«Brief an Barack Obama»: Das Ungesagte – auf dem Grund des Atlantiks
Posthum sind auf Deutsch zwei Texte des Schriftstellers Edouard Glissant aus Martinique erschienen. Zusammen mit Patrick Chamoiseau entwirft Glissant darin die Konturen offener Beziehungsgesellschaften.
Am 3. Februar dieses Jahres ist Edouard Glissant mit 82 Jahren in Paris gestorben. Die Texte des grossen Dichters, Dramaturgen, Essayisten und Romanciers von der Karibikinsel Martinique sind gerade auch auf dem europäischen Festland hochaktuell, zumal sie einen dringend benötigten Gegenentwurf zu einer Politik liefern, in der sich nationalistische Positionen in Debatten über «Integration» neu formieren. Glissant arbeitete ja nicht nur an einer «Poetik der Beziehung» – er suchte darüber hinaus ganz konkret die Begegnung mit der Welt und wiederholte unermüdlich: «Ich kann mich mit dem Anderen austauschen, ohne mich deswegen zu verlieren oder zu verfälschen.»
Auf diese Weise schaltete er sich auf verschiedenen Kontinenten immer wieder in gesellschaftspolitische Diskussionen ein: Er engagierte sich für die Unabhängigkeit Algeriens, gründete 1962 in Fort-de-France das Institut d’Études martiniquaises sowie 2006 das Institut du Tout-Monde in Paris. Er war Chefredakteur des «Courrier de l’Unesco» und Literaturprofessor an den Universitäten von Baton Rouge und New York. Posthum geehrt wurde er denn auch in der Karibik ebenso wie in den USA, in Europa und in Afrika.
Im Heidelberger Verlag Das Wunderhorn, der seit 1983 einen Teil seiner Romane, Essays und Gedichte herausgebracht hat, ist nun in der Übersetzung von Beate Thill der «Brief an Barack Obama» erschienen, den Glissant wie auch das anschliessende Manifest «Wenn die Mauern fallen» gemeinsam mit dem (wie Glissant in Frankreich lebenden und aus Martinique stammenden) Schriftsteller Patrick Chamoiseau verfasst hat.
«Rhizom-Identitäten»
Anlass für den Brieftext an Obama war dessen Wahl zum ersten schwarzen (oder genauer: kreolischen) Präsidenten der USA im Januar 2009. Der zweite Text, das Manifest gegen die nationalistische Identitätspolitik Frankreichs, entstand aus Protest gegen das von Nicolas Sarkozy 2007 gegründete Ministerium für Immigration, Integration, nationale Identität (das 2010 wieder aufgelöst wurde).
Beide Texte analysieren zunächst umfassend und weitsichtig sogenannte Kreolisierungsprozesse. Solche werden in Gang gesetzt, wenn zwei oder mehrere Kulturen auf chaotische und unvorhersehbare Art aufeinandertreffen, wobei etwas völlig Neues daraus entstehen kann – wie etwa der Jazz, in dem sich die Elemente europäischer und afrikanischer Musik auf neue Art miteinander verbunden haben.
Glissant hat diese Phänomene in Essays wie «Traktat über die Welt» zuerst auf den Archipelen der Karibik untersucht, wo sich auf den Ruinen europäischer Kolonialreiche drei Kontinente begegneten: Europa, Afrika und Asien. Die fragilen Identitäten dieser Inselwelten nähren sich somit aus multiplen Identitäten, die Glissant auch «Rhizom-Identitäten» nannte. Das Gegenstück hierzu ist eine Identität, die sich nur aus einer einzigen Wurzel zu speisen meint und sich wie vormals in weiten Teilen Europas über Stammbaum und Abstammungslinie definiert.
Knapp drei Jahre nach seiner Erstveröffentlichung auf Französisch ist der Brief an Obama nun auch auf Deutsch zu lesen. In der Zwischenzeit haben sich die Hoffnungen und Erwartungen auf einen grundlegenden US-amerikanischen Politikwechsel durch den neuen Präsidenten wohl eher verkleinert.
Glissant und Chamoiseau sehen in Barack Obama aufgrund seiner Herkunft und Biografie eine Verkörperung des Kreolischen schlechthin. In ihrem Brief geben sie ihrer Hoffnung Ausdruck, dass in der Person Obama die Geschichte der Sklaverei und der Ausbeutung der Kolonien endlich überwunden werden kann – und damit auch das angespannte Nebeneinander von Schwarzen und Weissen, das in den USA bis heute vorherrscht.
