Zum 1. Mai: Lang soll die Wut sein

Nr. 18 –

Die Krise der Gegenwart ist eine Krise der Orientierung, schreibt der Historiker Hansjörg Siegenthaler. Deshalb eröffnet sie auch Chancen zu neuem Denken und politischem Handeln.


Es gehört zur Krise der Gegenwart: Unsicherheit. Seit den Ökonomen Frank Knight und John Maynard Keynes pflegt man den Begriff der Unsicherheit dem Begriff des Risikos gegenüberzustellen und erblickt dabei den Unterschied in der Messbarkeit: Risiken kann man beziffern, Unsicherheit nicht. Risiken mögen hoch sein, aber immerhin kann man sagen, wie hoch sie sind. Bei der Unsicherheit ist das nicht möglich. Für das Handeln der Menschen und ihrer Organisationen, für ihre zukunftsgerichteten Entscheidungen ist es wichtig, Unsicherheit in Risiken zu transformieren: Mittel und Wege zu finden, um Handlungsfolgen, also künftige Wirkungen dessen, was man heute tut, mit einer mutmasslichen Wahrscheinlichkeit ihres Eintreffens zu bewerten.

Für die Unsicherheit, mit der wir es heute zu tun haben, scheint mir nun genau dies charakteristisch zu sein: dass man weithin keine Möglichkeit mehr sieht, eine solche Transformation erfolgreich durchzuführen. Die Unsicherheit unserer Zeit ist fundamental. Sie lässt sich durch Informationsbeschaffung nicht abbauen. Der Zugriff aufs Internet, auf jede Menge Informationen verhilft uns nicht zu grösserer Sicherheit; er bestätigt uns nur im Gefühl, die Welt sei komplex, der Gang der Dinge sei unberechenbar und überraschungsreich. Prognoseinstitute versorgen uns mit präzisen Schätzungen künftigen Wirtschaftswachstums. Nur entwickeln sich diese Schätzungen nicht weniger überraschungsreich als anderes, was uns von Tag zu Tag überrascht.

Warum ist die Unsicherheit im Augenblick so schwer abzubauen? Um Unsicherheit abzubauen, braucht es nicht nur Informationen, es braucht auch Regeln, die dazu verhelfen, aus verfügbarer Information ein Bild dessen zu entwerfen, was für die Zukunft zu erwarten ist. Ohne solche Regeln weiss man nicht, was man aus der Fülle an verfügbarer Information herausgreifen soll, um ein solches Bild zu gewinnen. Und wenn man sich zutraut, die wirklich relevanten Informationen von den unwichtigen zu unterscheiden, weiss man noch nicht, was die Informationen für die Zukunft bedeuten. Mit anderen Worten: Es ist schwierig, aus der Erfahrung, die sich in verfügbarer Information niederschlägt, Schlüsse zu ziehen in Bezug auf den Gang der Dinge in der Zukunft.

Im Regelfall gehört solche Skepsis gerade nicht zur Befindlichkeit jener Menschen, die zum Überraschungsreichtum der Ereignisse beitragen: Die wichtigen EntscheidungsträgerInnen in Politik und Wirtschaft glauben meist durchaus zu wissen, was sie wissen müssen, um Entscheidungen treffen zu können. Sie sind nicht angekränkelt von des Zweifels Blässe, sonst würden sie nie dorthin gelangen, wo man massgebliche Entscheidungen trifft. Sie vertrauen darauf, aus der Masse verfügbarer Informationen die relevanten herausgreifen und in ihrer Bedeutung angemessen würdigen zu können: Sie setzen Vertrauen in die Regeln, nach denen sie Informationen auswählen und interpretieren; sie verfügen über Regelvertrauen.

Wie gelangen die Leute zu den Regeln, nach denen sie Informationen auswählen und interpretieren? Man braucht kein radikaler Konstruktivist zu sein, um zu verstehen, dass sich diese Regeln aus Erfahrung nicht zwingend herleiten lassen. Sie sind zwar erfahrungsbezogen, aber nicht durch Erfahrung bestimmt. Wenn man Vertrauen in sie setzt, überzieht man das, was die Erfahrung selber uns lehrt, bei weitem. Und dies nun impliziert zwei Dinge, die beide wichtig sind für das Verständnis sowohl der Ursachen wie auch der Wirkungen der Unsicherheit, mit der wir zurzeit leben.

Die Bedeutung der Unsicherheit für die Entstehung der Krise.

