Im Zug mit Max Frisch: Welchen Dienstgrad hatten Sie als Kanonier, Herr Frisch?

Nr. 4 –

Ein Gespräch auf dem Weg nach Olten über Kriegsmetaphern und die Armee, Robert Walser und Lenin. Im Abteil gegenüber ein Rekrut, der zärtlich sein Gewehr streichelt.


Die ganze Zugfahrt über hatte ich vor, mich mit Ihrem Tagebuch zu beschäftigen, lieber Herr Frisch, ich mag nämlich Ihr Tagebuch sehr gerne; heute jedoch war ich zu abgelenkt, um zu lesen. Zwischen Zürich und Olten schaffte ich nur einen einzigen Satz; es ging um diesen sonderbaren Wortwechsel zwischen Robert Walser und Wladimir Iljitsch Lenin.

Es gibt ja so viele sonderbare Wortwechsel zwischen berühmten Menschen. Was hätten Proust und Joyce sich zum Beispiel alles zu erzählen gehabt, als sie sich auf dem Festbankett von Strawinsky zum ersten Mal begegneten: Odysseus, die Schreibblockaden, alles Mögliche, Sie wissen schon. Als die zwei grossen Autoren sich dann aber vorgestellt wurden, hatten sie sich seltsamerweise nichts zu sagen. Erst nach der Feier richtete Joyce sich an Proust und fragte, ob sie in die gleiche Richtung fahren würden. Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte er sich in Prousts Taxi und steckte sich eine Zigarette an – zum sprachlosen Entsetzen seines Berufskollegen, der an Asthma litt.

Oder kennen Sie den Briefwechsel zwischen Shaw und Churchill? Der britische Premierminister stand kurz vor seinem Rücktritt, als der Dramatiker ihm schrieb: «Dear Prime Minister, I am enclosing two tickets to the first night of my new play; bring a friend – if you have one.» Churchill antwortete: «Dear Mr. Shaw, thank you very much for your kind invitation. I am not able to attend your first night, but I would like to attend the second – if you have one.»

Oder eben, auch sehr seltsam, die Begegnung zwischen Walser und Lenin, aber ich war, wie gesagt, zum Lesen zu abgelenkt, weil nämlich M. Leutwiler – sein Name stand auf der Uniform – seinen Gewehrlauf zärtlich streichelte, den er zwischen die Beine geklemmt hatte.

Zuerst tat er es beiläufig, während er sein Schinkenweggli verzehrte. Ihn beobachtend, dachte ich, dass das Gewehr, wäre es ein Kätzchen, ihn längst gebissen hätte. Katzen mögen keine beiläufigen Streicheleinheiten – meine zumindest nicht. Leutwiler trug, wie es sich für Rekruten gehört, kein Gradabzeichen am rechten Kragen. Ob er wohl davon träumte, eines Tages einen geraden goldenen Strich zu besitzen oder vielleicht einen angewinkelten oder gar einen dreifachen dicken, doppelten? Soldat, Korporal, Oberst? Welchen Dienstgrad hatten eigentlich Sie als Kanonier, Herr Frisch?

Wie auch immer, nachdem er fertig gegessen hatte, streichelte Leutwiler den Gewehrlauf etwas inniger. Ich frage mich allerdings, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, welcher Grad an Innigkeit beim Streicheln eines Gewehrs angebracht ist.

Den fremden Rekruten fand ich anfangs ziemlich seltsam. Dann aber überlegte ich, dass er wahrscheinlich sehr taktil veranlagt ist, und da mochte ich ihn schlagartig. Schlagartig, sage ich, lieber Herr Frisch, haben Sie einmal auf dieses Wort geachtet? Ist es nicht sonderbar, wie Metaphern unsere Alltagssprache durchdringen? Aber wem erzähle ich das. Wir sagen Wortgefecht. Oder: Schiessen Sie mal los. Oder: Der hat jetzt voll ins Schwarze getroffen. Wir brauchen andauernd Kampfmetaphern, wir sagen k.o. und schlagfertig – oder eben: Schlagartig, sagte ich, mochte ich den fremden Rekruten. Er erinnerte mich plötzlich an meinen kleinen Bruder, der bis zu seinem fünften Lebensjahr kein Wort sprach. Dafür zog er sich bei jeder Gelegenheit Schuhe und Socken aus, um den Boden barfuss zu erkunden.

