Kommentar: Ein Stresstest der Glaubwürdigkeit

Nr. 27 –

Eine erste Entscheidung über den umstrittenen Tiefbahnhof Stuttgart 21 rückt näher. Übersteht das Projekt den vereinbarten Stresstest, könne gebaut werden, behaupten die BefürworterInnen – und mauern.


So früh hat es selbst in Stuttgart schon lange keine Kundgebung mehr gegeben: Um sechs Uhr morgens versammelten sich am Montag mehrere Hundert GewerkschafterInnen, um die Zufahrt zu einer Baustelle der Deutschen Bahn AG (DB) am Hauptbahnhof zu blockieren.

Betriebsräte und Sekretäre von IG Metall und Verdi begründeten die Aktion gegen das gigantische Projekt des Kellerbahnhofs Stuttgart 21 (S21) anstelle des bestehenden Kopfbahnhofs mit den drohenden Verschlechterungen im öffentlichen Nah- und Regionalverkehr. Sie argumentierten mit den immens hohen Kosten zulasten der Kultur- und Sozialetats und kritisierten, dass die Bauherren – die Bahn, der Bund, das Land Baden-Württemberg und die Stadt – den Einsatz von Billigstarbeitern planen. Es wäre nicht das erste Mal: Als FinanzinspektorInnen Anfang des Jahres 2010 eine DB-Baustelle am Stuttgarter Hauptbahnhof überprüften, fanden sie heraus, dass über die Hälfte der kontrollierten Bauarbeiter schwarz beschäftigt waren.

Die Proteste der Bevölkerung nehmen also wieder zu. Nach dem Erfolg der Grünen bei der Landtagswahl im März hatten sich so manche S21-GegnerInnen zurückgelehnt: Die Grünen würden es schon richten. Aber danach sieht es im Moment nicht aus. Der grüne Verkehrsminister Winfried Hermann, ein entschiedener Gegner des Projekts, steht unter enormem Druck. Und so beteiligten sich an der 81. Montagsdemonstration zu Beginn dieser Woche wieder mindestens 5000 Menschen. Für den kommenden Samstag ist eine weitere Grossdemonstration angekündigt.

Das ist gut so. Denn allzu lang konnte der DB-Vorstand die Interpretationshoheit in diesem scheinbar lokalen, längst aber bundesweit bedeutsamen Konflikt für sich reklamieren. Was haben sich die BürworterInnen nicht alles einfallen lassen! Zuerst ignorierten sie die gravierenden Einwände, die seit über fünfzehn Jahren vorgebracht werden (siehe WOZ Nr. 32/10). Als der Widerstand unübersehbar wurde, diffamierten sie die Opposition als Wutbürgertum, als Aufstand der Gutbetuchten aus den Stuttgarter Villenvierteln. Dann bejubelten sie den Schlichtungsversuch des Altpolitikers Heiner Geissler (CDU), der das Projekt im Wesentlichen guthiess, obwohl die Schlichtungsanhörung die zahllosen Nachteile und Risiken von S21 offenbarte (Geissler empfahl lediglich eine Optimierung des Vorhabens).

Und seit der Landtagswahl, die eine zutiefst gespaltene grün-rote Regierung hervorbrachte (die Grünen befürworten eine Modernierung des Kopfbahnhofs, die SPD-MinisterInnen wollen S21 durchsetzen), schauen die Medien nur noch auf den sogenannten Stresstest. Mit ihm soll die Bahn per Computersimulation beweisen, dass der neue Bahnhof leistungsfähiger ist als der alte. Dabei allerdings, und das wird gerne unterschlagen, liegt die Messlatte nicht dort, wo sie hingehört: Als Vergleich dient nämlich nicht die frühere und problemlos wiederherstellbare Kapazität des Kopfbahnhofs (die war in den letzten Jahrzehnten systematisch abgebaut worden), sondern das heutige Verkehrsaufkommen. Ebenfalls weitgehend vergessen sind andere kritische Punkte des Projekts: das unzureichende Notfallkonzept, die Abschüssigkeit der Perrons, die Grundwasserproblematik, die immer noch ungeklärte Anbindung der Gäubahn (über die man von Zürich aus Stuttgart erreicht).

Das baden-württembergische Verkehrsministerium weist immer wieder auf diese neuralgischen Punkte hin und verlangt Aufklärung. Doch die bundeseigene Bahn mauert. Der Bahnvorstand und die Regierung in Berlin wollen auf Biegen und Brechen S21 durchpauken. Andernfalls, so befürchten sie nicht zu Unrecht, würden sich ähnliche Grosstechnikprojekte kaum realisieren lassen. Deshalb geht die DB mit Fakten auch recht locker um. Als beispielsweise Verkehrsminister Hermann wissen wollte, wie die Bahn ihre 56-Millionen-Euro-Schadenersatzforderung im Falle einer Verlängerung des Baustopps begründet, schickte ihm der DB-Technikvorstand Volker Kefer Anfang Juni ein vierseitiges Fax mit ein paar handschriftlich hingeschluderten Zahlen. Und seit dem Wochenende kann als erwiesen gelten, was viele bisher nur vermuteten – dass die Bahn die Kosten des Projekts in der Vergangenheit stets schöngerechnet hat. Das ergaben jedenfalls Unterlagen, die der «Spiegel» veröffentlichte: Schon vor zwei Jahren seien die Kosten bahnintern mit weit über 4,5 Milliarden Euro berechnet worden. 4,5 Milliarden aber sind die Obergrenze, auf die sich die S21-BetreiberInnen geeinigt haben.

Dass es die Bahn mit ihren Angaben nicht so genau nimmt, ist seit den Schlichtungsgesprächen bekannt. Dennoch titelten vor zehn Tagen alle grossen Tageszeitungen: «Stuttgart 21 besteht Stresstest der Bahn». Sie publizierten unhinterfragt eine Meldung der Bahn: dabei ist das Zürcher Verkehrsplanungsbüro SMA, das den Test überprüft, bisher zu keinem Ergebnis gelangt. Von oben wird viel Druck aufgesetzt.

Aber immerhin: Einen kleinen Erfolg haben die S21-GegnerInnen Anfang dieser Woche doch verbuchen können. Ihnen werde zu wenig Zeit für eine seriöse Sichtung der Bahndokumente eingeräumt, klagten sie. Dieses Argument leuchtete sogar Geissler ein, dessen Hauptaufgabe darin besteht, die Oppositionsbewegung einzufangen und zu neutralisieren: Man werde die für den 14. Juli geplante Veröffentlichung des Tests wohl verschieben, sagte er.