Entfesselung und Befreiung: Ein Lob auf den Kapitalismus

Nr. 11 –

Karl Marx gilt als gründlichster Kritiker des Kapitalismus. Aber er fand an ihm auch positive Seiten.

Alle sprechen vom Kapitalismus: Einige wollen ihn zähmen, andere verbessern, wieder andere wollen ihn überwinden. Und natürlich fehlt es nicht an jenen, die sich um seinen Bestand sorgen, weil einige besonders schlaue Profitmaximierer in der Öffentlichkeit nicht immer den besten Eindruck hinterlassen.

Kaum mehr die Rede ist allerdings von jenem Denker, der als erster den Kapitalismus in seiner Komplexität erforscht hat. Dabei habe niemand den Kapitalismus in höheren Tönen gepriesen als Marx, meinte Hannah Arendt. Das «Manifest der Kommunistischen Partei», erschienen im Revolutionsjahr 1848, spricht der Bourgeoisie ein enthusiastisches Lob aus: Sie hat die feudalen Verhältnisse zerstört und mit der Entwicklung der Produktivkräfte wahre Wunderwerke vollbracht. Ausserdem hat sie die Menschen gezwungen, ihre Beziehungen nüchtern zu betrachten.

Keine Freunde …

Der Kapitalismus hat im 19. Jahrhundert kaum Freunde gehabt. Er zerstöre - so sahen es seine konservativen Kritiker - jene Bindungskräfte, welche die Unterschichten davon abhalten, sich gegen ihre Herren zu erheben. Und er schaffe mit dem Proletariat den Totengräber der heilen alten Welt.

Marx zeichnete ein differenzierteres Bild: Zwar polarisiert der Kapitalismus die Gesellschaft. Zugleich aber bildet sich ein Proletariat, das nichts besitzt ausser seiner Arbeitskraft, aber seine Situation nicht mehr als Schicksal hinnimmt. Dank der Entwicklung der Produktivkräfte und der wissenschaftlichen Aufklärung nämlich vermag es die Mechanismen der Fremdbestimmung zu durchschauen. Indem es zur Auflösung der bisherigen Weltordnung beiträgt, ermöglicht das Proletariat die Emanzipation der Menschheit.

Auch im 20. Jahrhundert waren dem Kapitalismus nicht allzu viele Freunde beschieden - nicht einmal die Gründerväter des Neoliberalismus zählen dazu. Denn Zentralisierung, Proletarisierung und die Auflösung traditioneller Gemeinschaftsformen sind ihnen unheimlich. Und der real existierende Kapitalismus mit seinen übermächtigen Kapital- und Machtzusammenballungen ist in ihren Augen eine missratene Form der Marktwirtschaft.

Wer das Privateigentum an Produktionsmitteln für unantastbar hält, kann dem Studium der Geschichte des Kapitalismus in der Tat wenig abgewinnen. Wer hingegen Marx liest, weiss, welche Rolle widerrechtliche, gewaltsame Enteignungen der ursprünglichen ProduzentInnen, der KleinbäuerInnen in dieser Geschichte gespielt haben, und weshalb die kapitalistische Eigentumsordnung nicht von Dauer sein kann.

… ausser Marx

Verfügt das arbeitende Individuum über seine Produktionsmittel, dann ist gegen das Privateigentum nichts einzuwenden. Damit ein freies Kleinunternehmertum existieren kann, dürfen sich die Produktionsmittel allerdings nicht in den Händen weniger ballen, sondern müssen in kleinste Teile aufgesplittert werden. Die Entwicklung der Produktivkräfte hingegen beruht nicht allein auf Arbeitsteilung, wissenschaftlich-technischem Fortschritt, einer Perfektionierung der Naturbeherrschung und der Entstehung des Weltmarktes, sondern auch darauf, eben diese Produktionsmittel zu bündeln. Dieser Prozess wiederum setzt voraus, dass grosse Bevölkerungsteile enteignet, das heisst ihrer Subsistenz- und Produktionsmittel beraubt werden.

Dadurch wird das individuelle Privateigentum - Resultat eigener Arbeit - verdrängt durch das kapitalistische Privateigentum, das sich der Ausbeutung fremder Arbeit verdankt. Anders formuliert: Alle arbeiten mit an der Schaffung von Reichtümern, aber nur wenige profitieren davon.

Freiheit statt Schicksal

Die private Aneignung dieser Arbeitsprodukte allerdings erweist sich für die weitere Entwicklung der Produktivkräfte als Hindernis. Ausserdem schaffen die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit ein Bedürfnis nach neuen, egalitären Rechts- und Eigentumsverhältnissen.

Noch heute fällt es schwer, den Kapitalismus in seiner Komplexität zu erfassen. Populär ist die Auffassung, man verstehe die Welt am besten, wenn man sie auf die Dimensionen des Marktes schrumpft. Kein Wunder, wird die Freiheit des Marktakteurs mit jener des Menschen verwechselt. Wer sich, so Marx’ hübsche Formulierung, «unter den Auspizien einer allpfiffigen Vorsehung» wähnt, muss sich keine Gedanken über die Folgen seines Handelns machen. Er ist frei, das Spiel mitzuspielen - nicht aber, die Spielregeln zu ändern.

Der Kapitalismus verändert die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen fortwährend. Gleichzeitig predigen die Verteidiger der wirtschaftspolitischen Orthodoxie unbeirrt, nichts sei so anmassend und verhängnisvoll wie Eingriffe in den Markt. Dagegen hat der Aufklärer Marx erkannt: Die Entfesselung der Produktivkräfte, also der technisch-wissenschaftliche Fortschritt und seine Auswirkungen auf die Produktion, bringt den Menschen neue Freiheiten und weist ihnen Verantwortlichkeiten zu. Soziale Realitäten sind nicht naturwüchsig, sondern von Menschen geschaffen. Diese Einsicht von Marx widerspiegelt, was Menschen im industriellen Kapitalismus immer wieder erfahren haben: Natur und Gesellschaft sind beherrschbar. Entsprechend sind ökonomische Unsicherheit und soziales Elend nicht länger als Schicksalsschläge zu verstehen, sondern als Formen von Unfreiheit.

Freiheit kann, so Marx, immer als Privileg oder als allgemeines Recht bestehen. Tatsächlich stellt der Kapitalismus viele Freiheiten in Aussicht - faktisch gewährt er sie aber nur wenigen. Man findet daher gute Gründe, eine künftige Ordnung ins Auge zu fassen, in der die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.


Urs Marti

ist Philosophieprofessor an der Universität Zürich. Von ihm erschien im Rotpunktverlag das Buch «Demokratie - das uneingelöste Versprechen» (2006).