Zunächst zu den Ursachen: Regelvertrauen ist eine wichtige Ressource. Es verleiht Entschlusskraft. Doch Regelvertrauen bedeutet auch Mangel an Bereitschaft, eigene Überzeugungen infrage zu stellen und sie der Kritik zu öffnen. Wenn nun der Weltlauf einerseits dazu nötigt, mit eigenen Überzeugungen kritisch-selbstkritisch umzugehen und andererseits die Fähigkeit zu solcher Selbstkritik fehlt, dann führt Entscheidungsfreude möglicherweise in die Irre - oder in die Krise. Blinde Entscheidungsfreude hat den Finanzsektor in die Irre geführt. Ich will gewiss nicht übersehen, dass in die fehlgeleitete und fehlsteuernde Entscheidungsfreude die heute so nachdrücklich beschworene Selbstsucht der AkteurInnen hineingespielt hat. Man liegt häufig richtig, wenn man den AkteurInnen Selbstsucht unterstellt. Nur sollte man bei dieser Unterstellung nicht stehen bleiben.

Auch selbstsüchtige AkteurInnen machen sich einen Reim auf die Welt und begeben sich so in die Abhängigkeit ebendieses Reimes. Die AkteurInnen des Finanzsektors waren nicht nur leidenschaftlich eigensüchtig, sie waren auch fehlgeleitet: Durch unangemessene Regeln, denen sie aufgesessen sind. Ich möchte diesen Gedanken am Beispiel der Rolle, die das Konzept des Shareholder-Value gespielt hat, illustrieren. Dieses Konzept war von Anfang an umstritten; gleichwohl wurde es von seinen BefürworterInnen mit geradezu gläubiger Hingabe vertreten. Woran genau hat man geglaubt, wenn man der Meinung war, es müsse der Shareholder-Value für ein Unternehmer die entscheidende Zielgrösse sein?

Man hat mit dem neoliberalen Vordenker Friedrich von Hayek geglaubt, der Markt sei ein Entdeckungsverfahren und erzeuge über den Mechanismus der Preise genau jenes Bild der Welt, das man zur Grundlage des Handelns machen müsse. Man hielt es für erwiesen, dass die Ergebnisse der Märkte zuverlässiger sind als die Meinungen von ExpertInnen und Expertengremien. Wenn Märkte zuverlässige Detektoren der Wahrheit sind, dann verlangt es der Common Sense, dass man sich ihnen anvertraut. Und von allen Märkten verdient der Kapitalmarkt besonders grosses Vertrauen, weil er so herrlich effizient institutionalisiert ist, weil er in Sekundenschnelle Anpassungen realisiert, Fehlentscheidungen einzelner IrrläuferInnen an den Börsen korrigiert, das gesamte Wissen einer riesigen Zahl von BörsenteilnehmerInnen bündelt, ein Fazit ziehen kann aus allen komplexen Prozessen der Meinungsbildung, die sich hinter den Entscheidungen der BörsenteilnehmerInnen verstecken. Die Börse als Orakel gewissermassen, das Dinge sagt, die kein Mensch sagen könnte und die sein Verständnis der Welt weit übersteigen.

Nun: Dass die Börse ein Orakel ist, das muss man erst einmal glauben, wenn man sich ihr anvertrauen will. Und man hat es geglaubt bis in die letzten Jahre hinein. Freilich gehört zu jedem Glauben auch ein Glaubenskrieg: Seit den neunziger Jahren führte man diesen Glaubenskrieg unter dem Titel «Effizienz der Kapitalmärkte - ja oder nein?». Aussenseiter wie der Finanzwissenschaftler Robert J. Shiller verwiesen auf die handlungstheoretischen Prämissen, die in die Begründung des Glaubens an die Effizienz der Kapitalmärkte einfliessen. Sie haben diese Prämissen mit den Erfahrungen konfrontiert, die die empirische Psychologie vermittelt. Sie haben gegen die These von der Effizienz der Kapitalmärkte eine ganze neue Disziplin entfaltet, nämlich das sogenannte «behavioral finance», die Verhaltensökonomie, und in allerjüngster Zeit haben sich die AussenseiterInnen zu VertreterInnen eines neuen Mainstreams gemacht.

