Einheitskasse: Das Beispiel Dänemark
In einem skandinavischen Land ist längst erprobt, was hierzulande von vielen für unmöglich gehalten wird - ein funktionierendes Gesundheitssystem mit staatlich verwalteter Einheitskasse.
Samsø liegt im Kattegatt zwischen Dänemark und Schweden, rund eine Stunde Schiffsreise vom dänischen Festland entfernt. Die 4100 EinwohnerInnen der Insel haben einen Luxus, von dem Gemeinden dieser Grösse in vielen anderen europäischen Ländern wohl nur träumen können: ein eigenes Krankenhaus. Über alle Sparrunden hinweg hat Dänemark am Prinzip einer möglichst lokal verankerten Gesundheitsvorsorge festgehalten. Das Krankenhaus von Samsø ist Dänemarks kleinstes und liegt in Tranebjerg, dem Hauptort der lang gestreckten Insel.
Die Krankenschwester Karen Bendtsen stammt eigentlich aus Kopenhagen, vermisst die Hauptstadt aber nicht: «Wir haben hier ein fantastisches Arbeitsklima. Ich könnte mir nicht vorstellen, wieder an ein Mammutkrankenhaus zu wechseln.» Gerade hat Fag og Arbejde, die Gewerkschaft der im Gesundheitswesen Beschäftigten, das Krankenhaus in Samsø zum Praktikumsplatz des Jahres 2006 gekürt. Vierzig Personen arbeiten am Samsø Sygehus, das über eine allgemeinmedizinische und chirurgische Ambulanz und eine Geburtsabteilung verfügt. Probleme, neues Personal zu rekrutieren, gibt es nicht. Die drei fest angestellten Ärzte praktizieren schon über zehn Jahre hier. FachärztInnen, beispielsweise für Augenmedizin oder Gynäkologie, gehen tageweise die Leute behandeln. Können akute Fälle nicht behandelt werden, gibt es die schnelle Hubschrauberverbindung zu einer Universitätsklinik auf dem Festland. Die letzte Untersuchung über die Zufriedenheit der PatientInnen zeigt kaum zu übertreffende Werte. Auf einer fünfstelligen Skala ordnen neunzig Prozent der Befragten ihre Erfahrung mit der Behandlung hier als hervorragend oder gut ein. Schlecht oder inakzeptabel versorgt fühlt sich niemand.
Auf solche Untersuchungen, die regelmässig an allen Krankenhäusern im Land vorgenommen werden, wird in Dänemark grosser Wert gelegt. Sie zeigen, dass die DänInnen mit ihrem Gesundheitswesen recht zufrieden sind. Es ist zudem ein leicht überschaubares System, bestehend aus einem staatlichen Gesundheitswesen mit einer aus Steuern finanzierten Einheitskrankenkasse.
Hauptsache, es funktioniert
Dänische Zeitungen hatten deshalb in den letzten Monaten auch ein Vermittlungsproblem, wenn sie ihren LeserInnen erklären wollten, worum es im Nachbarland Deutschland eigentlich geht, dessen Regierung den Finanzierungsdschungel des Gesundheitssektors durch eine «Gesundheitsreform» zu lichten versucht (und nur neue Unübersichtlichkeit schafft). Und sie hätten ein ganz ähnliches Problem, wollten sie ihren LeserInnen die Initiative für eine schweizerische Einheitskasse näher bringen. Denn die funktioniert hier seit mehr als drei Jahrzehnten. Individuelle Krankenversicherungsbeiträge gibt es nicht, und die Frage, wie viel denn nun von ihrer Einkommenssteuer für das Gesundheitswesen abgezweigt wird, interessiert die DänInnen herzlich wenig. Hauptsache, das System funktioniert.
Wenn es in den letzten Jahren hier und da knirschte und die Wartelisten für bestimmte Behandlungen oder Operationen angewachsen sind, so liegt das nicht an der Einheitskasse. Diese wird nicht einmal von PolitikerInnen des äussersten rechtskonservativen Randes in Frage gestellt, weil sie sich gut bewährt hat. Die Probleme, die es hier (wie überall) gibt, haben ihre Ursachen in falschen politischen Weichenstellungen, in der staatlichen Sparpolitik oder sind schlichtweg das Resultat von Fehlplanungen. So hat beispielsweise die zu geringe Zahl an Ausbildungsplätzen zu einem empfindlichen Mangel an ÄrztInnen geführt - den man nun mit medizinischem Personal aus Deutschland und Polen, zum Teil auch aus Spanien und sogar Kuba stopfen muss.
