Freiheit im Netz: «Linke Parteien verschlafen eine Chance»
Um die Vorherrschaft über die digitale Kultur wird heftig gestritten. Mit den Acta-Protesten ist der Kampf in der breiten Öffentlichkeit angekommen. Für den Schweizer Medientheoretiker Felix Stalder weist dieser weit über das Internet hinaus. Und er bietet Möglichkeiten für eine soziale und solidarische Politik.
Felix Stalder steht auf dem Stephansplatz im Herzen Wiens und staunt. Wie in sechzig weiteren europäischen Städten ist auch in Österreichs Hauptstadt zum Protest gegen Acta aufgerufen worden – das internationale Handelsabkommen zur Abwehr von Fälschung und Piraterie, das sowohl im EU-Raum wie auch in der Schweiz bald in Kraft treten soll. «Ich habe mit fünfhundert Leuten gerechnet», sagt der Medientheoretiker. Gekommen sind über dreitausend – trotz klirrender Kälte an diesem Samstagnachmittag Mitte Februar. Im eisigen Wind wehen Transparente mit Parolen wie: «Acta ad acta», «Gegen Demokratie hinter verschlossenen Türen» und «Lasst unser Internet oder wir nehmen eure Faxgeräte».
Es ist ein bunter Haufen, der sich unter den hohen Türmen des Doms versammelt hat. Dutzende tragen eine Guy-Fawkes-Maske, ohne die anscheinend keine Protestbewegung mehr auskommt – jedenfalls ist die Maske, die aus der Graphic Novel «V wie Vendetta» stammt und sich auf jenen Revolutionär bezieht, der 1605 das britische Parlament in die Luft sprengen wollte, längst zum Symbol der Occupy-Bewegung sowie des losen Internetkollektivs Anonymous geworden. Etwas verloren steht Darth Vader in der Menschenmenge, der Bösewicht aus den «Star Wars»-Filmen.
Im Fahrwasser des Acta-Protests schwimmen aber auch zahlreiche Parteien und Organisationen mit: Die Piratenpartei ist selbstverständlich vor Ort, ebenso sind es die Grünen. Selbst die rechtspopulistische Kleinpartei BZÖ (Bündnis Zukunft Österreich) ist mit einer Minidelegation anwesend, und nur halbwegs scherzhaft meint Felix Stalder, dass angesichts des Mobilisierungspotenzials des Protests bei der nächsten Demo bestimmt auch die Rechtspopulisten der FPÖ mitmachen würden. Hinzu kommen Splittergruppen wie die sozialistische Gruppierung Linkswende oder die EU-Austrittspartei. So heterogen der Protest politisch wirkt, die überwiegende Mehrheit der Protestierenden ist jung und männlich.
Nach dem Protestmarsch wärmt sich Felix Stalder bei einer Tasse Tee in einem klassischen Wiener Kaffeehaus auf. Es sei manchmal erstaunlich, sagt der gebürtige Basler, dass Themen, über die er in den letzten fünfzehn Jahren in relativer Abgeschiedenheit geforscht und diskutiert habe, nun auf den Plätzen Europas und damit im Mainstream angekommen seien. In der Tat hat Stalders Forschungsfeld, die digitale Kultur, zuletzt für viele Neuerungen und Schlagzeilen gesorgt: Ob Acta, Wikileaks, Facebook, Anonymous oder die Piratenpartei – kaum ein Forschender im deutschsprachigen Raum hat die AkteurInnen und Produkte der digitalen Kultur pointierter analysiert als der 44-Jährige, der mittlerweile in Wien lebt und in Zürich an der Hochschule der Künste lehrt.
WOZ: Herr Stalder, wir stecken mitten in einer Wirtschaftskrise, in allen politischen und gesellschaftlichen Bereichen wird die Demokratie abgebaut, von den Umweltproblemen ganz zu schweigen – aber die Menschen gehen in Europa auf die Strasse, um gegen ein diffuses Handelsabkommen zu protestieren. Wie kommt das?
