Indien: Fasten gegen die Korruption

Nr. 40 –

In Indien kämpft der Aktivist Anna Hazare mit friedlichen Mitteln für die Einführung eines Antikorruptionsgesetzes, das im ganzen Land mächtige Ombudspersonen einführen will. Während die einen den Vorstoss feiern, werfen Hazares GegnerInnen ihm Demokratiefeindlichkeit vor.

Es ist nicht das erste Mal, dass Kisan Baburao «Anna» Hazare mit einer Fastenaktion auf sich aufmerksam macht. Schon früher hatte der 74-Jährige mehrfach durch die Verweigerung jeglicher Nahrung im Bundesstaat Maharashtra Druck auf Bürokratie und Politik aus­geübt. Doch nun ging es ihm gar um die nationale Politik. Um ein neues Antikorruptionsgesetz («Jan Lokpal Bill») zu erzwingen, wollte Hazare am 16. August in einen Hungerstreik treten (vgl. «Hazares Forderun­gen» im Anschluss an diesen Text). Unfähig, das Ausmass der Unterstützung zu erfassen, die Hazare geniesst, liess die Regierung den Aktivisten verhaften, noch bevor er sein Fasten beginnen konnte. Hazare kam in Polizeigewahrsam und wurde ins Hochsicherheitsgefängnis Tihar am Rande von Delhi gebracht.

Hazares Verhaftung löste eine Welle von Protestmärschen in ganz Indien aus, besonders in den Metropolen Bombay, De­lhi, Kalkutta und Lucknow. Die Regierung sah sich gezwungen, Hazares Freilassung zu veranlassen. Doch dieser weigerte sich, das Gefängnis zu verlassen, bis die Polizei sämtliche ihm auferlegte Bedingungen fallen lässt – eine Begrenzung des öffentlichen Hungerns auf drei Tage und die Festlegung der Zahl der anwesenden Protestierenden auf 5000.

Das Phänomen Anna verstehen

Allein in Neu-Delhi gingen Ende August 50 000 Menschen gegen Hazares Inhaftierung auf die Strasse. Sie schwenkten Fahnen und prangerten die Regierung an. Mehrere Hundert trafen sich zu Sit-ins vor den Häusern wichtiger PolitikerInnen. Weitere Tausende versammelten sich in anderen Städten als Zeichen der Unterstützung für Hazare. Die Proteste wurden rund um die Uhr von den Medien begleitet. Euphorisch sprachen diese bereits vom Sieg der «Macht des Volkes» und berichteten begeistert darüber, wie ein 74-Jähriger mit landesweiter Unterstützung die mächtige Zentralregierung in die Knie gezwungen habe.

Am 27. August erliess das Parlament eine Resolution, die die drei Kernforderungen Hazares «im Prinzip» aufnahm. Nun obliegt es dem 31-köpfigen Regierungskomitee für Justizfragen, Empfehlungen für einen konkreten Gesetzentwurf auszuarbeiten. Viele meinen, dass es einen grossen Unterschied geben könnte zwischen dem, was «im Prinzip» anerkannt wurde, und dem, was «in der Praxis» beschlossen wird. Bereits stehen einige MinisterInnen in der Kritik, da sie zweideutige Zusagen gemacht hätten. So würde die Frage der Ombuds­personen den Bundesstaaten überlassen. Und auch für die beiden anderen Forderungen würden separate Mechanismen entwickelt. Hinzu komme, dass die Regierung an einer Strategie arbeite, die es in Zukunft verhindere, dass Leute wie Anna Hazare mit einer Fastenaktion Druck auf die Regierung ausüben könnten.

Der Zuspruch, der Hazare zuteil wurde und wird, liegt in der Wut und Hilflosigkeit begründet, die ein Grossteil der indischen Bevölkerung gegenüber den Reichen und Mächtigen empfindet. Anders als früher können die Leute heute zudem im Fernsehen beobachten, wie die Reichen mittels zweifelhafter Geschäfte immer mehr Wohlstand anhäufen, während sie Ressourcen wie Mineralien, Kohle, Wald und Öl veräussern. Die Menschen haben das Vertrauen in die Politik längst verloren, was wenig wundert: Fast dreissig Prozent der 545 indischen Parlamentsabgeordneten sind schon einmal straffällig geworden. Der Wohlstand der Politi­kerInnen vermehrt sich jedes Jahr, während sich die Lebens­bedingungen der Mehrheit kaum verbessern. In Hazare sehen viele nun eine Art Messias, der sie von ihren Fesseln befreien wird.