Es war Montagmorgen, Zeit zum Einrücken. Der schmächtige Leutwiler hatte sich mit einer Selbstverständlichkeit im Abteil ausgebreitet, wie er es im Wohnzimmer seiner Eltern wohl nie gewagt hätte. Er trank zwar kein Bier (es war ja noch früh, und er reiste allein), das Sandwichpapier aber hatte er achtlos auf den Nebensitz geworfen und so ganz anders, als er es vom militärischen Deckenzusammenlegen hätte gewohnt sein müssen, nicht etwa gefaltet, sondern mit der Mayonnaiseseite klatsch nach unten. Na ja, vielleicht mochte ich ihn doch nicht. Bis weit über sein Abteil hinaus hörte man durch seine Kopfhörer «Star Spangled Banner» in der Version von Jimi Hendrix.

Mein lieber Rekrut Leutwiler, dachte ich, Frisch hätte Ihnen etwas erzählt. Nicht wahr, lieber Max Frisch, Sie hätten mit den Zähnen geknirscht und zu ihm gesagt: Ich fürchte, Rekrut Leutwiler, Ihnen sagt Vietnam nichts, Ihnen sagt Woodstock nichts, und Sie wissen auch nichts von Jimi Hendrix’ Interview danach, bei dem er auf die Frage, inwiefern er mit seiner Interpretation der amerikanischen Nationalhymne habe provozieren wollen, antwortete: «I don’t know. All I do is play it. I’m an American. I’ve started to sing it at school, they made me sing it at school – it was a flashback, you know!»

Rekrut Leutwiler hätte froh sein können, Ihnen erst in Ihrem fortgeschrittenen Alter zu begegnen, Herr Frisch, als Sie Ihren didaktischen Zug – wie Sie ihn selbst nannten – bereits etwas abgelegt hatten. Dann hätten Sie ihn vermutlich geschickt in ein Gespräch verwickelt, sich bei ihm erkundigt, was er arbeite.

Das machten Sie bei Fremden nämlich so, nicht wahr, zum Beispiel in der Wirtschaft Wolfbächli, wie man in Ihrem Tagebuch lesen kann. Erinnern Sie sich noch daran, wie Sie dort einen Malermeister dazu befragten, welche Farbe ihm am meisten Lust bereite, und sich dann erkundigten, ob die Arbeiter nicht weniger lungern würden, wenn sie am Gewinn des Betriebs beteiligt wären? Verzeihung, Herr Frisch, aber wenn ich mir das so recht überlege, weniger didaktisch war das ja nicht. Man muss Ihnen aber zugute halten, dass Sie vom Malen bestimmt mit einer eleganten Pirouette – diese Eleganz ist mir leider verwehrt – zum Militärdienst gelangt wären, welche Funktion Leutwiler denn innehabe? Füsilier? Ob es da auch Teil der Ausbildung sei, das Gewehr möglichst zart zu streicheln? Lieber Herr Frisch, ich weiss gar nicht, waren Sie überhaupt schlagfertig, oder polterten Sie nur schriftlich und durchdacht? Oder war es Dürrenmatt, der polterte, oder Meienberg? Oder ein anderer Autor Ihrer – im Gegensatz zu meiner – engagierten Generation? Ich für meinen Teil erzählte Rekrut Leutwiler nichts; keine Didaktik, keine Schlagfertigkeit, wie gesagt, mir fehlt das Engagement.

Ich dachte – durchaus apolitisch – an meinen ersten Freund. Er hatte mich verlassen wegen einer nett gemeinten Bemerkung, mit seiner neuen Frisur gleiche er total Tom Hanks im Film «Philadelphia». Daraufhin erzählte er im ganzen Schulhaus herum, ich hätte gesagt, er sähe aus, als habe er Aids. Ich war damals sehr traurig, er war mein erster Freund gewesen, und wir hatten beim Automaten unten im Spar Fotos gemacht, wie wir uns küssten. Auf den Mund, was man auf den Fotos natürlich nicht sah, es war ja noch vor der Kurzhaarfrisur. Das war aber gar nicht der Grund, warum ich an ihn dachte, vielleicht eben doch politisch – er, mein erster Freund, hat nämlich mit der Armeewaffe aus Versehen seine Freundin erschossen, seine spätere, natürlich.