Felix Stalder: In den letzten Jahren ist eine Öffentlichkeit entstanden, für welche die Internetkultur ein integraler Bestandteil des Lebens ist. Sie setzt sich nun gegen einen Eingriff in dieses Leben zur Wehr. Aus früheren Protesten bestehen mittlerweile eingespielte Organisationsstrukturen. Jene Leute, die sich einst gegen die Vorratsdatenspeicherung, Softwarepatente oder weitere Formen von Netzregulierungen gewehrt haben, sind heute vernetzt und erreichen einen entsprechend hohen Mobilisierungsgrad. Hinzu kommt, dass der Protest gegen Acta für sehr viel mehr steht als für die blosse Kritik am konkreten Abkommen.
Nämlich?
Das Zustandekommen von Acta ist ein extremer Fall von Demokratiedefizit. Die Verhandlungen darüber haben hinter verschlossenen Türen stattgefunden. Während die Öffentlichkeit, die eine Offenlegung der Verhandlungen gefordert hatte, davon ausgeschlossen blieb, konnten die Lobbyisten der Pharma- und Unterhaltungsindustrie ihre Interessen durchsetzen. Dieser undemokratische Prozess erscheint vielen zunehmend typisch. Immer mehr wichtige politische und wirtschaftliche Projekte werden von einer kleinen Elite entwickelt und durchgesetzt.
Ich sehe die Proteste gegen Acta deshalb als Ausdruck einer grossen Krise der parlamentarisch-repräsentativen Demokratien. Viele fühlen sich von den Politikern weder verstanden noch vertreten. Sie sehen das politische System in der Hand von Lobbyisten und Interessenvertretern. Das hat zu einer grossen Unzufriedenheit geführt, die sich etwa darin zeigt, dass alle Parteien Mitglieder verlieren. Viele Wähler denken heute, es mache keinen Unterschied mehr, ob sie SP, CVP oder FDP wählen, weil unter den vorhandenen ökonomischen Sachzwängen ohnehin alle gleich handeln.
Geht es bei den Acta-Protesten nicht doch eher um die Bewahrung der Gratiskultur im Internet?
Vielleicht auch, aber für die Leute, die jetzt auf die Strassen gehen, ist Acta einfach der x-te Versuch, das analoge Urheberrecht durch Ausweitung und Verschärfung in den digitalen Kontext zu retten – ganz egal, welche gesellschaftlichen Schäden in Bezug auf die Verletzung der Privatsphäre oder die Einschränkung der Meinungs- und Kommunikationsfreiheit dabei entstehen. Die massiven Proteste gegen Acta kündigen für mich eine Trendwende an: Immer mehr Menschen beurteilen die Verschärfung der Urheberrechte negativ. Die Verschärfungspolitik lässt sich nicht einmal mehr durch im Geheimen verhandelte internationale Abkommen – also weit weg von demokratischen Prozessen – durchsetzen.
Ist der Zenit bei der Verschärfung des Urheberrechts überschritten?
Vielleicht. Fast alle Bilder, Töne und Filme sind heute in Privatbesitz. Die Rechteinhaber konnten sich umfassende und exklusive Nutzungsrechte sichern und verschärfen deren Durchsetzung laufend. Die auf Informationsmonopolen basierende Macht der Kultur- und Unterhaltungsindustrie steht aber gegenläufigen Tendenzen gegenüber, die mit der zunehmenden Digitalisierung und Vernetzung entstanden sind. Immer mehr Menschen können dank technischer Möglichkeiten kulturelle Artefakte produzieren. Jeder Standardcomputer dient heute auch als Bild- und Tonstudio. Jedes Handy ist auch Fotoapparat und Aufnahmegerät. Ausserdem lässt sich im Internet, das nicht zuletzt ein globales, umfassendes Archiv darstellt, mühelos auf andere Inhalte zugreifen, und diese lassen sich in einen eigenen kulturellen Kontext stellen. Dadurch sind neue, hochdifferenzierte Nischen der individualisierten Populärkultur entstanden, die Vorstufen von politischer Öffentlichkeit sind. Wir sehen hier vielleicht den Anfang vom Ende einer Kulturindustrie, die sich primär über Produkte und Stückzahlen – also noch ganz fordistisch – definiert.
Aber die Vernetzung im Internet geschieht heute hauptsächlich über Monopolisten wie Facebook und Google, die ganz klar kommerziell ausgerichtet sind und entsprechend funktionieren.