Hazares Art des politischen Aktivismus ist nichts Neues für Indien, lehnt er sich doch mit seinem gewaltlosen Protest an Gandhi an. Doch entgegen den Erwartungen der Elite erhält er erstaunlich viel Zuspruch. Noch nie zuvor wurde die Regierung in eine solch unangenehme Position gedrängt, und in den Medien kursierten widersprüchliche Aussagen ihrer Minister. Hazares Bewegung dominierte die Schlagzeilen über Wochen. Diese Bewegung ist zudem besser organisiert und besser vermarktet als viele andere – immerhin schaffte sie es, die ganze Nation, quer durch Politik und Zivilgesellschaft, in UnterstützerInnen und Gegner­Innen zu spalten.

Tausende InderInnen aus allen Klassen, Kasten, Regionen und Religionen setzten sich zum Zeichen ihrer Unterstützung weisse Gandhi-Hüte auf mit der Aufschrift «Ich bin Anna». Auf der Strasse, in Büros und Fabriken und auf Bauernhöfen wird über Hazares Worte und Taten diskutiert. In einem offenen Brief in der «Hindustan Times» schrieb Rajdeep Sardesai, Chefredakteur des Fernsehnetzwerks IBN18, an Hazare: «Sie haben Millionen namenloser InderInnen ermu­tigt, auf die Strasse zu gehen und sich zu Wort zu melden. Sie sind ein Symbol des Wandels und der Hoffnung geworden in einer Zeit, in der die Kultur des Betrugs das Gewissen des Landes belastet.»

Prominente Gegenwehr

Scharfe Kritik an Anna Hazare kam von unerwarteter Seite: Die Globalisierungskritikerin Arundhati Roy, die bisher alle BürgerInnen­bewegungen des Landes unterstützt hatte, sagte Ende August: «In gewisser Weise haben die Mao­isten und das Ombudspersonen­gesetz etwas gemeinsam: Beide wollen den Staat abschaffen.» Die einen würden von unten nach oben arbeiten, mithilfe des bewaffneten Kampfes, und ausgeführt durch eine Armee, die grossenteils aus Unberührbaren (Adivasi) besteht, den Ärmsten der Armen. Die anderen genau andersherum, von oben nach unten, mithilfe eines «blutleeren Gandhi-artigen Putsches, angeführt von einem frischgebackenen Heiligen und einer Armee aus urbanen, relativ wohlhabenden Menschen». Denn selbst wenn Hazares Mittel an Gandhi erinnern würden, seine Forderungen täten dies nicht, sagt Roy. Denn im Gegensatz zu Gandhis Ideen über die Dezentralisierung der Macht würde das Ombudspersonengesetz eine kleine Gruppe von sorgsam ausgesuchten Personen einer gigantischen Bürokratie mit Tausenden von Angestellten vorstellen. Diese hätte die Macht, jeden zu kontrollieren – vom Premierminister über die Justiz, den Parlamentsabgeordneten bis hin zu den niedrigsten Regierungsangestellten. Die Ombudsstelle hätte die Macht, jeden zu überwachen, auszuspionieren und zu verfolgen. Doch es wäre nur eine weitere, pa­rallele, eigenständige Behörde. «Zwar soll sie der auf­geblasenen und korrupten Verwaltung, die niemandem Rechenschaft schuldig ist, ent­gegentreten. Doch dann hätten wir einfach zwei Oligarchien anstelle von einer.»

Andere sehen in dem Gesetz eine Bedrohung der Demokratie im Allgemeinen. Der Autor und ehemalige Minister Shahi Tharoor: «Einer nichtgewählten Gruppe – so nobel ihre Ziele auch sein mögen – zu erlauben, sich über das Parlament zu stellen, ist ein Angriff auf die Grundpfeiler der Demokratie.» Durch Hazares Erfolg habe sich die Idee etabliert, Gesetze könnten von der Strasse aus diktiert werden.

Auch muslimische Vereinigungen kriti­sierten Hazare, weil dieser Narendra Modi (sie­he WOZ Nr. 38/2011 ) gelobt hatte. Unter Modi, Premierminister des Bundesstaates Gujarat, kam es 2002 zu einem Pogrom, bei dem über tausend Muslime ums Leben kamen.

Die Vereinigungen der unteren Kasten warfen Hazare Kastenvorbehalte vor, da er sich nicht gegen die tägliche Diskriminierung der unteren Kasten ausspreche. Wieder andere warfen ihm vor, einzig die Regierung zu schelten, statt sich auch kritisch über die Wirtschaft zu äussern, die für die Wirtschaftskrisen und -skandale mitverantwortlich sei.

