Russland: Im Land der Riesenkrabben
Auf der Insel Sachalin im fernen Osten Russlands kommt der Reichtum aus dem Meer - und aus dem Boden. Ein gigantisches Gasförderprojekt steht kurz vor der Vollendung. Wird es den grossen Aufschwung bringen?
Hinter dem Tor bellen ein paar Hunde. An einem Pier aus Beton, Holzbohlen und Kies, der wie eine Improvisation aus Kriegszeiten wirkt, legen im Juli und August, wenn mit grossen Netzen der Lachs gefangen wird, die Schiffe an. Fischfabriken säumen die schmale Asphaltstrasse an der Südostküste Sachalins. Die meisten sind hinter Betonmauern und Stacheldraht verborgen.
Die russische Insel Sachalin zieht sich über rund tausend Kilometer von Norden nach Süden bis fast nach Japan hinab. 1905 gelangte der Südteil in japanische Hand, nachdem Japan den Krieg mit Russland gewonnen hatte. Die damaligen Machthaber liessen koreanische ZwangsarbeiterInnen Eisenbahnlinien, Kohlebergwerke und Papierfabriken bauen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam die ganze Insel in Besitz der Sowjetunion. Als Anfang der neunziger Jahre viele kleine Werften, Kolchosen und Bergwerke schlossen, verarmte Sachalin mit seinen 600 000 EinwohnerInnen. Fabrikdirektoren setzten sich aufs Festland ab. Wer übrig blieb, versuchte sich im illegalen Krabbenfang oder im Handel mit japanischen Gebrauchtwagen. An der Westküste von Sachalin wurde alles leer gefischt.
Jetzt ist die Ostküste an der Reihe. Das Tauchen nach den grossen Muscheln, den Kamtschatka-Krabben und den Blauen Krabben, die bis zu acht Kilogramm schwer werden, läuft zum Grossteil illegal, erzählt eine Fischhändlerin, die sich als Irina vorstellt. Sie verkauft ihre Waren auf dem Markt in der Gebietshauptstadt Juschno-Sachalinsk. Es gibt zwar Fangquoten, aber an die halten sich nur wenige. «Wir ernähren ganz Japan mit unseren Krabben und Fischen», scherzt Irina. Polizei und Justiz drückten beide Augen zu. Offenbar profitieren auch sie vom Geschäft.
Die Fischvitrine von Irina quillt über vor Köstlichkeiten. Es gibt Muschelfleischstücke, so gross wie Schweinekoteletts, geräucherten Lachs, Forellen, Schmerlen und fettigen Steinbutt. Die Preise sind für russische Verhältnisse happig. Die Kamtschatka-Krabbe kostet 1100 Rubel (45 Franken) das Kilo. Der Bedarf in Japan ist riesig. «Die Japaner haben nur noch wenig Krabben», behauptet Irina. Die Stadt Wakkanai auf der japanischen Insel Hokkaido habe ihren Aufschwung allein dem illegalen Fisch- und Krabbenhandel mit Russland zu verdanken.
Das Ölgeschäft lockt
An den Reichtümern Sachalins sind nicht nur die FischhändlerInnen in Japan interessiert. Seit Mitte der neunziger Jahre operieren auch die internationalen Ölkonzerne auf der Insel. Bereits bohrt ein Konsortium, angeführt vom US-Konzern Exxon-Mobil, unter der Bezeichnung Sachalin I an der Nordostküste nach Öl und Gas. Noch dieses Jahr fertiggestellt wird darüber hinaus das Projekt Sachalin II. Dazu gehört neben der Ausbeutung von zwei grossen Öl- und Gasfeldern vor der Südostküste auch der Bau einer Doppelpipeline, einer Flüssiggasfabrik und von Schiffsterminals. Bis 2007 war der niederländisch-britische Konzern Shell federführend, musste aber auf Druck der russischen Regierung die Aktienmehrheit an den Staatskonzern Gasprom abtreten. Der Vorsitzende des russischen Komitees für Naturressourcen, Juri Trutnew, warf Shell 2006 «barbarische» Umweltvergehen vor. Nach der Übernahme der Aktienmehrheit durch Gasprom verstummten die Vorwürfe. Heute verteilen sich die Aktien von Sakhalin Energy, dem Betreiber des Projekts Sachalin II, auf Gasprom (50 Prozent plus eine Aktie), Shell (27,5 Prozent) und die japanischen Konzerne Mitsui (12,5 Prozent) und Mitsubishi (10 Prozent). Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, welche die erste Phase des Projekts mit 116 Millionen Dollar finanziert hatte, zog sich nach der Änderung der Eigentumsverhältnisse zurück.
