Klimawandel: Wenn plötzlich zu viele Walrosse kommen

Nr. 40 –

Das Eis wird immer dünner: In der Arktis ist der Klimawandel schon deutlich sichtbar. Erstmals überhaupt waren in der zweiten Septemberhälfte gleichzeitig sowohl die Nordost- wie auch die Nordwestpassage mit Schiffen befahrbar.


Die Menschen von Point Lay haben ein Problem. «Es stinkt», sagt Sophie Henry, die zur Sprecherin der Dorfbevölkerung an der Nordküste Alaskas gemacht wurde, um den JournalistInnen Rede und Antwort zu stehen. Über zehntausend Walrosse bevölkern derzeit den Strand des Dörfchens. Für gewöhnlich leben die Tiere auf See, wo sie im Sommer das Eis vor den Küsten als Stützpunkte nutzen. Von dort tauchen sie hinab auf den Grund des flachen Küstenmeeres und durchwühlen ihn nach Würmern und Muscheln.

Doch in diesem Jahr gibt es kein Eis. Schon wieder nicht. Die Küsten Alaskas und in geringerem Masse auch jene Ostsibiriens erleben zum dritten Mal in vier Jahren einen Ansturm der Walrosse. Dass das Meereis sich im Sommer zurückzieht, ist an vielen Küsten der Arktis nichts Ungewöhnliches, auch in Point Lay nicht. Aber in den letzten Jahren ging der Rückzug weiter als je zuvor und stellte die mächtigen Tiere vor die Alternative: Entweder folgen sie dem Eis in tiefere Gewässer, von wo sie womöglich den Grund nicht mehr erreichen können – oder sie setzen sich an Land ab, wo sie erheblich mehr Aufwand haben, ins Wasser zu kommen.

Die Walrossepisode ist symptomatisch für eine sich rapide verändernde Arktis. Seit den späten achtziger Jahren sagen die Klimamodelle voraus, dass die Treibhausgase mehr als alles andere die Arktis erwärmen werden. Tatsächlich hat sich in den letzten Jahren die Arktis als Ganzes doppelt so schnell erwärmt wie der Rest des Planeten. In einigen arktischen Regionen ist der Temperaturanstieg, besonders in den letzten beiden Jahrzehnten, sogar noch schneller. Der Wandel hoch im Norden ist seit einigen Jahren deutlich spürbar: Die Jagdsaison verschiebt sich, Tiere verändern ihr Verhalten, und ganze Küstendörfer müssen umgesiedelt werden, weil der Permafrost das Ufer nicht mehr schützt, an dem zudem die Brandung mehr als üblich nagt.

Vom Atlantik in den Pazifik

Am augenfälligsten ist der Rückgang des Meereises. Seit den siebziger Jahren wird die Eisbedeckung mehrmals täglich von Satelliten erfasst. Ein Strahlungsmessgerät scannt die Erdoberfläche nach der Mikrowellenstrahlung ab, die von der Temperatur des Untergrunds abhängig ist. Aus diesen Daten die Ausdehnung der Eisfläche herauszufiltern, ist nicht ganz trivial. Als vor fast vierzig Jahren die ersten Satelliten mit den entsprechenden Messgeräten auf Erdumlaufbahnen geschossen wurden, musste man erst einmal lernen, die Abstrahlung von Wasser, Wolken und Eis auseinanderzuhalten – und dann auch noch durch die Wolkendecke zu schauen.

Interesse daran hatten übrigens nicht nur WissenschaftlerInnen, die mehr über die Arktis lernen wollten, sondern auch das US-Militär. Denn im Eismeer waren sich die beiden Hauptkontrahenten des Kalten Kriegs, die Sowjetunion und die USA, ganz nah. Schon seit den fünfziger Jahren haben beide Seiten einander mit atomar angetriebenen U-Booten unter dem Eis belauert. Gleichzeitig vermassen sie – auch in Hinblick auf die militärische Anwendung – die Eisdicken mittels Sonar. Nach dem Ende des Kalten Kriegs wurden diese Daten Anfang der neunziger Jahre veröffentlicht. Seitdem wissen wir, dass das Eis auf dem arktischen Ozean bereits seit Jahrzehnten dünner wird.

Das passt ganz gut zu dem, was die Satellitenmessungen zeigen. Seit Ende der siebziger Jahre sind diese so zuverlässig, dass sie ein lückenloses Bild der Eisbedeckung ergeben. Auf den Servern einiger Polarinstitute in den USA kann man sich via Internet kleine Filmchen anschauen, die aus diesen Daten zusammengesetzt werden. Die zeigen recht anschaulich, wie sich das Eis im Rhythmus der Jahreszeiten ausdehnt und wieder zusammenzieht.

Letzteres tut es – und hier liegt der springende Punkt – von Jahr zu Jahr mehr. Das Eisminimum, das für gewöhnlich Anfang der zweiten Septemberhälfte erreicht wird, fällt immer kleiner aus. Zwar nicht in monoton absteigender Folge, denn natürlich fallen auch in der Arktis die Sommer mal kälter, mal weniger kalt aus, mal wehen die Winde vorteilhaft für das Eis, mal wird wochenlang besonders viel Eis aus der Framstrasse östlich von Grönland in den Atlantik hinausgedrückt. Doch der abnehmende Trend ist trotz aller Schwankungen klar erkennbar.