Manche behaupteten gar, Hazare sei die Erfindung einiger Fernsehstationen, die immer wieder die Bilder der Fahnen schwingenden Massen zeigten. Im Verhältnis zu Indiens Gesamtbevölkerung von 1,21 Milliarden Menschen seien die 50 000 DemonstrantInnen auf den Strassen Delhis zudem kaum der Rede wert. So habe es in jüngster Vergangenheit Protestmärsche gegen Landraub und den Bau von Atomkraftwerken gegeben, an denen über 100 000 Menschen teilnahmen. Doch da diese in entlegenen Gebieten stattfanden, bekamen sie nur wenig Medienaufmerksamkeit.

Schwer verdauliche Botschaft

Immerhin: Man muss Hazare zugute halten, dass er verdeutlicht hat, dass die Regierung den Menschen bis anhin nicht zugehört hat. Sämtliche Parteichefs scheiterten bisher daran, die Stimmung im Land richtig zu analysieren. Es wird Zeit, dass die gewählten VertreterInnen begreifen, dass eine Demokratie mehr ist als nur das Abgeben von Wahlversprechen, selbstgefällige Diskussionen im Parlament und die Möglichkeit, sich zu bereichern.

Hazare hat erreicht, dass das Verhältnis zwischen ParlamentarierInnen und ihren WählerInnen hinterfragt wird. Dies betrifft nicht nur die Korruption im Wahlsystem, sondern auch die Möglichkeit, Politiker­Innen auch während der Amtszeit abzuwählen. Und selbst wenn seine Bewegung sonst nichts erreichen sollte: Sie hat den PolitikerInnen gezeigt, dass sie ihre Wählerschaft ernster nehmen müssen. Denn es ist die neoliberale Agenda der derzeitigen Regierung, die für die immer weiter um sich greifende Korruption die Hauptverantwortung trägt. Die Ressourcen, von denen die Zukunft der Wirtschaft abhängt, werden für lächerliche Beträge an Geschäftskonglomerate verkauft. Immer mehr Fälle von enger Zusammenarbeit zwischen Politik und Wirtschaft werden bekannt, bei denen Tausende Hektaren Wald für Minenprojekte oder Luxusappartements draufgehen. Millionen von Landarbeiterinnen und Kleinbauern werden so ihrer Lebensgrundlage beraubt, ihr Land wird enteignet. In Indien gibt es nichts, was noch nicht privatisiert wurde: Trinkwasser, Flussbetten, öffentliche Ländereien, Dorfwälder.

Anna Hazare und seine Bewegung sind nur ein Symbol dafür, dass die InderInnen langsam aufwachen. Er hat den Reichen und Mächtigen, die im Elfenbeinturm des «glänzenden Indiens» leben, eine schwer ver­dauliche Botschaft überbracht: Im Gewand der wirtschaftlichen Liberalisierung verlagert sich die Macht immer mehr weg von der Politik und hin zu den grossen Wirtschaftsbossen. Und die PolitikerInnen verdienen kräftig mit daran, indem sie mit der Wirtschaft kooperieren.

Doch die wichtigste Frage für die UnterstützerInnen der Anna-Hazare-Bewegung wird sein: Kann man Korruption wirklich mit einem Gesetz bekämpfen? Denn wenn dies so wäre, dann gäbe es in Indien schon längst ­keine ­Diskriminierung von Unberührbaren mehr, keine Mitgift, keine Morde an weiblichen Föten, keine Kinderarbeit und keine Sklaverei.

Hazares Forderungen

Kisan Baburao «Anna» Hazare möchte mit seiner Aktion für die Einführung der Jan Lokpal Bill, des Ombudspersonengesetzes, ein Zeichen gegen die Korrup­tion innerhalb der politischen Elite Indiens setzen.

Der Gesetzesvorschlag enthält drei konkrete Forderungen: eine effektive Bekämpfung der grassierenden Korruption durch Ombudspersonen, die auf eine Einhaltung korrekter Abläufe achten sollen, eine Wiedergutmachung für die Opfer der Korruption und Schutz für Informant­Innen, die sogenannten Whistleblowers.

Den Zugeständnissen der Regierung in der Ende August erlassenen Resolution zufolge soll die endgültige Version des Gesetzes auch die unteren Ebenen der Bürokratie miteinbeziehen. Das Gesetz werde die Wiedergutmachung im Sinne einer Bürgercharta regeln sowie die Einstellung von sogenannten Ombudspersonen in allen Bundesstaaten.