Silvio Huonder: Die Unentschlossenheit der Vierzigjährigen

Nr. 43 –

Wie in seinem Erstling «Adalina» beschäftigt sich der 52-jährige Autor in «Valentinsnacht» mit dem Lebensgefühl einer Generation.

Dieses Buch kann zur Qual werden. «Paulmann, tu endlich was!», möchte man der Hauptfigur zurufen. Da steigt bei minus zwanzig Grad die Heizung aus, im Park geht ein Hund auf ein Kind los, Paulmann rammt ein parkiertes Auto. Es wird eine ungewollte Schwangerschaft bekannt gegeben und sogar ein kleiner Finger abgeschnitten. Aber Fedo Paulmann reagiert nicht. Man kennt den Charakter bereits aus Huonders Erstling «Adalina»: Auch Johannes Maculin hätte man gern ab und zu einen Schubs gegeben. Dieser ist 38 Jahre alt. Paulmann in «Valentinsnacht» wird vierzig. Beide üben den Beruf aus, den sie sich erträumt haben - der eine ist Zeichner, der andere Meteorologe -, weit gebracht haben sie es darin aber nicht. Die langjährige Beziehung wurde entweder ohne Streit und Tränen aufgelöst oder tröpfelt noch vor sich hin, ohne Leidenschaft, ohne Ziel. Man könnte sie zur «Generation der Unentschlossenen» zählen, mit der sich der in Berlin lebende Schweizer Schriftsteller gern befasst. Ewig jung bleiben, heisst ihr Wunsch. Sie fällen nur schwer Entscheide und übernehmen dementsprechend ungern Verantwortung. Das schmutzige Geschirr türmt sich weiterhin in der Küche, und regelmässig wird eine Nacht lang durchgesoffen. «Ich weiss es nicht», lautet Paulmanns Lieblingssatz.

Wohin fällt der Bleistift?

Auf eine Kontaktanzeige hin hat er sich im Kinofoyer mit einer fremden Frau verabredet. Den Film sieht Paulmann allerdings mit einer andern, der Filmcutterin Katarina, ohne sich dessen bewusst zu sein. Ein kurzes Bettabenteuer folgt. Die Verwechslung stellt sich erst am nächsten Morgen heraus, als sich die versetzte Anzeigeninserentin bei Paulmann meldet. Er sieht Katarina wieder. Schon beim dritten Treffen macht sie ihm, der sein WG-Zimmer wegen Bauarbeiten für einige Zeit verlassen muss, das Angebot, bei ihr zu wohnen. Mit klar abgesteckten Spielregeln allerdings. Zu Berührungen kommt es vorerst nicht mehr. Als Katarina ihm bald darauf mitteilt, dass sie in jener Nacht schwanger geworden ist, schafft es Paulmann nicht, Stellung zu beziehen. Stattdessen lässt er etwa den auf die Spitze gestellten Bleistift eine halbe Stunde lang immer wieder neu fallen und versucht zu erraten, auf welche Seite er kippt. Es sind keine grossen Gefühle oder gar ethischen Entscheidungen, die Katarina das Kind schliesslich austragen lassen. Vielmehr die Unentschlossenheit der werdenden Eltern.

Die Frage nach der Verantwortung und die Angst vor den Folgen lassen sich in Huonders erstem Roman noch auf ein dramatisches Ereignis in der Jugend zurückführen. Johannes Maculins wilde Cousine Adalina, seine erste Liebe, stirbt sechzehnjährig bei einem Motorradunfall mit einem andern jungen Mann. Aus Eifersucht hatte Maculin der Cousine seinen Helm nicht ausgeliehen. Fortan begleitet ihn das Gefühl, an ihrem Tod schuldig zu sein. Eine solche Geschichte gibt es in «Valentinsnacht» nicht.

