Ein Wissenschaftskrimi: Welches Geheimnis birgt die Labormaus? Und: «An Epo stirbt doch heute keiner mehr!»
Ein toter Athlet, muskelbepackte Mäuse und Wissenschaftler als Spürnasen - ein Auszug.
Professor Marc Beuret legte die Maus in eine Plastikschale und fragte abwesend: «Woher, sagten Sie, haben Sie dieses Tier?» «Aus meinem Briefkasten», antwortete Thierry. Der Professor drehte die Maus auf den Rücken und murmelte wieder: «Äusserst aussergewöhnlich.» «Das finde ich eben auch», warf Thierry ein. «Die Post hat sie jedenfalls nicht gebracht.» «Das meine ich nicht. Das Tier an sich ist aussergewöhnlich.» Thierry schluckte. «Das sehen Sie auf den ersten Blick?»
Der Professor stellte die Schale mit der toten Maus auf den Untersuchungstisch in der Mitte des Raumes. Dann ging er zu einem der Gestelle und zog einen Käfig zu sich heran. Aufgeregt rannten die Mäuse hin und her und liessen ein nervöses Rascheln vernehmen. «Immer mit der Ruhe», sagte Beuret sanft und gab dann einen zischenden Laut von sich. Sofort wurde es mucksmäuschenstill im Raum. Beuret lächelte verschmitzt. Er öffnete den Gitterdeckel des Käfigs und griff eine Maus am Schwanz. Dann beförderte er das Tier in eine Plastikschale, die er neben diejenige mit der toten Maus stellte.
Obwohl das lebendige Tier nervös versuchte, aus der Plastikschale zu entkommen, und dabei immer wieder an den glatten Wänden abrutschte, sah Thierry sofort, was der Professor gemeint hatte. «Meine Maus ist ja ein Riesentier. Das ist mir vorher gar nicht aufgefallen.» «Sie haben auch nicht täglich den Vergleich vor Augen», nuschelte Beuret und brachte das zappelnde Versuchstier zurück in seinen Käfig. Dann blickte er, zum ersten Mal, seit er die tote Maus aus der Kühlbox gezogen hatte, Thierry ins Gesicht. «Ihre Maus gehört zu keinem mir bekannten Laborstamm. Es ist aber nicht nur ...», er blickte wieder auf die Maus, und es war, als würde er dabei alle ihm bekannten Mäusetypen in seinem Gedächtnis abscannen, «... es ist nicht nur die Grösse.»
Beuret wandte sich ab und wühlte in einer Schublade. Es klapperte und schepperte. «Wenn die Leute nur Ordnung halten könnten», schimpfte er und förderte ein Kabel zutage. Dann eine Schere, ein Skalpell und weiteren Laborkram. Schliesslich zog er einen Elektrorasierer hervor, steckte das Kabel in eine Steckdose und setzte den Apparat am Hinterlauf der toten Maus an. «Ich darf doch?» «Ja, ja», antwortete Thierry irritiert. Beuret scherte die Maus. «Es gibt da eine Rinderrasse, die sieht irgendwie ähnlich aus wie diese Maus. Wenn sie verstehen, was ich meine.» Thierry verstand nicht.
«Belgian Blue heisst die Rasse. Getrimmt auf hohe Fleischleistung», sagte Beuret. «Aber das ist wie ein Kleinwagen mit Formel-1-Motor.» Er kicherte leise. «Das Auto läuft zwar tierisch schnell, aber die Bremsen sind zu schwach, das Getriebe zu träge, und irgendwann fällt alles auseinander, weil nichts den Belastungen standhält. Sie verstehen, was ich meine?» «Ich verstehe», antwortete Thierry. «In meinem Gebiet hat Tuning vergleichbare Auswirkungen. Bei gedopten Athleten macht irgendwann die Leber schlapp, die Jungs werden impotent oder blöd. Es gibt sogar Typen, die sich Medikamente aus der Veterinärmedizin spritzen.»
«Clenbuterol», sagte Beuret, ohne den Blick von der Maus abzuwenden. «Kommt aus der Kälbermast. Hat anabole Wirkung und ist darum auch für Bodybuilder interessant. Aber ich empfehle das Zeug nicht - weder Rindern, noch Hornochsen.» Er legte den Rasierer zur Seite. «Et voilà!» Die Maus lag nackt in der Schale. Ungläubig starrte Thierry auf das Tier. «Ein Monstrum.»
Jeder Muskel war so deutlich zu sehen, als hätte man dem Tier bereits die rosafarbene Haut abgezogen. Besonders ausgeprägt war die Muskulatur an den Extremitäten. Die Oberschenkel traten vor, als seien sie geschwollen, und sie erinnerten Thierry an die Schinken, die in der Bodega Española über der Theke hingen. Die Unterschenkel waren muskulös wie Popeyes Unterarme nach einer Spinatkur. «Wie kommt das?», fragte Thierry. «Keine Ahnung.» Beuret zwinkerte Thierry hinter seinen dicken Brillengläsern zu. «Wollen wir es herausfinden?»