«Aus Versehen?», werden Sie fragen. In der Tat, das ist wirklich sonderbar, ich recherchierte damals ein wenig und fand dabei viel mehr, als mir lieb war: eine imposante Liste von Unfällen mit Armeewaffen. Ja, da stand «Unfälle». Was heisst aber denn «Unfall»! Missgeschick vielleicht? Oder wie sollen wir das sonst nennen, lieber Herr Frisch? Ein solcher Unfall passierte vor nicht allzu langer Zeit einem Soldaten im Wallis. Die Grenadiere hatten gerade mit scharfer Munition geübt, als der Vorgesetzte in der Pause einen möglichen Selbstverteidigungseinsatz probte. Er simulierte zu diesem Zweck einen Messerangriff auf einen der Soldaten, offenbar anschaulich. Der Soldat griff reflexartig zur Waffe und erschoss den Offizier. Im selben Jahr wurde an der Kirchfeldstrasse (eine Strasse übrigens, die ich gut kenne: Sie führt vom Haus meiner Tante quer durch den Militärflugplatz Emmen nach Rüeggisingen) ein junger Schweizer mit seinem Sturmgewehr festgenommen. Er war auf der Suche nach einer Gruppe junger Ausländer, die ihn verprügelt hatte. Ein anderer junger Herr lauerte dem Liebhaber seiner Frau mit einem Sturmgewehr und einer Kleinkaliberwaffe auf. Der Täter hatte den Mord, sowie den darauffolgenden Suizid, schon lange geplant. Ausführen konnte er die Tat aber nicht. Seine Frau hatte den für sie bestimmten Abschiedsbrief zu früh gefunden. Im Sommer vor ein paar Jahren schoss ein Mann mit seiner Armeepistole in St. Gallen einem Geldboten in die Beine. Die Tat geschah am Demutweg. Ich erinnere mich genau, weil dort ganz in der Nähe meine Tante wohnt, eine andere Tante natürlich. Im Herbst tat er allerdings dasselbe auch in Neuenburg, wo genau, weiss ich nicht – dort wohnt keine Tante von mir.

Noch so ein Unfall geschah vor etwa drei Jahren an der Bushaltestelle Hönggerberg in Zürich: Aus fast hundert Metern Distanz erschoss ein junger Mann mit einem Sturmgewehr der Schweizer Armee eine Sechzehnjährige. Er kannte sie nicht.

Sie können sich vorstellen, lieber Max Frisch, dass es angesichts all dieser Gedanken schwierig war, mich auf Ihr Tagebuch und die sonderbare Begegnung zwischen Walser und Lenin zu konzentrieren. Lenin beschäftigte sich im Übrigen ebenfalls mit den Waffen unserer Armee. Es hätte interessant sein können, seine Bemerkung, die Schweiz sei das revolutionärste Land, weil der Staat den Bürgern die Gewehre und sogar die Munition nach Hause mitgebe, mit Leutwiler zu diskutieren. Obwohl, ich gebe zu, ich wagte es nicht, ihn anzusprechen. Zu unheimlich schien er mir, trotz Streicheleinheiten latent aggressiv, und so war ich froh, als er in Olten den Zug verliess, um mit seinem Kätzchen auf dem Rücken – so, oder zumindest so ähnlich, stehts in der Verfassung – den Krieg zu verhindern und den Frieden zu erhalten.

Dieser eine Satz aus Ihrem Tagebuch, lieber Max Frisch, hat mich jedenfalls nachhaltig beeindruckt, und als Leutwiler weg war, las ich ihn endlich nochmals: Jemand berichtet von einer verbürgten Begegnung zwischen Robert Walser und Lenin an der Spiegelgasse in Zürich, 1917, dabei habe Robert Walser eine einzige Frage an Lenin gerichtet: «Haben Sie auch das Glarner Birnenbrot so gern?»

Michaela Friemel (29) studiert am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel.