Migrationsforschung: «Weg mit den Barrieren»
Wann begreift die Schweiz, dass sie ein Einwanderungsland ist? Der Autor und Rassismus- und Migrationsforscher Mark Terkessidis plädiert dafür, endlich die gesellschaftlichen Institutionen den Realitäten anzupassen.
WOZ: Mark Terkessidis, in Ihrem neuen Buch «Interkultur» wenden Sie sich gegen den Begriff der Integration. Was stört Sie daran?
Mark Terkessidis: Das Integrationskonzept stammt aus den siebziger Jahren. Es ist doch seltsam, wenn man dreissig Jahre später die gleiche Problemagenda noch einmal auflegt und glaubt, mit denselben Massnahmen wie damals gegensteuern zu können. Ich kritisiere vor allem die von damals übernommene Vorstellung, es gebe eine Gruppe in der Gesellschaft – «Personen mit Migrationshintergrund» –, die bestimmte Defizite aufweisen; Defizite, die identisch seien mit jenen in den Siebzigern: mangelnde Sprachbeherrschung, patriarchale Familienverhältnisse, parallelgesellschaftliche Strukturen; und dass die grosse Aufgabe darin bestehe, diese Defizite zu beseitigen.
Können Sie ein konkretes Beispiel geben?
Man geht davon aus, dass es in Institutionen wie zum Beispiel Kindergarten oder Schule eine Norm gibt – eine «deutsche», eine «Schweizer» Norm –, von der Kinder mit Einwanderungshintergrund abweichen. Ihre Defizite sollen durch Sondermassnahmen kompensiert werden, damit sie beim Schuleintritt das gleiche Niveau ausweisen wie das Normkind. Diese Logik ist heute sinnlos geworden. Zum einen gibt es einen dramatischen demografischen Wandel: Bei den Untersechsjährigen sind Kinder mit Migrationshintergrund in den grossen deutschen Städten in der Mehrheit. Es gibt also keine Norm mehr. Zum anderen ist die Kompensationslogik falsch. Die Institution wird nicht grundsätzlich reformiert, um die Vielfalt angemessen zu berücksichtigen, sondern die «anderen» sollen mit Sondermassnahmen verbessert und angepasst werden. Integration erscheint dann als zusätzliche Leistung und somit automatisch als lästige Angelegenheit. Zudem werden Leute so entmündigt – es gibt ja eine regelrechte «Helferindustrie» in Sachen Integration.
Grossbritannien verfolge ein ganz anderes Modell, schreiben Sie: Was wird dort besser gemacht?
In Grossbritannien hat man sich eine Logik angewöhnt, die so etwas wie «Diversity» – Vielfalt – immer mitdenkt. Dort werden die Institutionen darauf befragt, ob sie der Vielfalt auch gerecht werden. Die primäre Frage ist dann eben nicht, was Kinder mit Migrationshintergrund für Defizite haben, dass sie in der Schule nicht vorankommen. Die Frage lautet: Was gibt es für unsichtbare, strukturelle Barrieren in den Institutionen, die bestimmte Leute ausschliessen?
Und wer hat diese Frage an die Institutionen herangetragen?
Es gab in Grossbritannien schon zu Beginn der achtziger Jahre eine politische Mobilisierung rund um den Begriff «black». Leute mit Einwanderungshintergrund haben sich massiv gegen Diskriminierung und für gleiche Rechte eingesetzt. Der rassistische Mord an einem schwarzen Jugendlichen, Stephen Lawrence, zu Beginn der neunziger Jahre hat dann zu einem Umdenken geführt. Die Polizei hatte in diesem Fall Zeugen nicht gehört und die Eltern unsensibel behandelt, sodass es zu keiner Verurteilung kam. Schliesslich gab das Innenministerium eine Untersuchung bei Lordrichter McPherson in Auftrag, die zu dem Ergebnis kam, dass es in der britischen Polizei «institutionellen Rassismus» gebe. Im Fokus standen also nicht einzelne Polizisten und ihr absichtlich diskriminierendes Verhalten, sondern die Routinen der Polizei, denen bestimmte selbstverständliche Wahrnehmungsmuster innewohnten, die dann dazu geführt hatten, dass der Fall verschleppt wurde.
Wie kann man solche strukturellen Barrieren überwinden? Zum Beispiel indem man andere kulturelle Perspektiven übernimmt?
Ich bin nicht der Auffassung, dass es reicht, oder dass es überhaupt ein Ziel an sich sein sollte, andere kulturelle Perspektiven zu übernehmen oder kulturelle Unterschiede per se zu respektieren. Nicht alle kulturellen Unterschiede sind gute Unterschiede. Und man muss sie nicht konservieren. Oft handelt es sich ja auch um Ungleichheit. Mir geht es primär darum, dass unterschiedliche Voraussetzungen und Hintergründe im Betrieb der gesellschaftlichen Institutionen berücksichtigt werden – dass diese Institutionen sozusagen für alle Personen «barrierefrei» werden. Es geht eben nicht darum, dass alle ihre Unterschiede behalten, dass wir eine deutsche, eine türkische und eine albanische Flagge nebeneinander hängen. Es geht darum, einen neuen gemeinsamen Raum zu erfinden. In dem Moment, wo Barrierefreiheit hergestellt wird, wo es eine höhere und breitere Partizipation gibt in dieser Gesellschaft, gibt es auch Veränderung und Erneuerung.
