Was tun im Netz?: Im digitalen Tiefschlaf

Nr. 50 –

Die digitale Revolution von Wikileaks? Cyberwar? Oder bloss virtuelles Steineschmeissen? Die Aktionen der Wikileaks-SympathisantInnen rücken Fragen der Vernetzung in den Vordergrund.


Der Auftritt hatte eine komische Note. Als der sechzigjährige Verteidigungsminister Ueli Maurer vergangenen Freitag den 59-jährigen Kurt Nydegger zum Projektleiter der Cyber Defence ernannte, fragte ein Journalist nach der Schweizer Abhängigkeit von US-amerikanischen Unternehmen in digitalen Fragen. Ob die Schweiz immer noch Verschlüsselungssysteme aus den USA verwende? Bundesrat Maurer verstand nicht so recht und fragte zurück: «Sagten Sie ‹Aufrüstung›?»

Es mag auch ein akustisches Problem gewesen sein, das den Verteidigungsminister etwas ratlos aussehen liess. Aber die Pressekonferenz verdeutlichte, was in Fachkreisen längst klar ist: Die Schweizer Politik befindet sich seit langem in einem digitalen Tiefschlaf.

Die Aktionen der «Skript-Kiddies»

Das politische Establishment und breite Bevölkerungskreise wurden erst aus dem Schlaf gerissen, als die Whistleblowerplattform Wikileaks vor zwei Wochen damit begann, 250 000 geheime Diplomatendepeschen zu veröffentlichen. Seither überschlagen sich die Ereignisse. Die Enthüllungen – bislang weniger explosiv als etwa die Irak- oder Afghanistan-Protokolle – setzten eine Reihe von Ereignissen in Gang: Finanzdienstleister blockierten in vorauseilendem Gehorsam (und teilweise ohne rechtliche Begründung) die Spendengelder für Wikileaks. Danach griffen Wikileaks-SympathisantInnen deren Websites an. Über den Kurznachrichtendienst Twitter flimmerten die Schlachtrufe der Cyberdemonstranten («Keep on firing!», «Postfinance is down», «New target: Mastercard»), ehe auch Twitter die Benutzerkonten der Protestierenden sperrte.

Was geschieht da? Ist es, wie es vielerorts heisst, eine digitale Revolution, die Wikileaks losgetreten hat? Befinden wir uns tatsächlich in einem Cyberwar? Oder erleben wir bloss eine weitere mediale Hysterie, die von der eigentlichen Enthüllung, dem Inhalt der Diplomatendepeschen, ablenkt?

Der deutsche Künstler und Netzaktivist Padeluun (seinen echten Namen verrät er nicht) hält den Begriff «Cyberwar» in diesem Zusammenhang für falsch. Padeluun ist Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs und sitzt in der Jury der Big Brother Awards in Deutschland. Er engagiert sich seit langem für «digitale Bürgerrechte» und mehr Datenschutz im Netz. Obwohl er Whistleblowing grundsätzlich befürwortet und sich in Deutschland politisch dafür einsetzt, entsprechende Gesetze zu schaffen, kann er den Wikileaks-SympathisantInnen, die die Websites von Postfinance, Paypal, Mastercard und anderen kurzzeitig lahmlegten, nicht viel abgewinnen. Zum einen, weil solche Aktionen nicht neu sind: Bereits 2001 protestierten AusschaffungsgegnerInnen gegen Abschiebeflüge der Lufthansa, indem sie mit verstärkten Zugriffen auf die Website eine kurzzeitige Überlastung verursachten. Zum anderen, weil er solche Aktionen fragwürdig findet: «Wir müssen lernen, dass man Netzstrukturen nicht stören sollte.» Padeluun sieht die Angriffe als «virtuelles Steineschmeissen auf nicht sehr hohem Niveau». «Für diese Skript-Kiddies, die bei Hackern nicht sehr beliebt sind, mag das lustig sein. Aber es ist kein ernst zu nehmender Protest. Man muss sich auch konstruktiv einbringen. Und wenn man etwa eine Partei gründet, das hat die Piratenpartei auch lernen müssen, dann schlägt man sich plötzlich mit ganz viel Scheisse rum.»

