Literatur in China: Han Hans gefälschte Bücher

Nr. 42 –

Mit der Marktwirtschaft hat sich die staatliche Kontrolle über das kulturelle Leben in der Volksrepublik verschoben – von der Bestrafung von AbweichlerInnen zur Belohnung der Mitmachenden.


«Ich habe mein halbes Leben verschwendet», schrieb einst ein Mann in seinem zerfallenden Haus nordwestlich vom heutigen Beijing. Viele Jahre schrieb er weiter – und wäre ein paar Mal fast verhungert. Als er starb, hatte er achtzig Kapitel, gut drei Viertel seines Buches, geschrieben. Veröffentlicht wurden sie von anderen – anonym. Über hundert Jahre sollte es dauern, bis herausgefunden wurde, wer der wahre Autor des Buches gewesen war.

Cao Xueqin hiess der Mann. Er lebte ungefähr von 1720 bis 1760. Sein Buch «Die Geschichte des Steins», auch bekannt unter «Der Traum der roten Kammer», gilt als Chinas wichtigster Roman. Für manche ist es der älteste feministische Roman der Welt, für andere geht es vor allem um die Probleme der Jugend. Wegen der Beschreibungen des aristokratischen Lebens mag es für Gärtnerinnen um Gartenarchitektur oder für Köche um die chinesische Küche gehen. Nur eins ist sicher: Dass ChinesInnen spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts der Meinung sind, dass ein guter Schriftsteller so richtig arm sein muss.

«Verlorene» Sprache

«Geldverdienen war für chinesische Schriftsteller immer nur Nebensache – unter dem Konfuzianismus wie unter dem Maoismus», sagt Wolfgang Kubin, Sinologie-Professor an der Universität Bonn. «Aber um die Chinesen nach 1989 von der Politik abzulenken, hiess es 1992: ‹Ihr könnt nun Geld verdienen – so viel ihr wollt.› Viele SchriftstellerInnen gingen dann lieber in die Hafenstädte oder an die Börsen. Die anderen schauten, was der Markt wollte, und setzten auf Sex and Crime.» Für Kubin das Schlimmste: «Die Schriftsteller werden nach Zeichen bezahlt – Qualität ist kein Kriterium mehr.»

Das war nicht immer so. 1919 wandten sich chinesische SchriftstellerInnen von der klassischen Schriftsprache ab. Wichtigster Vertreter dieser Generation war der 1881 geborene Lu Xun. Er war nicht nur daran beteiligt, eine neue Sprache zu «erfinden», sondern schrieb auch sehr politische Texte und fasste sich dabei kurz. Bis zum Ende der Republik 1949 blühte diese moderne Literatur. Nach der Kulturrevolution, ab 1979, wurde versucht, wieder an diese Periode anzuknüpfen.

Das ist vergleichbar mit der Situation in Deutschland nach 1945, als Heinrich Böll erklärte, die deutsche Sprache sei zerstört und müsse neu erfunden werden. Eine ähnliche Funktion hätte in China Gao Xingjian einnehmen können, der 28 Jahre nach Böll im Jahre 2000 den Literaturnobelpreis verliehen bekam. In seinem Roman «Der Berg der Seele» schildert er den Verlust an Geschichte und Geschichten. Vielleicht wäre diese Rolle auch Bei Dao zugefallen: Als einer der wenigen knüpft er an die berühmte Lyrik der Tang-Zeit an, in der Landschaften und Gefühle untrennbar miteinander verwoben sind.

So werden Sie reich!

Alle diese Hoffnungen endeten im Juni 1989 – Gao Xingjian ist inzwischen Franzose; Bei Dao lebt in Hongkong und hat Einreiseverbot für die Volksrepublik.

Was für SchriftstellerInnen gilt, betrifft auch Verlage – und den Buchhandel. Der ist fest in staatlicher Hand. Neben den 14 000 Filialen der einzigen landesweiten Kette Neues China ist oft kein Platz mehr für andere Läden: In den meisten Städten gibt es sonst nur noch kleine Geschäfte, die Lernmaterial, Mängelexemplare und Kung-Fu-Serien verkaufen. Noch bis vor zehn Jahren existierten in den Grossstädten und in der Nähe der Universitäten gut sortierte private Buchläden. Inzwischen sind diese verschwunden oder in schicke Buchcafés umgebaut worden. Dort arbeiten auch keine StudentInnen mehr, sondern unbedarfte Zwanzigjährige, die im Computer arglos nach Titeln wie dem Tagebuch von Zhao Ziyang, dem 1989 gestürzten Vorsitzenden der Kommunistischen Partei, oder gar nach «Meine Westgebiete, Dein Ost-Turkestan» von Wang Lixiong suchen – Bücher, die in der Volksrepublik verboten sind.

