Soziale Revolten: Gut gelaunt gegen den Kapitalismus

Nr. 33 –

Die gegenwärtigen sozialen Proteste deuten auf das Ende des heutigen Kapitalismus hin. Das skandinavische Modell mit hohen Steuerabgaben wäre eine Alternative. Doch das Wachstumsmodell als solches ist in der Krise.

Es scheint, als würde das in den Globalisierungsdiskursen der neunziger Jahre so häufig beschworene «globale Dorf» doch noch Wirklichkeit werden. Die Fernsehberichte aus Griechenland, Italien, Ägypten oder Chile sahen sich in den vergangenen Monaten zum Verwechseln ähnlich: Aufgebrachte Jugendliche liefern sich Strassenschlachten mit der Polizei, die Staatsmacht geht mit enthemmter Gewalt gegen eine bislang als unpolitisch geltende Generation vor.

Und auch die neuen Aktionsformen weisen über Landesgrenzen hinweg überraschende Gemeinsamkeiten auf: Nachdem man in Kairo die Diktatur von Hosni Mubarak unter anderem mit einer Zeltstadt auf dem Tahrirplatz in die Knie gezwungen hatte, wurde auch in Barcelona, Madrid und Tel Aviv das subversive Potenzial des Campierens im öffentlichen Raum entdeckt. Zehntausende kommen zusammen, um konzentriert und gut gelaunt über die Krise des Kapitalismus zu diskutieren. Wer hätte das vor einem Jahr für möglich gehalten?

Es ist sicher richtig, dass sich die Proteste nicht einfach gleichsetzen lassen. Den Schülern und Studentinnen in Chile geht es darum, die Regierung zu höheren Ausgaben im Bildungswesen zu zwingen. Aufgrund der fast vollständigen Privatisierung der Universitäten ist Jugendlichen aus der Unterschicht der Weg in die Hochschulen faktisch verstellt. In Griechenland protestieren Beschäftigte, Arbeitslose und RentnerInnen seit mittlerweile über einem Jahr gegen fallende Löhne, Entlassungswellen und die Kürzung von Sozialausgaben. Die spanische Bewegung 15-M verlangt eine Redemokratisierung der Gesellschaft – eine Forderung, die sie allerdings mit sozialen Anliegen verknüpft. In Italien wiederum hatten Studentenunruhen im Dezember vergangenen Jahres mit einem neuen Sparpaket der Berlusconi-Regierung zu tun. Und die Proteste in Israel schliesslich, die Anfang August 250 000 Menschen auf die Strassen brachten, richten sich gegen die Verteuerung von Wohnraum und die extreme soziale Polarisierung im Land.

Konservative beschwören linke Ideen

Trotz aller Differenzen kann man festhalten, dass es überall um Verteilungsfragen geht. Das stimmt auch für Ägypten, wo die Demokratiebewegung als Sozialrevolte gegen Hungerlöhne und Arbeitslosigkeit entstand – und für Britannien. Dass die Jugendlichen in London und Manchester ihre Energie überwiegend darauf verwendeten, iPhones und andere Statussymbole des gehobenen Konsums zu erbeuten, und bei ihrem Aneignungsfeldzug vor allem gegen Menschen aus den eigenen Vierteln vorgingen, mag einen deprimieren. Aber es ändert nichts daran: Auch bei dieser Revolte ging es um gesellschaftliche Teilhabe.

Obwohl die Arbeiterklasse tot ist und von den Protestierenden in Kairo, Barcelona, London, Santiago de Chile oder Tel Aviv wohl kaum einer sein Handeln als Ausdruck globaler Klassenkämpfe beschreiben würde, stellen die Proteste in gewisser Hinsicht also doch genau das dar. Der neoliberal artikulierte, finanzmarktgetriebene Kapitalismus hat die sozialen Widersprüche in den vergangenen dreissig Jahren radikal verschärft. Das bleibt nicht länger ohne Gegenreaktion.

Dass sich die Proteste jetzt häufen, hat natürlich mit der Schuldenkrise zu tun. Es wäre zu erwarten gewesen, dass die Verteilungskonflikte – anstatt mit den neoliberal umgebauten Staaten – direkt mit den Profiteuren, also den Vermögensbesitzenden ausgetragen würden. Doch für massive Lohn- oder Mietkämpfe scheinen die Lebens- und Arbeitsverhältnisse zu fragmentiert: Outsourcing, Scheinselbstständigkeit und die Internationalisierung von Arbeitsprozessen haben die Konfliktlinien verschwimmen lassen. So wird der Staat, der seit dem Banken- und Finanzcrash von 2008 mit immer grösseren Haushaltsdefiziten zu tun hat, zum Adressaten des Protests.

Was werden die neu entstandenen, diffusen Gegenbewegungen in Gang setzen? Anders als die vom Staats- und Revolutionsmarxismus geprägten Bewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts postulieren sie – jenseits ihrer radikaldemokratischen, solidarischen Praxis – kein Gegenprogramm. Eine Machtoption sind sie nicht und wollen es auch nicht werden.

Nichtsdestotrotz ist ihre Wirkung schon jetzt enorm. Selbst überzeugten Konservativen dämmert, dass die neoliberalen Strategien zur Krisenbewältigung das Gefahrenszenario noch verschlimmert haben. In einem viel beachteten Kommentar beklagte sich der ehemalige Chefredaktor des britischen «Daily Telegraph» Charles Moore – seines Zeichens ein treuer Anhänger der ehemaligen Premierministerin Margaret Thatcher –, Banker und Medienbarone hätten die westlichen Demokratien gekapert. Der Mitherausgeber der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», Frank Schirrmacher, stiess dieser Tage ins gleiche Horn: Man gewinne den Eindruck, die existierende Demokratie diene nur noch den Interessen der ökonomischen Eliten. Der Tenor der Kritik legt nahe, dass sie eine Stärkung des Staates für vernünftig halten würden, durch die die egoistisch handelnden Macht- und Geldeliten in ihre Schranken verwiesen werden könnten.