Und der Anlass des «virtuellen Steineschmeissens», die Entscheide der Finanzdienstleister? Die Heftigkeit der Reaktionen auf die Wikileaks-Enthüllungen haben Padeluun erstaunt. Dass verschiedene Finanzdienstleister die Wikileaks-Konten sperrten, zeige, dass ein Nerv getroffen wurde. «Wir erleben einen Paradigmenwechsel: Es ist möglich, Informationen digital aufzubereiten und über Netze anderen Menschen zugänglich zu machen. Dafür braucht es keinen riesigen Apparat – nur einen Computer.» Insofern seien die aktuellen Auseinandersetzungen keine Schlacht um die Informationsfreiheit im Netz, sondern ein Lernprozess. «Die Menschen lernen, mit Elektronik umzugehen. Das Positive an der Geschichte ist, dass die Leute wahrnehmen, wie viel Netze bedeuten und wie sehr sie unser Leben beeinflussen. Die Fragen sind nur: Wie leben wir mit diesen Netzen? Wie wollen wir sie nutzen?»

Das Versagen der Medien

Padeluun beobachtet auch die Veröffentlichung der Diplomatendepeschen kritisch. In seinen Augen ging es dabei vor allem um die «Befriedigung einer voyeuristisch-pornografischen Sensationsgeilheit». Missstände aufzudecken und Skandale auch reisserisch aufzumachen, sei zwar in Ordnung. Aber dabei dürfe die Frage, was öffentlich sein und was privat bleiben soll, nicht aus den Augen verloren werden. Gerade im technologischen Bereich gebe es viele Leute, die Privatsphäre für etwas Veraltetes hielten. «Das ist zu einfach», sagt Padeluun. «Das ist – vorsichtig ausgedrückt – dumm.»

Er stört sich daran, dass Wikileaks und Whistleblowing in einem Atemzug genannt würden. «Das ist falsch. Whistleblowing bedeutet, Missstände zu beheben. Das versuche ich zuerst intern. Erst dann gehe ich an die Öffentlichkeit.» Ein solch gezieltes Vorgehen ist bei den aktuellen Wikileaks-Enthüllungen nicht möglich – schlicht wegen der Menge an Dokumenten. Sie stammen aus einem gigantischen Datensatz: In den USA werden jährlich rund sechzehn Millionen Regierungsdokumente als geheim klassifiziert. In der Schweiz gibt es dazu keine Zahlen, weil keine zentrale Stelle über die Klassifizierung informiert werden muss. Im Verteidigungsdepartement, so ergab eine Stichprobe 2006, seien nur ein Prozent der Informationen «geheim», drei Prozent «vertraulich» und sechs Prozent «intern». Beim Aussendepartement heisst es, dass keine so grosse zentrale Datenbank existiere wie in den USA. Höher klassifizierte Dokumente würden nicht digital aufbewahrt, sondern lediglich in physischer Form. Es sei also nicht möglich, sie in grossem Stil zu enthüllen.

Enthüllung nur bei Missbrauch?

Die Frage der Privatsphäre ist für Padeluun zentral. Für ihn ist klar: «Privatheit ist nach wie vor wichtig. In einer Demokratie müssen Politiker auch vertraulich reden können. Sonst ist am Schluss alles öffentlich. Und das will ich nicht.» Erst ein Missbrauch rechtfertige eine Enthüllung. «Dann braucht es Journalisten, die alles gegen den Strich bürsten.» Und daran habe es gemangelt. «In diesem Punkt haben die Wikileaks-Bejubler recht: Wir haben von den Medien die Geschichten lange nicht gekriegt, die Wikileaks jetzt bringt.»