«Wie viele Bücher verkauft werden, ist schwer zu sagen», schreibt der 27-jährige Schriftsteller Han Han in einem Essay: «Nicht nur dass die Journalisten das nicht wissen, der Schriftsteller selbst weiss es nicht. Am schlimmsten ist aber, wenn auch der Verlag keine Ahnung hat und nur die Druckerei Bescheid weiss.»

Han Han weiss, wie man reich werden kann: «Suchen Sie sich eine Druckerei als Partner. Kopieren Sie einige der Romane aus dem Internet, wählen Sie einen Schriftsteller, dessen Bücher sich gut verkaufen, denken Sie sich einen Titel aus. Und dann veröffentlichen Sie. Wenn Sie faul sind, reicht ein Internetroman – veröffentlichen Sie den unter dem Namen mehrerer Schriftsteller, das ist effizienter. Vorsichtig geschätzt können so 15 Bücher im Monat veröffentlicht werden, jedes verkauft sich gut 50 000-mal, pro Buch zwei RMB Yuan Gewinn, pro Monat 1,5 Millionen ... An alle, die jetzt in das Geschäft einsteigen: Denkt dran, dass es meine Idee war, und lasst mich selbst in Frieden.»

Seiner Bitte wurde nicht entsprochen. Jedes Jahr kommen etwa 15 neue Bücher von ihm auf den Markt. Sein erster Roman, «Die drei Türen», ist auch zu lesen unter Titeln wie «Innerhalb der drei Türen», «Ausserhalb der drei Türen», «Hinter den drei Türen», «Vor den drei Türen», «In den drei Türen», «Drei Türen Sonderausgabe», «Eintreten durch die drei Türen», «Das Geheimnis der drei Türen». Ähnliche Sammlungen finden sich zu allen seinen Büchern. Und dann gibt es auch noch die, zu denen den Fälschern keine Variation mehr eingefallen ist: «Das ist Han Han», «Neuste Beiträge Han Hans». Und so fort. Keins dieser Bücher hat er selbst geschrieben – und keins ist so richtig gut.




Die Grenzen der Meinungsäusserung

Der Historiker Qin Hui über die Folgen der Marktwirtschaft für die Meinungs- und Pressefreiheit in China:

«In der Marktwirtschaft sind auch Literaten nicht mehr unbedingt vom ‹Getreide des Kaisers› abhängig, auf einmal können sie vom Verkauf ihrer Texte leben. Auch einige aus den offiziellen Organisationen des literarischen Lebens ausgeschlossene Intellektuelle konnten genug Geld verdienen, um in ihrer freien Zeit weiter zu schreiben, wenige bekamen dafür sogar aus der Privatwirtschaft genug Unterstützung.

Heute bestraft der Staat nur noch selten Autoren, er unterdrückt lieber die Medien. Ausser bei wenigen Vorfällen, wie der Verhaftung Liu Xiaobos wegen der Charta 08, bleiben viele Autoren ‹irrgläubiger› Schriften unbehelligt. Überprüft und bestraft werden aber die Redaktoren und Herausgeber, das geht bis zur Schliessung von Verlagen. Das Regime ist der Meinung, dass die Kritik an Verfassern dazu führt, dass sie nur noch bekannter werden. Wenn aber die Medien gehorchen, dann haben die Verfasser keine Möglichkeit mehr, ihre Meinungen zu veröffentlichen.

Theoretisch ist der zulässige Rahmen der äusserbaren Meinungen weit gesteckt. Bei den Wirtschaftswissenschaften ist die westliche Lehre längst Mainstream. Wenn eine Äusserung aber die konkreten Interessen einer einflussreichen Abteilung, Arbeitseinheit oder eines monopolistischen Konzerns beeinträchtigt, können wirtschaftliche Berichte schnell gefährlich werden. Die Grenzen der Meinungsäusserung liegen weniger bei Standpunkten als eher bei Nachrichten.

Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung hat sich die staatliche Kontrolle über das kulturelle Leben verschoben – weg von der strengen Bestrafung der Abweichler hin zur Belohnung der Mitmachenden. Die Gehälter für Intellektuelle sind meist nicht sehr hoch. Alle Arten von ‹Preisgeldern› aber, besonders die vom Staat zugeteilten ‹administrativen Kosten für Projekte›, steigen mit atemberaubender Geschwindigkeit. Staatliche Projekte und Preisgelder zu erhalten, bedeutet oft, mit einem Schlag reich zu werden. Seine eigenen Ansichten zu bewahren und unabhängig zu forschen, führt dagegen meist in Armut.