Bemerkenswert ist nun die Tatsache, dass es zur Wende erst in der Krise kam, zu der der Glaube an die Effizienz der Kapitalmärkte ganz entscheidend beitrug. Dies wäre nun im Einzelnen zu zeigen. Verheerend die Meinung, es müsse sich die Führung eines Unternehmens auch an kurzfristigen Schwankungen der Börsenkurse orientieren; so kann kein Unternehmen auf Dauer, über den Augenblick hinaus, Erfolg haben. Verheerend die Idee, es beurteile die Börse korrekt die Leistung des Unternehmens und ihrer ManagerInnen auch in der kurzen Frist. Das führte nicht nur zu höchst skurrilen Vorstellungen über die Leistungsgerechtigkeit der während einiger Jahre praktizierten Systeme variabler Managerlöhne; es verführte zu einer Unternehmenspolitik, die die langfristigen Ziele der Unternehmen aus dem Entscheidungshorizont ausblendete.

Die Bedeutung der Unsicherheit für das Denken und Handeln.

Die Krise der Gegenwart ist eine Krise der Orientierung, in der sich Überzeugungen zersetzen wie diejenige, die Börse sei ein Lügendetektor. In einer Krise der Orientierung nimmt, wie uns Keynes gelehrt hat, die Neigung zu, Ressourcen nicht einzusetzen, sondern disponibel zu halten für den Moment, in dem wieder klar wird, wo man sie nutzbringend einsetzen kann. Die Krise der Orientierung ist deshalb auch eine Krise der Ökonomie im herkömmlichen Sinne des Wortes. Ich befasse mich abschliessend mit sechs Aspekten der Orientierungskrise, die Probleme jenseits eines eng definierten ökonomischen Bereichs betreffen:

Erstens: Wenn man in einer Sache unsicher wird, die man lange mit grosser Selbstverständlich für richtig gehalten hat, dann neigt man dazu, in vielem unsicher zu werden. Das ist eine empirisch gehaltvolle These, also kann sie auch falsch sein. Ich meine aber, dass sich für viele historische Krisen genau dies zeigen lässt: dass sich Skepsis breitmacht nicht nur in dieser oder jener Angelegenheit, sondern eben in vielen Angelegenheiten gleichzeitig. Heute ist an der Steuerfront Bewegung in die Dinge gekommen. So überrascht es nicht, wenn selbst Freisinnige die generelle Aufhebung von Steuerprivilegien für reiche AusländerInnen fordern - nicht nur die Verschiebung von Marchsteinen, die man zwischen der Domäne der Steuerhinterziehung und der Domäne des Steuerbetrugs einzupflanzen für richtig hielt.

Die SpanienkämpferInnen sind vor wenigen Wochen offiziell rehabilitiert worden; von der Sache her hätten gute Gründe schon längst für diese Rehabilitation gesprochen, aber sie vollzieht sich jetzt. Die Einrichtung von vorschulischen Stätten der Kinderbetreuung und ihre Förderung auf Bundesebene stösst nur noch im Lager der Rechtskonservativen auf Widerstand. Natürlich hält sich neues Denken auch heute nicht an nationale Grenzen. Es zeichne sich, so hiess es in der NZZ vor kurzem, «in der globalen Drogenpolitik ein allmähliches Umdenken ab»; die EuropäerInnen treten mit einem «Konzept der Schadensminderung» gegen den Drogenkrieg der USA an. Man könnte die Liste verlängern.

Zweitens: Weil sich in der Krise so vieles bewegt, ist die Versuchung für opportunistische PolitikerInnen gross, überall etwas mitzuschwimmen. Aber das wird keine Massen mobilisieren. Konzentration auf das Wesentliche ist erfolgsträchtiger. Kampf vielleicht nicht für die Abschaffung des Kapitalismus - was immer dies heisst. Dafür Kampf für die Überwindung einer durchaus feudalistischen Verteilung der Vermögen (Stichwort: Erbschaftssteuer). Ich bin der Meinung, es gehe jetzt darum, die Wut der Leute über Boni der Spitzenverdiener in die «Lange Wut» des Bert Brecht («Mutter Courage») zu transformieren - Wut über die monströs ungleiche Verteilung der Vermögen.

Drittens: In der Krise kann sich die Stossrichtung der Ideologiekritik ändern. Während der vergangenen Dekaden wehte der Wind aus der rechtskonservativen Ecke. Der Begriff des Gutmenschen hat grosse Wirkung gezeitigt: Wer sich für soziale Belange einsetzte, galt als Karrierist des Sozialsystems, als verlogener Kerl, der vom Allgemeinwohl redet und nichts im Sinn hat als sein persönliches Interesse. Ich vermute, dass man in den nächsten Jahren wieder versteht, dass es Menschen gibt, die fähig sind, sich in die Nöte der anderen einzufühlen und etwas für sie zu tun. Die Forschungen zur Fairness des in Zürich lehrenden Wirtschaftswissenschaftlers Ernst Fehr können zu solchem Verständnis die Grundlage bilden. Andererseits wird man die Vorstellung von der «Leistungsgerechtigkeit» der Ergebnisse des Marktes aufs Neue und radikal infrage stellen, wie dies ein weiterer Vordenker des Neoliberalismus, nämlich ausgerechnet Milton Friedman, vor vierzig Jahren schon getan hat.