Hingegen ist Fedo Paulmann fasziniert vom Wetter, seit er zwölf Jahre alt ist. Das macht Sinn. In der Meteorologie, wo sich die Un-Vorhersehbarkeit der Ereignisse durch Statistiken in Schranken halten lässt, fühlt er sich wohl: «Die starke treibende Kraft hinter der Beschäftigung mit der Meteorologie ist nicht nur, wie bei jeder Wissenschaft, der reine Erkenntnisdrang, sondern die Möglichkeit der Voraussage. Es gibt nichts, was uns Menschen mehr interessiert als die Zukunft.» Im Privatleben überlässt Paulmann die Entscheidungsmacht dem Zufall, die Wetterprognosen hingegen hat er im Griff. Vor dem Küchenfenster ist eine Wetterstation angebracht, und in der Freizeit nimmt er an einem Wetterturnier im Internet teil, wobei es darum geht, das Wetter des kommenden Monats möglichst genau vorauszusagen. Paulmann wird immer besser; gegen Ende des Romans führt er die Rangliste an.

Am diesjährigen Wettlesen in Klagenfurt hat Silvio Huonder aus «Valentinsnacht» vorgelesen. Iris Radisch verteidigte den Text zwar vehement, insgesamt aber war die Jury des Bachmann-Preises nicht überzeugt; Romanauszüge haben in Klagenfurt ohnehin einen schweren Stand. Und bei der ersten öffentlichen Lesung aus «Valentinsnacht» Ende September in St. Gallen waren nur gerade sieben Leute anwesend. Natürlich erstaunt es, dass Huonder für die Vernissage eine Provinzstadt aussuchte, zu der er keinerlei biografischen Bezug hat. Der Schriftsteller lächelte aber selbstbewusst ins Schweinwerferlicht und erzählte, dass 1997 zur ersten «Adalina»-Lesung nur drei Gäste erschienen waren. Zwei davon hätten sich im Raum geirrt und seien nur aus Anstand geblieben. Wenige Wochen später las Huonder bereits vor vollen Reihen. «Adalina» wurde von der Kritik begeistert aufgenommen. Auch wenn Form und Sprache seines Romans später als konservativ bezeichnet wurden und der Jubel um «Adalina» wohl auch mit einer damals fehlenden Konkurrenz zusammenhing. In der Schweizer Literatur war wieder einer aufgetaucht, der eine Geschichte zu erzählen hat und zudem präzis recherchiert und beobachtet. Diese Eigenschaften hat Silvio Huonder, der als Hörspiel- und Theaterautor tätig ist, nicht verloren. «Valentinsnacht» lässt sich bis spät in die Nacht in einem Zug durchlesen. Auf die Gefahr hin allerdings, dass man nachher nicht gut schlafen kann.

Kleine Ausflüchte fehlen

Huonder erzählt Paulmanns Geschichte emotionslos. Die Minustemperaturen des Berliner Rekordwinters und der graue Himmel tragen zur Stimmung bei. Passend auch die Kulisse: Paulmann bewegt sich im Berliner Randbezirk mit Schlachthof, Einkaufszentren, verwahrlosten Wohnblocks und Angst einflössenden Gangs im Hinterhof. «Valentinsnacht» ist sehr sorgfältig und dicht aufgebaut. Bisweilen würde man sich eine Auflockerung wünschen. Huonders neustem Roman fehlen die kleinen Ausflüchte, die einen in «Adalina» immer wieder zum Lachen bringen und den Roman so lesenswert machen: zum Beispiel Adalinas Geschichte, wie Gott Mann und Frau erschuf, oder die wunderbar detaillierte Erzählung von der Fütterung der Schweine bei Onkel Fons.

Gegen Schluss des Romans will man Huonder einfach nicht mehr glauben, dass Paulmann nicht endlich die Nerven verliert, Katarina seine Liebe gesteht - die LeserInnen wissen schon lange, wie es um seine Gefühle steht - und die Hochschwangere nicht ins Hotel bringt, als bei minus zwanzig Grad die Heizung aussteigt. Als das Kind dann endlich auf der Welt ist, entschuldigt sich Paulmann als Erstes bei ihm. Wofür er dies tut, erfahren die LeserInnen nicht mehr. Dafür, dass er nicht weiss, wie er das Kind anfassen soll? Dass er nicht sofort Ja zu ihm gesagt hat? Dass das unschuldige Kind in die qualvolle Welt der knapp vierzigjährigen StädterInnen geboren worden ist?

Silvio Huonder: Valentinsnacht. Nagel & Kimche, Zürich/München 2006. 192 Seiten. Fr. 32.50