Wenn ein traditionelles Konfliktmuster schwächer wird, heisst das ja nicht, dass keine neuen auftauchen. Nur sehen diese anders aus. Es wird nicht mehr um die Kontrolle von Kopien gehen, sondern um die Kontrolle des alltäglichen Agierens in den Netzen. Die zunehmende Monopolisierung der Infrastruktur des sozialen Lebens durch Facebook, Google und ähnliche Player ist natürlich problematisch. Es sind allumfassende soziale Fabriken, könnte man sagen; hochgradig zentralisierte Plattformen, die so angelegt sind, dass jede einzelne unserer Handlungen so profitabel wie möglich verwertet werden kann.
Indem Sie unsere hinterlassenen Daten verkaufen?
Auch, aber nicht nur. Unsere Daten oder digitalen Spuren sind ja nicht per se interessant und lukrativ. Plattformen wie Google oder Facebook sind so konstruiert, dass die Menge und Qualität unserer Spuren optimiert werden. Den Eigentümern dieser zentralen Plattformen gelingt es so, detailliertes, umfassendes Wissen über die Dynamiken der Gesellschaft in Echtzeit zu erlangen. Das ist klassisches Herrschaftswissen, denn mit dem zeitnahen Wissen über die Dynamiken sozialer Prozesse gehen Möglichkeiten des Eingriffs einher. Gerade Suchmaschinen erweisen sich nicht nur als Mittel der Echtzeitbeobachtung, sondern liefern auch ganz neue Grundlagen zur Vorhersage kollektiven Handelns.
Zum Beispiel?
Die Ergebnisse des für Blockbusterfilme kommerziell so wichtigen Eröffnungswochenendes lassen sich erstaunlich gut aus Suchanfragen der Vorwochen prognostizieren. Diese Formen der Mustererkennung und Prognose lassen sich auf viele Felder anwenden. Am meisten beunruhigt mich aber, dass diese Plattformen es schaffen, die Kategorien unseres Denkens neu zu setzen und definieren.
Wie das?
Wenn wir jeden Tag mindestens eine halbe Stunde auf Facebook verbringen und ein relevanter Teil unseres sozialen Lebens dort stattfindet, dann dringen die Kategorien und Strukturen, die Facebook im Bereich der Kommunikation setzt, in unseren Alltag ein: in der Wahrnehmung der Mitmenschen wie auch in der Selbstwahrnehmung. Mit wem werde ich mich gut verstehen? Mit Leuten, die in den gleichen Kategorien drin sind wie ich, denen das Gleiche gefällt wie mir. Diese Kategorien sind künstlich und so konstruiert, dass sie kommerzielle Zwecke erfüllen. Sie können hundertprozentig sicher sein: Auf Facebook wird es nie ein Feature geben, hinter dem kein Geschäftsplan steckt. Und wenn die Eigentümer merken, dass in einem bestimmten Segment Daten fehlen, dann bauen sie ein entsprechendes Feature ein, das die gewünschten Daten generiert.
Diese Kategorien sowie die Strukturen der Kommunikation werden von sehr wenigen Menschen mit kommerziellen Motiven bestimmt. Das ist bedenklich.
Die Wirkungsmacht der digitalen Monopolisten macht sie auch für die Politik interessant. Beispielsweise im Bereich der Zensur. Wie gross sind diese Gefahren?
Die sind natürlich vorhanden. Im letzten Jahr hat sich der israelische Informationsminister direkt an den Facebook-Gründer und Haupteigentümer Mark Zuckerberg gewandt, um eine Facebook-Gruppe mit über 200 000 Mitgliedern löschen zu lassen, die zur dritten Intifada aufgerufen hatte. Und im Vorfeld der Royal-Hochzeit sind in Britannien Dutzende Facebook-Seiten der Flashmob-Initiative UK Uncut verschwunden. Ganz zu schweigen davon, dass besonders politisch motivierte Facebook-Gruppen massiv von Geheimdienstleuten und Provokateuren unterwandert sind. In Ägypten meiden die Revolutionäre aus diesem Grund zunehmend die grossen Plattformen, um so die Überwachung zu erschweren.
Sie haben die Vernetzung als neues zentrales Konfliktfeld erwähnt. Mir scheint, dass die digitalen Monopolisten in diesem Bereich schon viel zu mächtig sind.