Viertens: Wenn man hergebrachte Denkfiguren infrage stellt, eröffnet dies Chancen zu neuem Denken und zu politischem Handeln. Freilich weckt dies auch immer den Widerstand der Traditionalisten. Eine Möglichkeit, verbreiteter Unsicherheit zu entfliehen, besteht natürlich darin, weit in die Geschichte zurückzugreifen und sich an Dinge zu klammern, die den Test pragmatischer Nutzbarkeit nicht zu bestehen brauchen. Wie der Kampf ausgeht zwischen innovativen Geistern und TraditionalistInnen, wer die Massen mobilisieren kann, ist dabei immer eine offene Frage. Vielleicht ist es an dieser Stelle angebracht, von Lehren der Geschichte zu reden, auch für diejenigen, der sonst skeptisch gestimmt sind gegenüber solchen Lehren. Im Kontext der Krise lockern sich Bindungen an sozioökonomische Milieus; neue soziale Assoziationen entfalten sich leichter, das voluntaristische Element erhält im politischen Kampf mehr Gewicht.

Fünftens: Argumente zählen, Argumente und die Art und Weise, wie man sie vorträgt. Das hängt auch mit dem Stil der Kommunikation zusammen, der sich in der Krise nicht überall, aber doch in bedeutenden sozialen Lagern entfalten kann. Wo und soweit sich die Krise der Orientierung der Menschen wirklich bemächtigt, ihres Denkens und auch ihrer Emotionen, tendiert kommunikatives Handeln dazu, wieder das zu werden, woran man früher gedacht hat, wenn man von Kommunikation sprach: zum Prozess, in dem sich Menschen zu verstehen versuchen, weil sie voneinander lernen, weil sie sich mit anderen zusammen auf alte Denkmuster aufs Neue oder aber auf neue Denkmuster verständigen möchten. Vertrauen fasst man in neue Denkmuster, besser gesagt in eine neue Art und Weise, über Dinge zu reden, erst dann, wenn man bei anderen Menschen Resonanz findet und sich in der neuen Art und Weise, über die Dinge zu reden, bestärkt und bestätigt fühlen darf. In der Krise hat der herrschaftsfreie Diskurs eine bessere Chance als sonst; nicht deshalb, weil es keine Herrschaft mehr gäbe, aber darum, weil man weitherum nicht mehr weiss, wie man Herrschaft ausspielen müsste, um eine gewünschte Wirkung zu erzielen. Kommunizieren in der transitiven Bedeutung des Wortes als Vermittlung einer Botschaft ans Publikum, an Käufer, an Stimmbürgerinnen verliert an Bedeutung, weil es schwierig ist, die Wirkung der Botschaft abzuschätzen. Politische Werbung wird zum Prozess der interaktiven Meinungsbildung, in den der Werber die Umworbenen involviert, die Grenze zwischen dem Lager der Werber und der Umworbenen sich öffnet. US-Präsident Barack Obama spielt souverän die Rolle des Zuhörers, der Wandel anstrebt und hören will, wohin die Reise gehen soll.

Sechstens und abschliessend: Jenseits der Tendenz zur Stärkung interaktiver Kommunikation gibt es in der Krise auch die Tendenz zur kollektiven Konstruktion einer charismatischen Persönlichkeit, zur kollektiven Zuschreibung von Kompetenz und Führungsstärke an den Führer. Welche Tendenz sich durchsetzt, ist nicht in den Sternen geschrieben. Es kommt auf die Leute an und auf ihren Willen, sich der einen oder anderen Tendenz zu verschreiben. Auch hier geht es nicht um Prognosen, sondern, letztlich, um Entscheidung.


Hansjörg Siegenthaler

Hansjörg Siegenthaler (76) gehört zu den bekanntesten Krisenhistorikern. Er war 1970 bis 1998 Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich. In seiner Forschung beschäftigt sich Siegenthaler mit den Zusammenhängen zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und soziokulturellem Wandel. Dazu ist von ihm erschienen: «Regelvertrauen, Prosperität und Krisen. Die Ungleichmässigkeit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung als Ergebnis individuellen Handelns und sozialen Lernens» (Tübingen 1993).