Kommentar: Die enttäuschten Liebhaber
Was die Klimaveränderung mit Wissenschaft und mit Wahrheit zu tun hat.
«Weisst du, was 1974 im ‹Spiegel› stand?», raunte mir jüngst ein Journalistenkollege zu: Die Gletscher würden wachsen und die Alpen «vereisen», weil die Luftverschmutzung eine globale Abkühlung bewirke (siehe hier). Was der Kollege, der «auch an den Klimawandel geglaubt hatte», natürlich sagen wollte: Gestern fürchtete man eine Abkühlung, heute eine Erwärmung – wer weiss schon, was morgen sein wird?
Ende 2009 hat ein Hacker E-Mails ins Netz gestellt, die einige führende KlimaforscherInnen in schlechtem Licht erscheinen lassen. Kurz darauf wurden grobe Fehler im Bericht des Uno-Klimarats IPCC bekannt. Seither verspüren die «KlimaskeptikerInnen» Aufwind. Vor allem in den USA haben die jüngsten Enthüllungen zu einer regelrechten Hexenjagd gegen KlimawissenschaftlerInnen geführt.
«KlimaskeptikerInnen» bedienen sich gerne der Instrumente der Wissenschaftskritik. Belegen nicht die gehackten E-Mails, dass Resultate zurechtgebogen wurden? Dass es in der Forschergemeinde einen starken Gruppendruck gibt, das zu sagen, was erwartet wird? Sind die KlimaforscherInnen nicht geneigt, zu dramatisieren, weil sie so zu Forschungsgeldern kommen? Zeigt nicht die Eiszeitfurcht von 1974, dass hinter solchen Ängsten historische Moden stehen?
Als Wissenschaftsjournalist argumentiere ich immer wieder wissenschaftskritisch. Es war mir stets ein wichtiges Anliegen, gegen die Gleichsetzung von «wissenschaftlich» und «wahr» anzukämpfen. Und jetzt finde ich mich in der Position wieder, «die Wissenschaft» gegen ihre «SkeptikerInnen» zu verteidigen. Geht das zusammen?
Ich bin der Meinung, dass es nicht genügt, zu sagen: Das IPCC vereinigt die besten WissenschaftlerInnen, also muss stimmen, was es sagt. Al Gores Spruch «Die Debatte ist vorüber» hielt ich immer schon für Unfug. Trotzdem «glaube» ich dem IPCC mehr als beispielsweise dem Genforscher, der für Monsanto arbeitet. Weshalb?
Der IPCC-Bericht enthält in der Tat einige Übertreibungen; in weit mehr Punkten aber hat die Realität den drei Jahre alten Bericht zum Schlechteren überholt. Tatsächlich wirken ausserwissenschaftliche Interessen auf die Klimawissenschaften ein – aber gerade die gegenwärtige Kampagne zeigt, auf welcher Seite die wirklich mächtigen Interessen sitzen. Und dass der «Spiegel» 1974 eine Abkühlung befürchtete, beweist gar nichts: Die These, dass die Luftverschmutzung kühlt, gilt heute noch – dieser Effekt hat sich mit dem Treibhauseffekt überlagert und dazu beigetragen, dass die Temperaturen in der Nachkriegszeit minim sanken. Aber seither steigen sie, das ist messbar, und globale Messungen lassen sich durch keine noch so grosse Verschwörung verfälschen.
Aber genügt das? Haben nicht die E-Mails gezeigt, dass in den Klimawissenschaften getrickst wird? Bleibt die Glaubwürdigkeit der Klimaforschung nicht angeschlagen? Wer so argumentiert, hat Wissenschaftskritik falsch verstanden. Natürlich ist es wichtig, zu wissen, dass die meisten Studien, die die Unbedenklichkeit von Medikamenten belegen, von Herstellern dieser Medikamente finanziert sind. Denn man weiss, dass derart finanzierte Studien tendenziell zu positiv ausfallen. Aber für die einzelne Studie beweist das gar nichts.
Letztlich sind bedingungsloser Glauben an «die Wissenschaft» und das Leugnen ihrer Erkenntnisse zwei Seiten einer Medaille: Beide Haltungen huldigen einem idealisierten Wissenschaftsverständnis. Sie gehen davon aus, Wissenschaft bringe widerspruchsfreie Resultate hervor, die unabhängig von ihrem sozialen, kulturellen, historischen Kontext wahr sind. Was dem Ideal nicht entspricht, kann nicht wissenschaftlich sein.
In Wirklichkeit ist Wissenschaft ein soziales System – abhängig von der Gesellschaft, in der sie stattfindet, ausgeführt von Menschen, die weder besser noch schlechter, weder gescheiter noch dümmer sind als andere. Skepsis ist in diesem System Tugend (deshalb beanspruchen die «KlimaskeptikerInnen» diesen Begriff ja für sich). Geht man von einem realistischen (skeptischen) Wissenschaftsverständnis aus, kann man Fehler benennen, kritisieren, sich sogar darüber empören. Man kann die Fehler dann aber auch einordnen – und braucht sich nicht wie ein enttäuschter Liebhaber von der Wissenschaft gleich ganz abzuwenden.