Durch den Monat mit Andrea Staka (Teil 1): Sind Sie Schweizerin?
Andrea Staka, Sie haben mit Ihrem Film «Das Fräulein» in Locarno den Goldenen Leoparden gewonnen und jetzt neu den Heart of Sarajevo Award. Wie geht es Ihnen bei so viel Erfolg?
Es ist ein total schönes Gefühl. Nach vier Jahren Auseinandersetzung mit dem Film, den Figuren und einem langen Weg mit aufregenden Momenten, der aber auch ein Kampf war, so eine Anerkennung zu bekommen: Das tut wirklich gut. Das motiviert mich, auf meine Art weiterzumachen. Einen Film realisieren ist eine emotionale Gratwanderung, man weiss bis zum Schluss nicht hundertprozentig, wie er wird. Wenn er dann gut ankommt, ist das wie eine Krönung.
Was war für Sie die bisher schönste Reaktion auf den Film?
Dass die Leute emotional sehr berührt waren vom Film, auch Männer. Das ist bei Filmen über Frauen immer noch ein Thema. Wobei mich Filme mit männlichen Hauptfiguren ja auch berühren. In Sarajevo haben Menschen reagiert, die da geblieben sind, also nicht dieselben Erfahrungen haben wie die Figuren im Film. Nach der Projektion in Sarajevo kam eine Frau auf mich zu, sie hat geweint und sich bedankt. Ihre Mutter war lange in der Schweiz, hatte ein ähnliches Schicksal. Da habe ich gemerkt: Es gibt nicht so viele Filme über Frauen, die entwurzelt sind und trotzdem versuchen, ihr Leben in den Griff zu bekommen.
Was ist für Sie der Unterschied zwischen dem Schweizer Preis und dem von Sarajevo?
Locarno und Sarajevo sind Orte, die mit mir zu tun haben. Meine Wurzeln sind in Bosnien, ich bin aber Schweizerin. Deshalb bedeutet es für mich sehr viel, an beiden Orten einen Preis erhalten zu haben. Locarno und Sarajevo sind zwei wichtige Festivals; in Sarajevo habe ich spannende Filmleute aus der ganzen Welt kennengelernt.
Die Figur der Ana in «Das Fräulein» kommt aus Sarajevo – was für eine Beziehung haben Sie zu dieser Stadt?
Meine Mutter stammt aus Sarajevo, ich war als Kind jedes Jahr zwei Wochen da – allerdings nie während des Krieges –, ich habe da Familie. Deshalb ist es ein bisschen wie «nach Hause kommen». Obwohl: In Sarajevo leben wäre etwas anderes. Aber vom Gefühl her ist Sarajevo eine Stadt, die mir vertraut ist, die Strassen, Cafés oder Ausflugsorte rufen Erinnerungen wach. Viele meiner Regiekollegen leben da.
Sie laufen unter so vielen Chiffren: Zürcherin, Bosnierin, Kroatin, Schweizerin – was trifft am ehesten zu?
Ich bin Schweizerin – in der Schweiz eine Zürcherin mit Wurzeln in Sarajevo und Dubrovnik. Und jetzt lebe ich auch noch in New York. Es ist also relativ kompliziert ... Ich habe das wieder gespürt, als ich diese Preise gewann. Die Schweizer sagten, die Gewinnerin sei eine Schweizerin, die Bosnier eine Bosnierin, die Kroaten eine Kroatin. Das trifft ja alles irgendwie zu, ich trage diese Kulturen in mir. Es gab Zeiten, in denen ich mich entscheiden wollte, in der Schulzeit; damals war ich in der Klasse die Jugoslawin. Doch die Schweiz hat sich seither verändert. Was heisst schon SchweizerIn sein? Heute kann man mit mehreren Kulturen SchweizerIn sein, das finde ich extrem schön.
Ist es heute ein Vorteil, mehr als nur einen kulturellen Hintergrund zu haben?
Je mehr man weiss und kennt, desto reicher ist das Leben, Es ist nicht immer einfach, es gibt Tage, an denen wünsche ich mir, ich könnte sagen, ich bin aus einer Stadt, aus einem Land, meine ganze Familie lebt dort und ich auch – Punkt. Doch es ist ein Reichtum, sich in drei Sprachen mit drei verschiedenen Menschen verständigen zu können.
In welcher Sprache denken Sie – und wie zählen Sie?
Den Test mache ich heute noch oft mit mir selbst. Ich versuche mich dabei zu erwischen, in welcher Sprache ich zu zählen beginne – doch es geht nicht. Ich denke zweisprachig, und ich zähle auch so: Schweizerdeutsch und Bosnisch-Kroatisch. Es kommt drauf an, wo ich mich gerade befinde und über was ich nachdenke. Sogar Englisch liegt mir gut. Das ist ein neueres Phänomen: Menschen, die zwischen mehreren Kulturen mit mehreren Sprachen leben und ganz natürlich switchen. Vor zwanzig Jahren ging es noch darum, wo man hingehört und welchen Pass man abgeben musste, wenn man eine Staatsbürgerschaft annehmen wollte. Heute, mit der EU, den Migrations- und ökonomischen Bewegungen, ist es selbstverständlicher geworden, dass man mehrere hat.
Andrea Staka, geboren 1973 in Luzern, lebt heute in Zürich und New York. Ihr Studium an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich schloss sie 1998 mit dem erfolgreichen Kurzfilm «Hotel Belgrad» ab. Neben mehreren weiteren Kurzfilmen entstand 2000 der Dokfilm «Yugodivas». Ihr Langspielfilmdebüt «Das Fräulein» war der erste Schweizer Film seit 21 Jahren, der den Goldenen Leoparden gewann.