Ganz so schlimm ist es nicht. Noch nicht. Man darf nicht vergessen, dass auch unglaublich viele Nischen entstanden sind, neue kulturelle Gemeinschaften und horizontale Organisationsformen. Viele dieser kulturellen Gemeinschaften sind relativ klein, das muss aber nicht zwingend so sein. Wikipedia etwa ist relativ gross, das aktuelle Jahresbudget beträgt rund 28 Millionen Dollar. Dabei hat die Wikipedia Foundation weder ein Produkt noch Kunden anzubieten. Sie ist auch nicht von der öffentlichen Hand subventioniert. Der Antrieb ist eine soziale Ökonomie: Eine grosse Gemeinschaft von Personen und Institutionen trägt ihren Teil dazu bei, dass Wikipedia existiert. Und im Softwarebereich hat sich das Paradigma der freien Software längst etabliert. Es gibt durchaus Erfolgsgeschichten.
Sind das nicht Strohfeuer, und am Ende setzen sich die Monopolisten mit ihren Interessen durch?
Der Konflikt innerhalb der digitalen Kultur – also jener zwischen völlig divergierenden sozialen Logiken, kulturellen Praktiken und Wertesystemen – ist momentan noch sehr unartikuliert. Beide Systeme befinden sich in einer Phase des starken Wachstums. Noch können beide expandieren, ohne sich ins Gehege zu kommen. Das wird aber nicht ewig so bleiben. Und es gibt optimistische Anzeichen. Momentan entsteht eine grössere politische Bewegung, die sich intensiv mit der Vernetzung auseinandersetzt.
Sind die Acta-Proteste wirklich als eine grössere politische Bewegung zu verstehen?
Für mich sind die Acta-Proteste eine Fortführung jener Erzählung, auf die sich die Occupy-Bewegung bezieht. Oder auch Anonymous. Damit sind wir wieder bei der Krise unserer westlichen Demokratien angelangt. Bei sehr vielen Menschen ist zunehmend das Gefühl vorhanden, dass vieles in die falsche Richtung läuft und die zentralen Entscheidungen in geschlossenen Systemen gefasst werden.
Lässt sich Anonymous wirklich in eine Reihe mit der Occupy-Bewegung stellen? Mir scheint, als ob dieses Kollektiv bisher vor allem eines hervorbringt: Rachefeldzüge gegen Firmen oder Regierungen, die zuvor angeblich die Internetfreiheit beschnitten haben.
Anonymous hat durchaus auch konstruktive Seiten: Vor der Besetzung der Wall Street in New York im letzten September hat Anonymous einen Videoaufruf veröffentlicht. Die Idee hinter Occupy Wall Street, die von der kanadischen Aktivistengruppe Adbusters stammt, hat durch dieses Video schlagartig mehr Aufmerksamkeit erhalten. Es war ein entscheidender Faktor, der zum späteren Erfolg der Besetzung und damit der ganzen Occupy-Bewegung beigetragen hat.
Richten sich die Aktionen von Anonymous jedoch gegen etablierte Institutionen, ist die Auseinandersetzung immer destruktiv. Das ist in der Organisationsweise des Kollektivs angelegt.
Und wie sieht die aus?
Anonymous ist keine Gruppe und kein Netzwerk, sondern ein Schwarm oder, noch präziser: mehrere Schwärme, die einander verstärken. Es geht darum, möglichst viele Teilnehmer einzubinden und ihre vereinzelten, voneinander unabhängigen Bemühungen und Interessen zu bündeln, um dann auszuschwärmen und anzugreifen. Dafür braucht es drei Voraussetzungen: ein attraktives Versprechen als Handlungsauslöser, verfügbare digitale Werkzeuge und eine möglichst unkomplizierte Vereinbarung für den Eintritt in den kollektiven Handlungsraum. In der Folge entstehen Aktionen, die nie statisch sind – weitere Schwärme können sich anschliessen, die Richtung kann wechseln, die Aktion kann aber auch auseinanderfallen.
Wie sind diese Bewegungen eigentlich politisch einzuordnen?