Die bisher geringste Ausdehnung wurde im September 2007 registriert: 4,27 Millionen Quadratkilometer. Das waren 23 Prozent weniger als das bis dahin kleinste Minimum und fast 40 Prozent unter dem Durchschnitt der Jahre 1979 bis 2000. Heuer hat sich das Eis auf etwa 4,7 Millionen Quadratkilometer zurückgezogen, also nicht ganz so weit wie 2007. Dafür sind 2010 erstmals Nordwest- und Nordostpassage gleichzeitig offen gewesen. Noch vor wenigen Jahren war sowohl im kanadischen Archipel als auch entlang der sibirischen Küste die Durchfahrt vom Pazifik in den Atlantik oder umgekehrt ohne Eisbrecher unmöglich.

In diesem Jahr verlockte die neue Lage schon den ersten Kreuzfahrer, sich weit in den Norden vorzuwagen. In der Nähe des Eskimostädtchens Kugluktuk lief das Schiff dann auch prompt auf einen Felsen auf – es hatte sich wohl leichtsinniger Weise auf die Spuren des berühmten norwegischen Polarforschers Roald Amundsen begeben wollen.

Ihm und seiner Mannschaft war von 1903 bis 1906 erstmals die Durchfahrt durch die Nordwestpassage gelungen – in besonders flachen Schiffen. Dafür hatte er allerdings zweimal im Eis überwintern und seine Route durch flache Küstengewässer wählen müssen. Für die Schifffahrt wesentlich besser geeignet, da tiefer, sind der Melville-Sund und der Parry-Kanal weiter nördlich. Bis vor wenigen Jahren waren sie aber selbst im Sommer von Eisbarrieren versperrt, die für gewöhnliche Schiffe undurchdringlich sind. Heuer ist diese Wasserstrasse jedoch fast zwei Monate lang offen gewesen. Erst in der letzten Septemberwoche hat sie sich wieder zu schliessen begonnen.

Der Schwund des arktischen Meereises wird in den nächsten Jahrzehnten Auswirkungen weit über die Arktis hinaus haben. Im Sommer erhält die Arktis eine hohe Sonneneinstrahlung, weil nördlich des Polarkreises die Sonne für viele Wochen niemals hinter dem Horizont verschwindet. Noch sorgt die Eisbedeckung mit ihrer hellen Oberfläche dafür, dass rund sechzig Prozent der Sonnenstrahlung direkt in den Weltraum reflektiert wird, also zur Erwärmung nichts beitragen kann. Ganz anders hingegen, wenn das Wasser nicht mehr bedeckt ist: Dann wird der allergrösste Teil der Sonnenenergie im Ozean gespeichert und erwärmt das Klima in den angrenzenden Küstenregionen.

Dort werden mittelfristig grössere Teile des Permafrostbodens auftauen, in dem grosse Mengen organischer Stoffe eingefroren sind. Zersetzen sich diese, werden die Klimagase Kohlendioxid und Methan freigesetzt. Das verstärkt den Treibhauseffekt weiter, und zwar ziemlich rasch. Sergej Zimov, der im nordsibirischen Cherskij eine kleine Forschungsstation leitet, hat in Experimenten herausgefunden, dass zwischen 91 und 365 Milliarden Tonnen Kohlenstoff jährlich entweichen würden, wenn der ganze Permafrost auf einen Schlag auftaute. Natürlich geschieht das so selbst in einem tropischen Klima nicht. Aber die Zahlen sind angesichts von 6,5 Milliarden Tonnen Kohlenstoff, die die Menschheit derzeit in Form von CO2 emittiert, dennoch sehr beeindruckend.

Selbst ohne diesen Effekt, den WissenschaftlerInnen als positive Rückkoppelung bezeichnen, wird die arktische Erwärmung dazu führen, dass das Inlandeis auf dem benachbarten Grönland immer schneller abtaut. Und in den Gletschern der Insel ist immerhin genug Wasser gefroren, um weltweit den Meeresspiegel um fünf bis sechs Meter ansteigen zu lassen. Schmilzt hingegen das Meereis, hat das nur einen geringfügigen direkten Einfluss auf den Meeresspiegel, weil Meereis annähernd so viel Wasser verdrängt, wie in ihm gefroren ist.

Rascher und höher als erwartet

Anfang August ist im Norden Grönlands ein riesiges Eisstück des Petermann-Gletschers abgebrochen – eines der vielen Menetekel, die uns in diesem Jahr vor dem Klimawandel gewarnt haben. Zwar erhöht auch dieses rund 300 Quadratkilometer grosse und mehrere Hundert Meter dicke Eisfeld nicht unmittelbar den Meeresspiegel. Aber sein Abbruch führt nun dazu, dass der Gletscher künftig wesentlich schneller aus dem Inland zur Küste fliessen und so eine Tendenz verstärken wird, die bereits an vielen grönländischen Gletschern in den letzten Jahren beobachtet worden ist.

Konrad Steffen, der seit den neunziger Jahren ein Messnetz auf Grönland aufgebaut und Sommer für Sommer vor Ort beobachtet hat, wie die Gletscher immer schneller Richtung Meer fliessen, geht von über einem Meter Meeresspiegelanstieg bis 2100 aus. Das ist deutlich mehr, als im letzten Bericht des Uno-Klimarates steht. Damals war man noch ausdrücklich davon ausgegangen, dass der Eisverlust im gleichen Tempo wie bisher vonstattengehen wird.

Auch zahlreiche KollegInnen von Steffen, unter ihnen etwa Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, gehen aufgrund der gegenwärtigen Emissionstrends inzwischen davon aus, dass ein Meter Anstieg in den nächsten neunzig Jahren die wahrscheinlichste Variante ist. Viele Hundert Millionen Menschen, die weltweit an den Küsten leben, müssten umgesiedelt werden. Ausser wir schaffen es endlich, die Treibhausgasemissionen drastisch zu reduzieren.