Skandinavisches Vorbild

Für einen derartigen Politikwechsel gibt es ein paar ziemlich stichhaltige Argumente. Der deutsche Wirtschaftsweise Peter Bofinger hat in einem Beitrag für das Nachrichtenmagazin «Spiegel» vorgerechnet, dass die Schuldenkrisen der USA und Japans mit einer anderen Fiskalpolitik durchaus bewältigt werden könnten. Wären die Steuern in den beiden Ländern so hoch wie im EU-Durchschnitt, so Bofinger anhand von OECD-Zahlen, hätten die USA kein Haushaltsdefizit von 10 Prozent, sondern ein positives Saldo von 3,5, Japan gar von 4,7 Prozent.

Auch in der Europäischen Union könnte eine Hochsteuer- und Wohlfahrtspolitik die Krise abfedern. In den skandinavischen Ländern, die wegen ihrer hohen Staatsquote lang gescholten wurden, ist die soziale Ungleichheit deutlich geringer als im Rest Europas (und der Welt), und auch die öffentlichen Haushalte sind – trotz der hohen Sozialausgaben – ausgeglichener. So konnten Dänemark, Finnland und Schweden im vergangenen Jahrzehnt fast durchgehend Haushaltsüberschüsse verzeichnen. Erst 2009 rutschten sie ins Minus ab – allerdings weit weniger dramatisch als im Rest Europas.

Die Alternative lautet anscheinend also nicht «kürzen oder Pleite gehen», sondern «umverteilen oder Pleite gehen». Die Krisenberichte sprechen für sich: In Skandinavien belaufen sich die Staatseinnahmen auf 55 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, in Deutschland, wo die Situation schlechter ist, liegt die Quote nach den massiven Senkungen ab 1998 bei 44, in den USA bei 30 Prozent. Im Widerspruch zum üblichen Lamento von UnternehmerInnen hat die skandinavische Steuerpolitik weder zu Kapitalflucht noch zu wirtschaftlicher Stagnation geführt. Im Gegenteil: Das Wachstum in den skandinavischen Ländern ist stabil geblieben. Höhere öffentliche Ausgaben im Bildungs- und Pflegebereich ziehen eben nicht nur eine höhere Lebensqualität und Zufriedenheit nach sich, sondern sorgen auch für eine effizientere Verteilung der Einkommen. Diese ist in doppelter Hinsicht sinnvoll: Wenn der grosse Vermögensbesitz durch Steuern reduziert wird, wird erstens der Druck aus den Finanz- und Spekulationsblasen genommen, und zweitens steigt die Binnennachfrage, weil niedrige Einkommen prozentual mehr ausgeben als hohe.

Steht der steuerfinanzierte Interventionsstaat also vor einer Renaissance? Bislang kam die von Grünen und Linksliberalen geführte Green-New-Deal-Debatte erstaunlich realitätsfremd daher. Man postulierte eine ökologische Innovation des Kapitalismus, ohne zu fragen, wer einen solchen Kurswechsel, der ja auch eine massive Umverteilung implizieren würde, gesellschaftlich durchsetzen, sprich erkämpfen sollte. Der historische New Deal in den dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts, auf den in der Debatte rekurriert wird, entsprang ja nicht einer Laune des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt oder dem Gestaltungswillen der Demokratischen Partei, sondern war das Resultat heftiger Arbeits- und Gewerkschaftskämpfe in Nordamerika.

Die Grenzen des Kapitalismus

Die Proteste der vergangenen Monate verweisen nun darauf, dass die Kräfte für einen Politikwechsel durchaus vorhanden sind. Doch es ist zu bezweifeln, ob eine aktivere Steuerpolitik und sozialökologische Transformationen in der aktuellen Krise ausreichen würden.

Der Fakt, dass das Kapital Ende der siebziger Jahre massiv in die Finanzmärkte zu flüchten begann und den Staat zu einer drastischen Senkung der Steuerquote zwang, hatte nicht einfach mit der Gier der Akteure zu tun. Es war vielmehr eine Reaktion darauf, dass das keynesianisch-fordistische Modell an seine Grenzen stiess. Kapital liess sich kaum noch produktiv investieren, die Märkte waren gesättigt, die Wachstumsraten fielen stark ab, der gesellschaftliche Kitt verlor seine Bindungskraft.

So ist die heutige Krise nicht auf Fehler der Politik oder eine mangelnde Regulation der Finanzmärkte zurückzuführen. Wir haben es mit vielen, sich überlagernden Problemen zu tun: Der heutige Kapitalismus ist von zu grossen Produktionskapazitäten und einer enormen Überkapitalisierung geprägt. Niemand weiss, wo all das Kapital verwertet werden soll. Im Prinzip bedürfte es einer gewaltigen Wertvernichtung, die aber Dutzende Millionen Menschen in den Industriestaaten enteignen würde. Dazu kommt erschwerend, dass das Wachstumsmodell so nicht mehr tragbar ist. Die stoffliche Expansion, die der Akkumulation von Kapital zugrunde liegt, stösst an natürliche und ökologische Grenzen. Und schliesslich ist auch international nichts mehr im Lot: Die Hegemonialmacht USA befindet sich im freien Fall, die Wechselkurssysteme stehen vor dem Kollaps.

Mit einer besseren, sozialeren Steuerpolitik allein wird es also nicht getan sein. Wir müssen ganz neu überlegen.

Raul Zelik ist Professor für Politik an der Nationaluniversität Kolumbiens in Medellín.