Und welche Funktion weisen Sie der Kultur in diesem Prozess zu?
Zum einen geht es um die Frage der Organisationskultur, wie man sie etwa aus der Betriebs- und Organisationspsychologie kennt. Das ist eine Debatte, die in Unternehmen beim Thema «Diversity» stark im Vordergrund steht: Welche Personengruppe wird im Unternehmen implizit privilegiert? Welche unausgesprochenen Vorstellungen über die Geschichte, die Mitarbeiter, die Kunden et cetera kursieren? Sind diese Annahmen zeitgemäss, oder führen sie dazu, dass ein grosser Teil der Individuen ihr Potenzial nicht ausschöpfen können? Denn das sollte ja das Ziel sein. Insofern will ich mit dem Begriff «Interkultur» nicht primär auf ethnische Unterschiede hinaus, sondern auf eine Veränderung der Kultur der Institution in Bezug auf unterschiedliche Voraussetzungen und Hintergründe.
Wie unterscheidet sich Ihr Konzept der Interkultur von dem des Multikulturalismus?
Wenn in Deutschland über interkulturelle Öffnung gesprochen wird, sind gewöhnlich die Verwaltung, die Sozialdienste oder die Polizei gemeint – Organisationen also, von denen man annimmt, dass sie Berührungspunkte mit «dem Migranten» haben. Da geht es dann oft darum, den einheimischen Mitarbeitern dieser Institutionen eine Art ethnisches «Rezeptwissen» zur Verfügung zu stellen: Stichwort «interkulturelle Kompetenz». Das reicht natürlich nicht, weil es die grundsätzlichen Verhältnisse in diesen Institutionen nicht antastet.
Was braucht es darüber hinaus?
Ich möchte die interkulturelle Öffnung auf alle Institutionen ausweiten – vor allem in die Kulturinstitutionen, weil in ihnen sehr stark das Selbstverständnis der Gesellschaft reflektiert wird. Zurzeit kommen die Subventionen immer noch hauptsächlich einer bestimmten Gruppe zugute, dem sogenannten Bildungsbürgertum, und dessen Weltsicht dominiert entsprechend. Auch hier kann man von Grossbritannien lernen: Dort ist auf der Basis des Prinzips der «social inclusion» angeregt worden, dass sich diese Institutionen ein anderes Publikum erschliessen und sich in diesem Prozess auch intern verändern müssen.
In der Schweiz scheint die Entwicklung genau in die entgegengesetzte Richtung zu laufen: Hier ist per Volksabstimmung der Bau von Minaretten verboten worden. Es scheint, dass der von Rechtspopulisten propagierte «Kulturkampf» in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist ...
In der Schweiz ist lange nicht anerkannt worden, dass sie ein Einwanderungsland ist. Für den Populismus gibt es natürlich auch Ursachen im schweizerischen politischen System selbst. Aber dass sich dies auf dem Rücken der Migranten abspielt, hat sehr viel damit zu tun, dass man die Fiktion immer weiter aufrechterhält, dass die Migranten wieder nach Hause gehen. In Deutschland hat man vor zehn Jahren von dieser Fiktion Abstand genommen. Seither muss man eben auch mit dem Minarett leben. Überhaupt ist die Minarettdebatte an sich ja nicht der Punkt. Vielmehr geht es um die Feststellung: Das gehört nicht hierher, das gehört nicht zu «uns». Und das ist nicht nur falsch, sondern im Sinne der Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft geradezu verheerend.
Und warum sind gerade Menschen aus ländlichen Gebieten, in denen es sehr wenig Migranten und Migrantinnen gibt, für populistische und rassistische Parolen anfällig?
Ich glaube, dass die Leute sich bedroht fühlen. Die Angst vor den Minaretten ist auch die Angst vor der Stadt, vor der Vielfalt und der Entfremdung im Moloch. Die Leute haben das Gefühl, sie seien im Gefolge der Globalisierung gegenüber den städtischen Gebieten ins Hintertreffen geraten, sie seien von den Entwicklungen abgehängt worden und könnten nur ohnmächtig zuschauen. Und dieses Gefühl wird verkörpert von den Migranten, die von Politik und Medien ohnehin gerne als «Problem» dargestellt werden. Ein «Problem», das um so phantasmatischer wird, je weniger man mit ihm zu tun hat: Rassismus ist nachweislich da am virulentesten, wo es am wenigsten Einwanderung gegeben hat. Darauf kann Populismus aufbauen. Insofern ist es auch falsch, dem Populismus ständig Zugeständnisse zu machen. Denn diese Art von Politik macht die Arbeit an einer Gemeinschaft der Zukunft unmöglich. Und um die geht es schliesslich – nicht darum, was «uns» in der Vergangenheit mal zusammengehalten hat.
Der Psychologe und Autor Mark Terkessidis (43) lebt in Berlin und ist griechischer Herkunft. Migrations- und Rassismusforschung gehören zu seinen thematischen Schwerpunkten. Eben ist sein neustes Buch zum Thema erschienen. Mark Terkessidis: «Interkultur». Suhrkamp Verlag. Berlin 2010. 220 Seiten. Fr. 22.50.