Der Slogan der Occupy-Bewegung lautet nicht zufällig: «Wir sind die 99 Prozent.» Die soziale Ungleichheit und die Zerstörung gesellschaftlicher Solidarität durch den Neoliberalismus sind wichtige Ausgangspunkte der Protestbewegungen. Das sind eigentlich zentral linke Werte.
Diese Bewegungen fordern eine neue solidarische Politik – und zwar über das Feld der digitalen Kultur hinaus. Es geht um den Zugang zu und den Umgang mit den vorhandenen Ressourcen. Es geht um die Freiheit, eine Gemeinschaft sein zu dürfen. Es ist kein Zufall, dass der Begriff der «commons», also der Gemeingüter, immer häufiger auftaucht. Er schlägt eine Brücke zwischen sehr alten Formen der gemeinschaftlichen Organisation – in der Schweiz etwa die Allmenden – und sehr neuen, die von den Erfahrungen mit der digitalen Kultur geprägt sind.
Was können die Bewegungen für einen Beitrag leisten, um unsere Demokratien aus der Krise zu führen?
Den spannendsten Ansatz, den diese Bewegungen hervorgebracht haben, ist die Entwicklung neuer Formen der politischen Teilhabe. Sie befragen das bestehende Demokratiemodell, das stark auf die Repräsentation ausgerichtet ist. Weder die Occupy-Bewegung noch Anonymous oder nun die Acta-Proteste verfügen über klar erkennbare Repräsentanten. Die Akteure bleiben anonym oder treten rasch wieder in den Hintergrund. Ich sehe in dieser Hinsicht auch eine Parallele zu den Revolutionen im arabischen Raum, wo es die Herrschenden nicht geschafft haben, einzelne Repräsentanten zu isolieren. Es handelt sich jeweils um Kollektive ohne Anführer.
Ist das nicht gerade die Schwäche dieser Kollektive?
Das wird sich zeigen. Aber es ist auf jeden Fall ein ganz bewusster Akt: Entscheidungen über Themen basieren auf einem ad hoc getroffenen Konsens statt auf der nach bestimmten Regeln ermittelten Stimmenmehrheit. Das Verhalten dieser neuen Kollektive entzieht sich der Logik der etablierten politischen Institutionen, besonders in jenen Systemen, die keine direkt-demokratischen Traditionen kennen.
Und was erreichen sie damit?
Diese Kollektive schaffen gemeinsame, oppositionelle Horizonte, auf die sich künftig andere beziehen und etwas Konstruktives daraus machen können.
Wer sind diese anderen?
Das frage ich mich auch (lacht). Es ist jedenfalls schon erstaunlich, dass sich bisher einzig die Piratenpartei ernsthaft mit Themen wie freie Kommunikation, Schutz der Privatsphäre, offene Daten und Kritik am bestehenden Urheberrecht auseinandergesetzt hat. Die linken Parteien verschlafen hier eine einmalige Chance, indem sie dem Irrglauben erliegen, dass es beim Acta-Protest nur um netzspezifische Themen und Partikularinteressen gehe. Gerade die linken Parteien und Organisationen könnten darauf hinwirken, dass im Bereich der digitalen Kultur eine solidarische Politik möglich ist. Diese würde dann auch auf andere Bereiche einwirken.
Vielleicht hat das mit einem Generationenkonflikt zu tun.
Inwiefern?
Eine junge Generation, die mit der Internetkultur aufgewachsen ist, steht einer Generation gegenüber, für die das Internet noch immer etwas Neues und Seltsames ist. Für die Zweitgenannten ist die Internetkultur ein kleines, abstraktes Thema, das kaum beachtet wird. Bei den jungen Menschen ist es gerade andersherum: Die Bewegungen bieten ihnen ein Politisierungsmoment. So wie das für mich in den achtziger Jahren mit der Jugendbewegung war.
Sie haben vorhin die Piratenpartei erwähnt. Könnte die nicht für die linken Parteien einspringen?