Der Weg zur Einheitskasse
In der Einheitskasse sind alle BürgerInnen des Königreichs, alle ins Land kommenden Flüchtlinge oder vorübergehend hier Wohnenden anderer EU-Staaten automatisch versichert - ohne Rücksicht auf die Dicke ihrer Brieftasche. Das Gesundheitswesen ist Teil des staatlichen sozialen Sicherungssystems, das alle skandinavischen Länder prägt und dessen Grundlagen in den 1930er Jahren von den SozialdemokratInnen gelegt worden waren.
Damals waren in Dänemark die ab 1870 als Selbsthilfekassen entstandenen und genossenschaftlich organisierten Krankenkassen mehr und mehr unter gesetzliche Kontrolle genommen und staatlich gefördert worden. Diese ersten Krankenkassen - sie sicherten Minderbemittelte gegen Bezahlung einer wöchentlichen Abgabe gegen die wirtschaftlichen Folgen von Krankheit ab - waren ab 1892 gesetzlich verankert worden und Teil der damaligen «Armenpolitik». Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Abkommen der einzelnen Krankenkassen mit den ÄrztInnen zunehmend zentralisiert und schliesslich landesweit vereinheitlicht; 1960 folgte die Zwangsmitgliedschaft in einer Kasse. Als dann 1973 die Einzelkrankenkassen von der Einheitskasse Sygesikring abgelöst wurden, war das nur mehr ein praktisch-organisatorischer Schritt, der Kosten und Verwaltungsaufwand sparte.
Neben der Sygesikring gibt es eine Reihe privater Versicherungen, denen aber weniger als ein Zehntel der 5,5 Millionen DänInnen angehören. Hierbei handelt es sich um Zusatzversicherungen, die etwa die Eigenbeteiligung bei Zahnbehandlungen oder Arzneimittelkosten bezahlen. Dort versichert sind zu über drei Viertel Beschäftigte von Unternehmen, die auf diese Weise ihre Belegschaften an sich binden wollen und damit auf dem leer gefegten dänischen Arbeitsmarkt um Arbeitskräfte werben.
Vielerorts aber lehnen die Gewerkschaften die Zusatzversicherungen ab. So hat sich beispielsweise der Betriebsrat der Baustofffirma Rockwool in Vamdrup gegen eine Zusatzversicherung ausgesprochen: Diese sei das Geld nicht wert. Bei Lego in Billund schwört man hingegen auf die Zusatzversicherung, die Teil eines umfassenden betrieblichen Sozialprogramms ist, und den Beschäftigten eine etwa notwendige Operation innert zehn Tagen in einem Privatspital garantiert, das der Versicherung gehört.
Jakob Kjellberg vom Kopenhagener Institut für Gesundheitswesen steht den Zusatzkassen kritisch gegenüber. Sie seien nicht nur überflüssig, sondern hätten sich künstlich einen Markt geschaffen. Da es anfänglich kein Interesse für solche Versicherungen gab, hätten sie private Krankenhäuser etabliert und benutzten diese und eine mögliche schnellere Behandlung nun als Argument für den Verkauf ihrer Policen. Die massiven Defizite der Privatkliniken würden nur durch die satten Gewinne der Versicherungen wieder ausgeglichen. Kjeld Møller Pedersen, Professor für Gesundheitsökonomie an der Uni Odense, teilt diese Meinung: «Man erfindet neue Produkte, um damit Geld zu verdienen.»
Keine dieser Zusatzversicherungen hilft im Übrigen, sich in einem öffentlichen Spital ein Einzelzimmer oder eine Chefarztbehandlung zu kaufen. Und auch bei der ambulanten Versorgung kann man sich damit nicht an Warteschlangen vorbeischmuggeln. Dabei macht es keinen Unterschied, dass in Dänemark die ambulanten Leistungen von niedergelassenen, freiberuflich tätigen ÄrztInnen angeboten werden - und nicht wie in den anderen skandinavischen Ländern von einem staatlichen Gesundheitsdienst. Denn die dänischen ÄrztInnen stehen alle in einem Vertragsverhältnis mit dem Nationalen Gesundheitsdienst. Dessen oberstes Organ ist das Gesundheitsministerium, das die praktische Umsetzung der Gesundheitspolitik den Kreisen und Gemeinden übertragen hat. Sie verwalten und finanzieren nicht nur die öffentlichen Spitäler, sondern auch die niedergelassenen Ärzte und Ärztinnen.
Wer als EU-AusländerIn beim Einwohnermeldeamt den neuen Wohnsitz in Dänemark anmeldet, bekommt routinemässig eine Frage gestellt: «Und welchen Hausarzt wollen Sie wählen?» Man muss das nicht und kann sich auch für «freie Arztwahl» entscheiden. Doch diese Freiheit kostet etwa dreissig Euro extra pro Behandlung; ausserdem muss der oder die Kranke in Vorkasse treten, also die Arztrechnung selber bezahlen und dann mit der Einheitskasse abrechnen. Die allermeisten DänInnen haben deshalb «ihren» Hausarzt oder «ihre» Hausärztin.
