Labour in der Krise: Mit erhobener Fahne in den Abgrund

Nr. 24 –

Gordon Browns Niedergang ist so gut wie sicher. Also könnte er jetzt Reformen anpacken.


Es ist die Angst, die den britischen Premierminister Gordon Brown vorerst gerettet hat. Die Labour-Dissidenten, die angeblich die von sechzig bis siebzig Abgeordneten unterschriebene Rücktrittsforderung in der Schublade haben, zückten die Liste am Ende nicht, weil sie befürchteten, dass Browns Sturz zu sofortigen Parlamentswahlen führen würde. Angesichts des katastrophalen Abschneidens der Labour-Partei bei der Europawahl, bei der sie mit knapp sechzehn Prozent der Stimmen hinter den Tories und der europafeindlichen UK Independence Party auf dem dritten Platz landete, will man lieber keine Neuwahlen riskieren.

Selten hat sich eine Regierung in Europa so öffentlich demontiert, wie es Labour zurzeit tut. Zwölf Minister und Staatssekretärinnen traten innerhalb von acht Tagen zurück, sodass Browns Kabinettsumbildung, die er als Neuanfang deklarierte, zu einem Stopfen der Löcher geriet. Dann lehnte auch noch der Schatzkanzler seine Versetzung ab, und Brown beliess ihn im Amt, weil ihm ein Autoritätsverlust weniger gefährlich erschien als ein zusätzlicher Feind. Wie unsicher Brown sich fühlt, zeigt die Tatsache, dass er bei der Umbesetzung der niederen Ränge seiner Regierung vor der Postenvergabe schriftliche Loyalitätserklärungen verlangte.

Es wäre zu einfach, den Zerfall von Labour auf den Spesenskandal abzuschieben. Sicher, die veröffentlichten Abrechnungen bewegen sich am Rand der Legalität, viele überschreiten die Grenze zum Betrug - auf der Liste der Waren und Dienstleistungen, die auf Staatskosten abgerechnet wurden, finden sich Pferdemist, ein Schokoladenweihnachtsmann, das Stimmen eines Klaviers und sogar eine Ikea-Plastiktüte für fünf Pence. Doch das betrifft nicht nur die Labour-Abgeordneten. Die Spesenaffäre hat die Geldgier der Abgeordneten aller im Unterhaus vertretenen Parteien offengelegt.

Darum ist die Freude der Tories und der Liberalen Demokraten auch etwas getrübt. Zwar lagen die Konservativen bei den Europawahlen rund zehn Prozent vor Labour, doch im Vergleich zu den letzten Wahlen büssten auch sie Stimmen ein. Die Liberalen kamen nur auf den vierten Platz. Und die deutliche Mehrheit der Wahlberechtigten hatte gar keine Lust zu wählen und blieb zu Hause. So profitierten die Neonazis von der «British National Party» (BNP) von der allgemeinen Politikverdrossenheit. Sie gewannen zwei Sitze in Nordengland und schafften zum ersten Mal den Einzug ins Europaparlament - weil sie der weissen Arbeiterklasse vorgegaukelt hatten, sie seien «die Labour-Partei ihrer Grossväter».

Dieser Platz im politischen Spektrum, den die BNP behauptet einzunehmen, ist unbesetzt, seit der ehemalige Premierminister Tony Blair die Partei nach achtzehn Jahren konservativer Herrschaft unter der Parole «New Labour, New Britain» so lange reformierte, bis sie die politische Mitte nach rechts überschritt - und 1997 die Wahlen wieder gewann. Brown war vor knapp zwei Jahren, als er das Amt vom abgehalfterten Blair übernehmen durfte, mit dem Versprechen angetreten, die Partei abermals zu erneuern. Die Kunst, den Nachrichten einen regierungsfreundlichen Dreh zu geben, gehöre der Vergangenheit an, versprach Brown. Doch dann kam die «Smeargate»-Affäre: Browns Berater Damian McBride hatte in E-Mails an einen Labour-Blogger vorgeschlagen, Lügengeschichten über führende Tories zu streuen.

Doch Labours Krise greift tiefer als der Spesenskandal und die Verleumdungsaffäre. Labour hat keine erkennbare Identität mehr, die Partei hat inzwischen sogar ihre «New Labour»-Identität verloren. Die Tories mit ihrem Chef David Cameron sind in die Rolle der ModernisiererInnen geschlüpft und haben die WählerInnen aus der Mittelschicht zurückgewonnen, ohne ein politisches Programm zu präsentieren. In der britischen Politik kommt es längst mehr auf Präsentation als auf Inhalt an. Und das kann Cameron besser. Unvergessen ist Browns Versuch, sich über YouTube bei den jüngeren WählerInnen anzubiedern; mit seinem unbeholfenen Auftritt, bei dem ihm ein Teleprompter offensichtlich alle zwanzig Sekunden zu den unpassendsten Momenten «Lächeln!» befahl. Er machte sich zum Gespött des Landes.

Was kann Brown also jetzt noch tun? Der Premierminister gibt sich bescheiden und selbstkritisch. «Wie jeder Mensch, so habe auch ich Stärken und Schwächen», erklärte er seiner Fraktion nach dem Europawahldebakel. «Ich muss zweifellos noch viel über die kollektive Führung von Partei und Regierung lernen.» Und: Er wolle Parteichef bleiben, weil er eine Mission habe.

Will Brown nicht nur als Fussnote in die britische Geschichte eingehen, muss er die ihm verbleibende Zeit nutzen, um radikale Reformen durchzusetzen. Zur «Old Labour» führt kein Weg zurück. Aber da die nächsten Wahlen für die Partei ohnehin verloren sind, könnte Brown nun Themen in Angriff nehmen, die zu riskant wären, wenn er Chancen auf eine Wiederwahl hätte: etwa die Reform der Monarchie, des Oberhauses und des Wahlsystems, den Stopp der Privatisierungen und der biometrischen Personalausweise, die Untersuchung der Grundlagen für den Irakkrieg. Dann würde er wenigstens mit wehenden Fahnen untergehen.