Die Piratenpartei hat mich bisher noch nicht davon überzeugen können, dass es ihr um solidarische Politik geht. Ich nehme sie vor allem als antiautoritäre Partei wahr, die sich gegen staatliche Eingriffe im Bereich der Netzfreiheit wehrt. Eine Auseinandersetzung mit den ökonomischen Sachzwängen fehlt bisher noch, ich nehme die Piratenpartei sogar eher als marktaffin wahr. Insofern ist das Feld der solidarischen Netzpolitik nach wie vor für linke Parteien offen. Sie müssten einfach verstehen, dass Solidarität heute auf einer anderen Erfahrung beruht als im 20. Jahrhundert. Sie beruht auf dem Austausch von Kultur und Wissen und nicht mehr auf der gemeinsamen Erfahrung im Arbeitsprozess. Deshalb ist auch die oft beklagte Individualisierung gerade nicht das Gegenstück zur Solidarität, wie uns die neoliberale Ideologie glauben lässt.
Zur Person:
Der Medientheoretiker Felix Stalder (44) ist unter anderem Professor für Digitale Kultur und Theorien der Vernetzung an der Zürcher Hochschule der Künste. Stalder forscht zu neuen Formen der Wissens- und Kulturproduktion, neuen räumlichen Praktiken und den politisch-kulturellen Dimensionen der Vernetzung. Seine Publikationen sind auf felix.openflows.com zugänglich.
«We are Anonymous» : Das Buch zur Bewegung
Anfang der Woche der jüngste Coup: Wikileaks veröffentlicht seit Montag rund fünf Millionen E-Mails des privaten US-Nachrichtendienstes Stratfor. An Weihnachten hatte das lose Internetkollektiv Anonymous im Rahmen seiner Kampagne «LulzXMas» Daten von Stratfor gestohlen (angeblich rund 200 Gigabyte) und diese teilweise veröffentlicht. Die jetzt von Wikileaks laufend publizierten E-Mails stammen offenbar aus jenem Hack im Dezember. Für Wikileaks ist es ein Strategiewechsel – bislang veröffentlichte die Leaking-Plattform vor allem Informationen von Whistleblowern –, für Anonymous ist es ein Meilenstein in seiner noch jungen Geschichte.
Wer ist Anonymous? Woher kommen die Hacker? Was wollen sie? Auf diese Fragen versucht das Buch «We Are Anonymous» der «Spiegel Online»-Autoren Ole Reissmann, Christian Stöcker und Konrad Lischka Antworten zu geben. «Wer sie sind, was sie antreibt, was sie wollen» – so der Untertitel. Die Fragen werden nicht abschliessend geklärt, aber das scheint sowieso ein Ding der Unmöglichkeit. Denn, so die Autoren: «Anonymous ist keine Gruppe, bei der man Mitglied werden kann, sondern eine – manchmal ziemlich vage – Idee, der man sich zugehörig fühlt.»
Das Buch bietet dennoch eine gute Einführung in die Welt des digitalen Protests: Es erzählt von der Entstehung von Anonymous im 4Chan-Unterforum /b/, von den ersten Aktionen im Netz, bei denen es vor allem um «Lulz» ging, wie es im Netz heisst (eine Verballhornung von LOL – «laughing out loud»). Die Autoren zeigen auf, wie sich Anonymous zunehmend politisierte und den Protest etwa mit Aktionen gegen Scientology auf die Strasse verlagerte und schliesslich auch seinen Teil zum Arabischen Frühling oder zur Mobilisierung der Occupy-Bewegung beitrug.
Bisweilen wirkt die Buchform ziemlich anachronistisch, wenn etwa in Fussnoten lediglich ein abgekürzter Link zu finden ist, sodass man besser den Laptop zur Hand hat, wenn man wissen will, worauf sich die Autoren beziehen. Aber das Buch erscheint zum richtigen Zeitpunkt: Anonymous ist wieder in aller Munde. Wobei: Den richtigen Zeitpunkt zu finden, war leicht. Es dürfte nämlich künftig schwierig werden, einen Moment zu finden, in dem Anonymous nicht für Schlagzeilen sorgt. Auf Twitter kündigte Anonymous diese Woche im üblichen prahlerischen Ton an: «Bleibt dran. Die Ankündigung von etwas GROSSEM kommt bald.» Carlos Hanimann
Ole Reissmann, Christian Stöcker, Konrad Lischka: «We Are Anonymous. Die Maske des Protests. Wer sie sind, was sie antreibt, was sie wollen». Goldmann Verlag. München 2012. 250 Seiten. 14.90 Franken.