Dieses System vereinfacht einerseits die Abrechnung. Andererseits gibt es aber auch - und das sehen viele ÄrztInnen so - durchaus medizinische Gründe dafür, dass man sich zuerst an jene wendet, die den oder die PatientIn schon kennen. ÄrztInnen mit einem besonders guten Ruf sind natürlich gefragt. Sie dürfen aber nur dann neue PatientInnen annehmen, wenn sie ihnen innert fünf Tagen auch einen Behandlungstermin geben können. Im Schnitt haben die HausärztInnen 1500 PatientInnen.
Kein Arzt, keine Ärztin kann in Dänemark einfach eine Praxis eröffnen. Über die Niederlassung entscheiden Komitees, die mit VertreterInnen der nationalen Gesundheitsbehörden und der Ärzteschaft besetzt sind. Diese Komitees haben wiederholt Zulassungsbeschränkungen für ausreichend versorgte Gebiete erlassen. Diese Praxis ist neben dem Hausarztsystem ein wesentlicher Grund dafür, dass die Gesundheitskosten in Dänemark nicht so explodiert sind wie in anderen europäischen Ländern. Eine weitere Kostenbremse: Auch über die Höhe der Honorare für die niedergelassenen ÄrztInnen entscheidet ein solches von beiden Seiten besetztes Verhandlungskomitee.
Grössere Freiheit als bei der Arztwahl für ambulante Behandlung haben die DänInnen, wenn sie ins Spital müssen: Sie können zwischen allen öffentlichen Spitälern wählen. Auf seiner Internetseite (www.sundhed.dk) veröffentlicht das dänische Gesundheitsministerium eine ständig aktualisierte Liste mit Wartezeiten für Operationen, sodass man sich selbst eine passende Klinik aussuchen kann. Sollte dann eine vorgegebene Wartezeit vom Krankenhaus nicht eingehalten werden können, können die PatientInnen auch auf Kosten der Einheitskasse in ein privates oder ausländisches Krankenhaus gehen.
Ola Svensson, Oberarzt am Krankenhaus in Slagelse, ist einer von vielen schwedischen Ärzten, die in den letzten Jahren ihr Land verlassen haben und lieber in Dänemark arbeiten. Ein Grund dafür sind die Vorteile, die er als Mediziner im dänischen System sieht, das - anders als das staatlich zentrale Gesundheitswesen in Schweden - die organisatorische Zwischenebene einer Einheitskasse kennt: «In Dänemark muss ich mich viel weniger um bürokratischen Kram kümmern.» Während in Schweden die Verwaltung oft dreissig Prozent der Arbeitszeit ausmache, bleibe in Dänemark mehr Zeit für die PatientInnen. Oder Zeit für mehr PatientInnen. Was sich auch im Verdienst bemerkbar mache, der für ihn nun doppelt so hoch sei.
Dafür ist der deutsche Allgemeinmediziner Christian Ludicke vor drei Jahren nach Schweden gewechselt. Er hat eine der Stellen besetzt, die durch den Umzug schwedischer Ärzte nach Dänemark oder Norwegen frei geworden sind - und sogar einen Einkommensverlust in Kauf genommen: Dafür sei er nicht nur dem deutschen «Chefarztunwesen» entkommen, sondern auch einem Kassensystem, das im Ergebnis dazu führe, dass man die PatientInnen nicht mehr zu deren Wohl behandle, sondern ständig auf den Abrechnungskatalog der Krankenkassen schiele. Das staatliche Gesundheitswesen erlaube ihm, sich wirklich um die Kranken zu kümmern: «Ich kann mir eine halbe Stunde Zeit für jeden Patienten nehmen und muss nicht versuchen, noch den letzten Euro aus einem Privatpatienten rauszuquetschen.» Auch das schwedische Modell hat offenbar viele Vorzüge.
Dänische Zahlen
Das steuerfinanzierte Gesundheitswesen Dänemarks beschäftigt rund 100 000 Arbeitskräfte. Die öffentlichen Ausgaben dafür betragen etwa 8,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (Schweden 9,1, Schweiz 11,6). Die Bevölkerung kostet es pro Kopf laut einer Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD 2881 US-Dollar (Schweiz 4077).
Die ambulante Behandlung ist derzeit kostenlos. Die Selbstbeteiligung der BürgerInnen an den Kosten für die Gesundheitsversorgung liegt bei etwa fünfzehn Prozent und umfasst hauptsächlich den Eigenanteil für Medikamente und Zahnbehandlungen (zahnärztliche Leistungen übernimmt der Staat nur bis zu 25 Prozent; Arzneimittelkosten müssen die PatientInnen bis zu einem Betrag von 70 Euro im Jahr allein tragen). Auch naturheilkundliche Behandlungen müssen zu einem grossen Teil selbst finanziert werden.