Nach der Razzia hatte die Brüsseler Staatsanwaltschaft Thierrys Labor beauftragt, das ganze Sammelsurium zu sortieren, zu analysieren und den verschiedenen Athleten zuzuordnen. Thierry griff nach einer Packung aus dem Stapel. «Levothyroxin», las er, und ein Schauer jagte über seinen Rücken.
Die Substanz war ein lebenswichtiges Medikament für Patienten, denen die Schilddrüse hatte entfernt werden müssen. Das synthetische Schilddrüsenhormon kurbelte den Abbau von Kohlenhydraten, Fetten und Eiweissen an, steigerte also die Leistungsfähigkeit des Organismus insgesamt. Was es auch als Dopingmittel hochpotent machte. Und extrem gefährlich. Denn das künstliche Hormon schaltete bei gesunden Menschen die Produktion des körpereigenen aus. Und zwar endgültig. «Wer damit dopte, hat sich selbst zum Hormonkrüppel gemacht», bemerkte Thierry und warf die Packung auf den Haufen zurück.
«Vielleicht finden wir damit heraus, wer es war», sagte Luc und schob Thierry ein Papier hin. In einer Tabelle waren handschriftlich, akribisch genau, Daten, Substanzen und farbige Markierungen eingetragen. «Ein Dopingkalender», stellte Luc fest. «Die betreffende Person erhielt in den letzten acht Monaten an über hundert Tagen irgendein Medikament. Angefangen hatte das Jahr mit Epo. Ende Januar gab es Anabolika, im Februar eine Blutentnahme, anschliessend Anabolika und Epo kombiniert. Man sieht ganz genau, wann die Person Rennen gelaufen ist.»
Luc tippte auf eine bestimmte Stelle im Kalender. «Die Zufuhr von Anabolika und Epo wurde kurz zuvor immer ausgesetzt. Dafür gab es dann Eigenblut-Infusionen und Wachstumshormone.» «Was kaum zu entdecken ist», warf Thierry ein. «Ab Sommer wirds dann immer waghalsiger», fuhr Luc fort. «Alles kommt jetzt gleichzeitig: Wachstumshormone, Insulin, Epo. Und dazu das Schilddrüsenhormon.» «Absolut ausgeklügelt», meinte Thierry. «Für wen ist das wohl?» «Meine Analyse ergibt Folgendes», sagte Luc. «Ausdauersportler. Wenige Rennen, dafür harte.»
«Mann oder Frau?», fragte Thierry. «Mann», sagte Catherine bestimmt. «Wie kommst du darauf?» Sie zeigte auf die oberste Zeile der Tabelle. «Pheidippides», las Luc. «Nie gehört.» Catherine bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick. «Geschichtsunterricht, erste Klasse Gymnasium. Das war der Meldeläufer, den die Athener nach der Schlacht gegen die Perser losschickten, um zu Hause ihren Sieg zu melden. 490 vor Christus, in der Nähe von ...» «... Marathon!», dämmerte es Luc.
«Bingo!» rief Thierry. «Das macht die Sache einfach. Das ist ein Codename für einen Marathonläufer. Such sofort alle Läufer heraus, die an den aufgeführten Tagen Rennen gelaufen sind. Das ist der Kreis der Verdächtigen.» Er hielt inne, weil Catherine ihn nur stumm anstarrte. «Oder hast du eine bessere Idee?» «Wisst ihr, wie der Läufer von Marathon endete?», fragte sie mit ernster Miene. «In Geschichte hatte ich, wie du vorhin schon festgestellt hast, einen Fensterplatz», foppte sie Luc. «Pheidippides überbringt die Nachricht», fuhr Catherine fort, «und stirbt mitten auf dem Areopag in Athen.»
«Vergiss es! Der hatte wohl Blätter vom falschen Busch gekaut. Aber das hier ...» Er klopfte auf den Dopingkalender, «ist modernste Medizin. Daran krepiert niemand.» «Höchstens an den Spätfolgen», warf Thierry ein. «In ein paar Jahren vielleicht, wenn keiner mehr weiss, wer wann was von wem gekriegt hat.»
«Moment mal», unterbrach Catherine. «Immerhin hatten wir dieses Jahr schon zwei tote Langstreckler: Asserate und Ngugi. Und bei beiden hat man als Todesursache eine Überdosis Epo diagnostiziert.» Thierry starrte Catherine an. «Das ist doch Quatsch! An Epo stirbt doch heute keiner mehr! Die Epo-Toten waren in den neunziger Jahren - die Radfahrer, die Orientierungsläufer -, die hatten damals einfach keine Ahnung von dem Zeugs. Aber heute haben sie das Epo voll im Griff. Tote gibt es nur, wenn etwas Neues ausprobiert wird.»
Er hielt inne, als merke er selbst erst jetzt, worauf seine Überlegungen hinausliefen. «Natürlich!», rief er dann. «Etwas Neues! Gendoping! Asserate und Ngugi waren genetisch gedopt!» Thierry sprang vom Stuhl auf. «Wo sind die Leichen? Wir brauchen sofort die Leichen!»
Beat Glogger: Lauf um mein Leben. Rowohlt Verlag. Reinbek. August 2008. 384 Seiten. Fr. 16.80