Aufgrund seiner eigenen Geschichte, so die Autoren, könnte Barack Obama endlich das «Ungesagte» aussprechen, das wegen der unzureichend aufgearbeiteten Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels bis heute einen langen Schatten auf die Vereinigten Staaten wirft. Gleich zu Beginn ihres Briefs an den Präsidenten evozieren sie die Abgründe dieser Geschichte: den Meeresgrund, auf dem zahllose tote Sklavinnen und Sklaven liegen, die die Überfahrt von Afrika nach Amerika nicht überlebten: «Klingende Muscheln scharren an Schädeln, an Knoten, an grün bezogenen Eisenkugeln, am Grund des Atlantiks. In diesem Abgrund liegen Friedhöfe von Sklavenschiffen, mit vielen ihrer Matrosen. Die Beutegier, die verletzten Grenzen, die gehissten und gefallenen Flaggen von der westlichen Welt. Und die hier den dichten Teppich mustern, sind die Söhne Afrikas, mit denen man Handel trieb, sie stehen auf keiner Ladungsliste, keiner kennt ihre Zahl.»
Weltoffene «Beziehungsgesellschaft»
Die Aufarbeitung dieser Geschichte, so die Autoren, hätte zur Folge, dass sich die USA nicht mehr vorrangig als Weltmacht gebärden müssten. Vielmehr könnten sie sich so endlich der «Vielheit der Welt und ihrer Kulturen» öffnen, die sie bis heute ignorieren würden: «Die Macht eines Mannes oder einer Nation lässt sich nur danach bemessen, wie er in Beziehung zu treten vermag mit den Orten der Welt, in ihnen den Reichtum und die Vielheit mobilisieren kann, um daraus in der Teilhabe das Beste zu gewinnen.»
Auch das Manifest «Wenn die Mauern fallen» ist ein vehementes Plädoyer für offene Gesellschaften. Die beiden Autoren verwahren sich dabei entschieden gegen eine staatliche Festlegung von Identität, wie es in Frankreich über das Ministerium für Immigration, Integration, nationale Identität versucht wurde. In aller Deutlichkeit zeigen sie auf, dass ein enger, nationalistischer Identitätsbegriff, mit dem man das Eigene und das Fremde fein säuberlich voneinander zu trennen versucht, der konkreten Ausgrenzung des Anderen Vorschub leistet: «Die als Mauer errichtete Identität kann Sicherheit verleihen. Sie kann einer rassistischen, fremdenfeindlichen oder populistischen Politik dienen bis hin zur geistigen Lähmung. Aber abgesehen von ihrer Nützlichkeit als Prinzip weiss diese Identität dann nichts mehr von der Welt.»
Glissant und Chamoiseau versuchen diese «Identitätsmauern» zu Fall zu bringen, indem sie sowohl für die USA wie auch für Frankreich die Konturen einer weltoffenen «Beziehungsgesellschaft» entwerfen. Sie setzen dafür bei der Veränderung der Vorstellungswelt an: «Die wahre Vielheit findet sich heute nur in den Imaginären, das heisst in der Art, sich zu denken, die Welt zu denken, sich selbst in der Welt zu denken, seine Lebensgrundsätze zu ordnen und seine Heimat zu wählen.»
Die beiden Texte bestechen durch eine überaus elegante und kühne Verbindung von Poetik und Politik. Das unterscheidet sie wohltuend von anderen «interkulturellen» Traktaten: Sie gehen von der Schönheit des Lebendigen aus, setzen unbeirrt auf Austausch und Teilhabe. Vielleicht helfen sie dadurch ja auch wirklich, Barrieren und Mauern zum Einsturz zu bringen – in den USA, in Europa, auf der ganzen Welt.
Edouard Glissant und Patrick Chamoiseau: «Brief an Barack Obama. Die unbezähmbare Schönheit der Welt». Aus dem Französischen von Beate Thill. Das Wunderhorn. Heidelberg 2011. 64 Seiten. Fr. 17.90.
Edouard Glissant und Patrick Chamoiseau: Brief an Barack Obama. Die unbezähmbare Schönheit der Welt. Aus dem Französischen von Beate Thill. Das Wunderhorn. Heidelberg 2011. 64 Seiten. Fr. 17.90