Die Kosten des Projekts sind inzwischen in astronomische Höhen gestiegen; von anfänglich 10 auf 22 Milliarden Dollar. Der Shell-Manager und Leiter des integrierten Öl- und Gaskomplexes in Prigorodnoje, Bert Christoffels, begründet die Kostensteigerung mit unvorhergesehenen Problemen. Es habe nicht nur den Konflikt mit der russischen Regierung gegeben, sondern auch Probleme «mit dem Wetter und den Umweltschützern», erzählt der Holländer. Zum Öl- und Gaskomplex, den der fünfzigjährige Manager leitet, gehören Russlands erste Flüssiggasfabrik sowie ein Gas- und ein Ölterminal. Ab Anfang nächsten Jahres soll von hier Flüssiggas in die USA, nach Südkorea und vor allem nach Japan verschifft werden. Öl und Gas gelangen von den drei Bohrplattformen an der Nordküste über eine 800 Kilometer lange Doppelpipeline nach Prigorodnoje. Eine Verschiffung der Rohstoffe vom Norden der Insel ist nicht möglich, weil es dort keine eisfreien Häfen gibt.
Eine Klinik als Entschädigung
Früher standen in Prigorodnoje nur ein paar Häuser. Jetzt breitet sich direkt hinter der schwer bewachten Fabrik ein riesiges Wohnareal aus Fertighäusern aus. Unter den blauen Dächern wohnen die ArbeiterInnen, welche die Fabrik gebaut haben, und jene, die sie jetzt bedienen. Am Bau des Projekts Sachalin II waren über 20 000 Beschäftigte aus aller Welt beteiligt. Die AnwohnerInnen hatten vier Jahre lang schwere Lastwagen zu erdulden, die mit Baumaterial über Schotterstrassen donnerten. Die Flüssiggasfabrik liegt direkt an einem der beliebtesten Sandstrände, wo im Sommer Familien baden und fischen. Sakhalin Energy hat versprochen, für die Bevölkerung eine Polyklinik zu bauen. Doch ganz uneigennützig ist das Vorhaben der Firma nicht. Ihre 2400 ArbeiterInnen müssen schliesslich auch irgendwo medizinisch versorgt werden.
Für Russland ist die Fabrik in Prigorodnoje der erste Schritt in eine neue Schlüsseltechnologie, die Gasexporte nach Übersee ermöglicht. Für den Shell-Konzern bedeutet das Projekt auf Sachalin, so Christoffels, «einen Fuss in die Tür» zu bekommen. Man hofft auf weitere Geschäfte mit Flüssiggasfabriken. Russland plant auch für die Gasvorkommen im russischen Norden - in der Barentssee und auf der Jamal-Halbinsel - Flüssiggasanlagen. Für jene auf der Jamal-Halbinsel ist Shell bereits im Gespräch.
Bei UmweltschützerInnen stiess das Projekt Sachalin II von Anfang an auf scharfen Protest. Die rund 800 Kilometer lange Doppelpipeline, die von Nord nach Süd verläuft, überquert 1100 Flüsse. ÖkologInnen sehen die Laichplätze der Lachse in den vielen kleinen und grossen Wasserläufen gefährdet. Zwar versprach Sakhalin Energy, zahlreiche Schutzmassnahmen zu treffen, doch sollen beim Bau viele Fehler gemacht worden sein. Was die Umwelt betrifft, habe man sich nichts vorzuwerfen, meint Christoffels. Den Offshoreteil der Pipeline habe man absichtlich zwanzig Kilometer weiter südlich verlegt, um das Futtergebiet der Grauwale zu schützen.
Komfort für die AusländerInnen
Der Schriftsteller Anton Tschechow besuchte 1890 die Insel. Er schrieb einen aufsehenerregenden Bericht über die schweren Lebensbedingungen der Verbannten, die damals auf Sachalin lebten. Im Tschechow-Museum von Juschno-Sachalinsk ist ihr Leben mit Fotos dokumentiert. Man sieht bärtige Männer in einfachen Kitteln, die an ihre Schubkarren angekettet sind. Die ArbeiterInnen und SpezialistInnen, die im Öl- und Gassektor beschäftigt sind, haben es besser. Ein Lastwagenfahrer verdient im Monat immerhin 15 000 Rubel (600 Franken). Zusammen mit dem Einkommen der Ehefrau reicht das, um eine Familie zu ernähren. Weit besser geht es den hoch bezahlten SpezialistInnen aus aller Welt, die in der Öl- und Gasanlage arbeiten. Für sie wurde südlich von Juschno-Sachalinsk ein schickes Dörfchen gebaut. Hier gibt es schöne einstöckige Häuschen, grosse Rasenflächen, frische Luft und eine Sporthalle.
Öl und Gas haben Geld nach Juschno-Sachalinsk gebracht. Tagsüber schieben sich dicht an dicht japanische Jeeps über das schachbrettartige Strassennetz der 1882 gegründeten Stadt. Für die AusländerInnen und gutbetuchten RussInnen gibt es viele Orte zum Relaxen. Nicht weit von Juschno-Sachalinsk entsteht ein modernes Skizentrum mit zwei Sprungschanzen. Im Nachtclub Tschastje (Glück) kostet der Eintritt 1000 Rubel (40 Franken). Bis Mitternacht füllt sich der Laden mit Koreanerinnen, dezent geschminkt und in schicken Kleidern. Es sind die Nachkommen der ZwangsarbeiterInnen, die von den JapanerInnen auf die Insel geholt worden sind. Fünf Prozent der EinwohnerInnen auf Sachalin haben koreanische Wurzeln. Doch tragen fast alle russische Vornamen. Warum? «Wenn du hier leben würdest, wüsstest du warum», so die vieldeutige Antwort von Sergej - einem Koreaner. Früher hätten sich die Russen und Koreaner auf den Strassen gegenseitig verprügelt. Zwar seien diese Zeiten vorbei, doch werde die koreanische Kultur auf der Insel vernachlässigt. Koreanisch und Japanisch werden nur noch an wenigen Schulen unterrichtet.