Früher lebten die ‹ketzerischen Gelehrten› unter grossen Gefahren, konnten aber einen guten Ruf in ihrer Gesellschaft erlangen. ‹Lohnschreiber› waren vielleicht mächtig, aber nicht unbedingt reich. Im Vergleich dazu sind die Risiken für Erstere etwas kleiner geworden. Die ‹Lohnschreiber› haben immer noch Macht und Einfluss, und ihr Reichtum macht sie zum Ziel der Bewunderung vieler. Die Marktwirtschaft hat uns bezüglich Meinungsäusserungsfreiheit viele Verbesserungen gebracht – aber für das unabhängige Denken an sich ist sie zur Belastung geworden.»

Qin Hui ist Professor für Geschichtswissenschaften an der Tsinghua-Universität in Beijing.


Was will der Markt? – Keine Romane!

Die aktuellen Bestseller in Chinas grösstem Buchladen Neues China, dem Beijinger Buch-Hochhaus an der Strasse des langen Friedens:

Platz 1: «Selber Heilen mit der Hand» von Yang Yi. Wie man sich durch traditionelle chinesische Medizin vor Erkrankung schützen oder selbst heilen kann. Im September verkaufte Exemplare: 6015. Preis: 29 RMB Yuan

Platz 2: «Zhu Rongji beantwortet Fragen von Journalisten» vom Volksverlag. Zusammenfassung von Interviews, die Zhu Rongji in seiner Zeit als Vizevorsitzender des Staatsrats und Premierminister von 1993 bis ins Jahr 2003 gab. Im September verkaufte Exemplare: 6007. Preis: 59 RMB Yuan

Platz 3: «Geschichte – was ist das? Yuan Tengfei spricht über die chinesische Geschichte, Band 1» von Yuan Tengfei. Der bekannteste Internetgeschichtslehrer Chinas schreibt unterhaltsam über Episoden aus Chinas Geschichte. Im September verkaufte Exemplare: 1531. Preis: 32,80 RMB Yuan

Platz 4: «Das stärkste aller Länder – Chinas Hoffnung, Realität und Strategie» von Liu Tao. Politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Aspekte des Aufstiegs Chinas zum stärksten Land der Welt. Der Autor rechnet damit, dass China spätestens 2040 dieses Ziel erreicht haben wird. Im September verkaufte Exemplare: 1527. Preis: 28 RMB Yuan

Platz 5: «Das HOW-Zeitalter – die Methode ist alles entscheidend» von Dov Seidman. Die chinesische Übersetzung des Buchs «Die La-Ola-Welle». Im September verkaufte Exemplare: 1509. Preis: 35 RMB Yuan

Platz 6: «Kampf der Währungen 2: Gold ist mächtiger als alles» von Song Hongbing. Für den Zeitraum der letzten 300 Jahre beschreibt der Autor, wie es dazu kommt, dass manche Währungen «mächtiger» werden als andere, und verrät Geheimnisse aus innersten Kreisen der Finanzwelt. Im September verkaufte Exemplare: 1373. Preis: 39 RMB Yuan

Platz 7: «Die Abenteuer des kleinen Prinzen. Band 1: Der Wiedergeborene des Kometen» von Zhou Yiwen. Ein Kinderbuch – Bao Xiaolong verfügt über Zauberkräfte und muss diese im Kampf gegen bösen Hexenmeister zum Einsatz bringen. Im September verkaufte Exemplare: 1339. Preis: 12,80 RMB Yuan

Platz 8: «Versteckt im Büro» von Lu Qi. 32 wichtige «Überlebensregeln» für den Arbeitsplatz. Mit Fallbeispielen und Analysen. Im September verkaufte Exemplare: 1291. Preis: 28 RMB Yuan

Platz 9: «Die Vorgehensweise Xu Daos» von Xu Dao. Sammlung juristischer Fälle aus der Arbeitspraxis der Rechtsanwältin Xu Dao. Im September verkaufte Exemplare: 1240. Preis: 28 RMB Yuan

Platz 10: «Erleichtert sein – Meister Sternenwolkes Lektionen über ein glückliches Leben». Allgemeine Lebensberatung auf der Grundlage buddhistischer Lehre. Im September verkaufte Exemplare: 1059 Stück. Preis: 28 RMB Yuan

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Besrpechung der Romane von Qian Zhonghsu, Yu Hua und Li Er siehe hier.