Moment, da sie vorbei ist», sagt Fräulein von Planta in «Jenatsch». Im ersten Lied, das auch das letzte ist im autobiografischen «Hors Saison», fragt Ingrid Caven: «Adonde vas?» Am Anfang ist es die Frage nach dem Ziel der Reise, am Ende die Frage nach dem Horizont im Leben, die Frage nach dem, was bleibt.

Kein anderer Filmemacher in der Schweiz konnte erträumte Bilder in Szene setzen wie Daniel Schmid und uns aufnehmen in seine Atmosphären und herzlich umarmen.

Walter Ruggle ist Leiter der Trigon-Film und hat sich als Filmkritiker einen Namen gemacht.