Häufig kleine Beben
Sachalin liegt mitten in einer Erdbebenzone. Es gibt häufig kleine Beben, manchmal auch grosse. 1995 wurde die Stadt Neftegorsk vollständig zerstört. 2000 der 3000 EinwohnerInnen fanden in den Trümmern ihrer Häuser den Tod. Die Pipelines der staatlichen Ölgesellschaft Rosneft, die im Norden nach Öl bohrt, schlugen an rund 200 Stellen leck, erzählt Dmitri Lisitsyn von der «Öko-Wache Sachalin». Letztes Jahr im August gab es ein Beben in Newelsk, im Süden der Insel. Viele Häuser wurden zerstört, eine Felsplatte tauchte aus dem Meer auf. Manager Christoffels spürte das Beben auch an seinem Arbeitsplatz. «Alles vibrierte.» Die neue Pipeline sei unterirdisch in einem speziellen Sandbett gelagert, erklärt er. Die Rohre sollen sich bei Erdstössen bewegen können. Auf die Forderung der UmweltschützerInnen, die Rohre überirdisch zu verlegen, weil kleine Lecks so schneller entdeckt werden können, ging das Unternehmen nicht ein.
Vor dem Bahnhof der Gebietshauptstadt werde ich von einer älteren Dame angesprochen. Sie lädt mich ein, nach Tschechow zu kommen, an ihren Heimatort. Es bringe nichts, die japanischen Jeeps in der Gebietshauptstadt zu bestaunen, man müsse «hinter die Kulissen» blicken. Die Stadt Tschechow an der Westküste von Sachalin sei völlig heruntergekommen. Alle Betriebe hätten Pleite gemacht. Die Dame heisst Nina Losewa und ist sechzig Jahre alt. Früher arbeitete sie als Ärztin im Krankenhaus von Tschechow. Heute ist sie Rentnerin und gibt im Kindergarten Essen aus. Ihre Rente von 6200 Rubel (250 Franken) kann sie damit um 4000 Rubel (165 Franken) aufbessern.
Die alte Dame ist ausser sich. Nichts funktioniere mehr. Die Zentralheizung bringe es im Winter noch auf eine Zimmertemperatur von vierzehn Grad. Die Kinderabteilung im Krankenhaus von Tschechow habe man dichtgemacht, obwohl es 700 Kinder im Ort gebe. Expräsident Wladimir Putin und der jetzige Präsident Dmitrij Medwedjew hätten versprochen, die Krankenhäuser zu unterstützen. Aber der Kreml sei weit. «Die sagen viel in Moskau. Was auf Sachalin passiert, ist eine andere Sache.»
Credit Suisse ignoriert eigene Verpflichtungen
Die Erklärung von Bern (EvB) fordert den sofortigen Ausstieg der Schweizer Grossbank Credit Suisse aus dem Sachalin-II-Projekt. Wie die EvB in einer Pressemitteilung schreibt, beteiligte sich Credit Suisse bereits im Anfangsstadium von Sachalin II als Beraterin an dem Projekt. Nun ist die Grossbank auch noch zusammen mit fünf anderen Banken an einem Kredit in der Höhe von 1,6 Milliarden US-Dollar beteiligt. Damit sollen die letzte Phase des Baus und die Inbetriebnahme des Sachalin-II-Projekts finanziert werden. Mit ihrem direkten Engagement am Projekt verletze Credit Suisse die Equator Principles - internationale Umwelt- und Sozialstandards, die die Bank unterzeichnet hat. «Dies zeigt, dass die Credit Suisse für schnellen Profit ihre eigenen Richtlinien ignoriert und selbst das Aussterben einer Walart in Kauf nimmt», heisst es in der Mitteilung der EvB.
Hoffnung auf eine Brücke
Russland beginnt seine fernöstliche Insel Sachalin wiederzuentdecken. Die russische Staatsbahn RZD lässt die japanische Eisenbahnschmalspur im Süden der Insel durch ein russisches Breitspurtrassee ersetzen. Sachalin soll Kettenglied in einem Transportkorridor zwischen Japan und Europa werden. Der Gouverneur der Insel, Alexander Choroschawin, will 2015 mit dem Bau einer Brücke zum russischen Festland beginnen, unterstützt von privaten InvestorInnen. Die Bevölkerung hofft, dass die Waren auf der Insel dann billiger werden. Das letzte Festlandprojekt blieb in den Anfängen stecken: Anfang der fünfziger Jahre begannen Gulag-Häftlinge einen Tunnel zu buddeln. Als Stalin starb, wurde das Projekt begraben.