Auch der Netztheoretiker und Dozent Felix Stalder von der Zürcher Hochschule der Künste sieht hier ein Problem: «Früher haben die Medien solche Geschichten selber gemacht. Und dann haben die Medienkonzerne im grossen Stil gespart, sich auf Profitmaximierung konzentriert und von Rechtsanwälten und Buchhaltern kontrollieren lassen.» Vor allem die US-Medien hätten sich nur noch auf Regierungsleaks verlassen und damit die kritische Distanz verloren. «Das ist sicher und bequemer. Man muss nicht aufwendig recherchieren und wird von der Regierung nicht angegriffen, weil die einem ja die Informationen gesteckt hat.» Der Intermediär Wikileaks sei nötig geworden, weil die Medien in einer Krise steckten: «Wikileaks bedeutet eine Neukonstituierung des qualitativ hochwertigen Journalismus. ‹Spiegel› und ‹Guardian› können so das rechtliche Risiko outsourcen und sich auf ihre Kernkompetenz konzentrieren: Geschichten gut aufbereiten.» In dieser Entwicklung sieht Stalder einen Paradigmenwechsel, der in der Musikindustrie schon vor Jahren im Konflikt mit der Musiktauschbörse Napster geschah. Wir erleben also weniger die erste grosse digitale Schlacht des 21. Jahrhunderts, sondern eine Fortsetzung des Konflikts Napster versus Musikindustrie. «Nur», so Stalder, «findet die Auseinandersetzung auf einer anderen Ebene statt: nicht in der Privatwirtschaft, sondern bei Regierungen.»

Napster hat den Paradigmenwechsel nicht überlebt; die Tauschbörse wurde mit Klagen eingedeckt und dann eingestellt. Ein ähnliches Schicksal könnte auch Wikileaks ereilen. Aber den Strukturwandel machen sich bereits andere Plattformen zunutze: Seit kurzem ist beispielsweise Balkanleaks online, und demnächst soll Openleaks entstehen, ein Projekt des ehemaligen Wikileaks-Sprechers Daniel Domscheit-Berg.

Datenleaking ist in der Privatwirtschaft ein ernsthaftes Problem, das lange unterschätzt wurde. Mittlerweile ist ein regelrechter Markt für Daten entstanden, zuletzt sichtbar geworden an den Verkäufen von Bankdaten. Netztheoretiker Felix Stalder sieht den Grund dafür vor allem in einem wachsenden Loyalitätsverlust – sowohl in der Politik als auch in der Privatwirtschaft. Es handle sich bei den Wikileaks-Enthüllungen nicht um eigentliches Hacking, um ein Einbrechen von aussen, sondern um ein Durchsickern von Informationen aus dem Innern. «Wir haben es mit widersprüchlichen Interessen zu tun: Einerseits will man Informationen leicht zugänglich machen, andererseits versucht man, sie in einem geschlossenen System zu halten.»

Auf die Datenbank, aus der die Diplomatendepeschen stammen, hatten laut dem Nachrichtenmagazin «Spiegel» 2,5 Millionen Menschen Zugriff. Da ist es fast schon erstaunlich, dass es so lange gedauert hat, bis irgendjemand Daten an die Öffentlichkeit brachte. Schwindende Loyalität, erleichterte Zugriffe und zahlreiche technologische Möglichkeiten zur raschen Verbreitung von Informationen – das sind die Säulen, auf denen Wikileaks aufbaut. Und das sind die Herausforderungen, mit denen sich die Privatwirtschaft, die Politik und auch die Cyber Defence von Verteidigungsminister Maurer künftig auseinandersetzen müssen.


Cyberwar

«Der Begriff ‹Cyberwar› ist nicht neu», sagt Nicolas Mayencourt. Der Gründer und Geschäftsführer von Dreamlab Technologies, einer auf IT-Sicherheit spezialisierten Firma, beschäftigt sich seit zwanzig Jahren mit digitalen Technologien. Den ersten schockierenden, medial dokumentierten Cyberwar habe es während des Kosovokrieges in den neunziger Jahren gegeben. «Damals wurden Radargeräte manipuliert. Man schleuste virtuelle Angriffsflugzeuge in die Systeme, sodass die Serben als Reaktion ihre Boden-Luft-Waffen in Stellung brachten, was den USA ermöglichte, die Ziele zu markieren und dann im echten Luftangriff zu zerstören.» Das ist ein Jahrzehnt her. «Ich bin erstaunt, dass das noch nicht im Bewusstsein der Bevölkerung angekommen ist», sagt Mayencourt.