Die Einheitskasse hat 3500 niedergelassene Allgemeinmediziner, 1000 Fachärztinnen und 3800 Zahnärzte unter Vertrag. Über 5000 KrankenpflegerInnen, 1100 ZahnärztInnen und andere Berufsgruppen sind bei den kommunalen Gesundheitsdiensten angestellt. Im Primärbereich versorgen im Schnitt 2,9 ÄrztInnen 1000 EinwohnerInnen. 98 Prozent der DänInnen sind bei einem Hausarzt registriert.Die knapp hundert öffentlichen Spitäler mit ihren rund 26000 Betten beschäftigen etwa 10000 ÄrztInnen.
www.ess-europe.de/europa/kvsys_daenemark.htm
www.gesundheitsseiten.de/start.php?nas=l,0350,0210&thema=Dänemark&SID=9b1409bba5375
al.sp-ps.ch/data/DIV/Medienkonferenzen/070205_EKK/070205_Fehr_d.pdf
The Health Care Racket
February 16, 2007 - nyt - By PAUL KRUGMAN
Is the health insurance business a racket? Yes, literally — or so say two New York hospitals, which have filed a racketeering lawsuit against UnitedHealth Group and several of its affiliates.
I don’t know how the case will turn out. But whatever happens in court, the lawsuit illustrates perfectly the dysfunctional nature of our health insurance system, a system in which resources that could have been used to pay for medical care are instead wasted in a zero-sum struggle over who ends up with the bill.
The two hospitals accuse UnitedHealth of operating a “rogue business plan” designed to avoid paying clients’ medical bills. For example, the suit alleges that patients were falsely told that Flushing Hospital was “not a network provider” so UnitedHealth did not pay the full network rate. UnitedHealth has already settled charges of misleading clients about providers’ status brought by New York’s attorney general: the company paid restitution to plan members, while attributing the problem to computer errors.
The legal outcome will presumably turn on whether there was deception as well as denial — on whether it can be proved that UnitedHealth deliberately misled plan members. But it’s a fact that insurers spend a lot of money looking for ways to reject insurance claims. And health care providers, in turn, spend billions on “denial management,” employing specialist firms — including Ingenix, a subsidiary of, yes, UnitedHealth — to fight the insurers.
So it’s an arms race between insurers, who deploy software and manpower trying to find claims they can reject, and doctors and hospitals, who deploy their own forces in an effort to outsmart or challenge the insurers. And the cost of this arms race ends up being borne by the public, in the form of higher health care prices and higher insurance premiums.
Of course, rejecting claims is a clumsy way to deny coverage. The best way for an insurer to avoid paying medical bills is to avoid selling insurance to people who really need it. An insurance company can accomplish this in two ways, through marketing that targets the healthy, and through underwriting: rejecting the sick or charging them higher premiums.
Like denial management, however, marketing and underwriting cost a lot of money. McKinsey & Company, the consulting firm, recently released an important report dissecting the reasons America spends so much more on health care than other wealthy nations. One major factor is that we spend billion a year in excess administrative costs, with more than half of the total accounted for by marketing and underwriting — costs that don’t exist in single-payer systems.
And this is just part of the story. McKinsey’s estimate of excess administrative costs counts only the costs of insurers. It doesn’t, as the report concedes, include other “important consequences of the multipayor system,” like the extra costs imposed on providers. The sums doctors pay to denial management specialists are just one example.
Incidentally, while insurers are very good at saying no to doctors, hospitals and patients, they’re not very good at saying no to more powerful players. Drug companies, in particular, charge much higher prices in the United States than they do in countries like Canada, where the government health care system does the bargaining. McKinsey estimates that the United States pays billion a year in excess drug costs, and overpays for medical devices like knee and hip implants, too.
To put these numbers in perspective: McKinsey estimates the cost of providing full medical care to all of America’s uninsured at billion a year. Either eliminating the excess administrative costs of private health insurers, or paying what the rest of the world pays for drugs and medical devices, would by itself more or less pay the cost of covering all the uninsured. And that doesn’t count the many other costs imposed by the fragmentation of our health care system.
Which brings us back to the racketeering lawsuit. If UnitedHealth can be shown to have broken the law — and let’s just say that this company, which is America’s second-largest health insurer, has a reputation for playing even rougher than its competitors — by all means, let’s see justice done. But the larger problem isn’t the behavior of any individual company. It’s the ugly incentives provided by a system in which giving care is punished, while denying it is rewarded.