Syrien: Brief an jene, die wegschauen
«Liebe KollegInnen in aller Welt, ich möchte euch darüber informieren, dass ein Genozid an meinem Volk verübt wird: Vor einer Woche hat das syrische Regime begonnen, rebellierende Städte anzugreifen. Seither sind über tausend MärtyrerInnen, darunter viele Kinder, getötet worden. Das Wegschauen der Welt ermutigt das Regime, die friedliche Revolution mit unvergleichlicher Gewalt zu ersticken. Mit der Unterstützung Russlands, Chinas und des Iran und durch das Schweigen der Welt hat es in elf Monaten unzählige Menschen getötet. Seit den Bildern des Massakers von Khalidiya vom 2. Februar ist die Katastrophe offensichtlich. Hunderttausende SyrierInnen gingen in der folgenden Nacht auf die Strassen. Wir fühlen uns in einer Welt verwaist, die sich mit politischen und wirtschaftlichen Sanktionen begnügt. Sie stoppen weder das Morden noch die Panzer.
Mein Volk, das dem Tod mit entblösster Brust und mit Liedern gegenüberstand, ist in diesen Momenten einem Genozid ausgesetzt. Medizinische Fachleute werden daran gehindert, Verwundete zu pflegen, Feldlazarette in Schutt und Asche bombardiert. Den Hilfsorganisationen ist der Zugang verwehrt, Telefonverbindungen sind unterbrochen, Nahrungsmittel werden blockiert, der Transport von Blutkonserven und Medikamenten mit Gefängnis bestraft. Mein Volk ist ein Volk des Friedens, des Kaffees und der Musik. Ich wünsche euch, dass ihr dies eines Tages selbst erfahren und seinen Rosenduft riechen könnt.
Ich weiss, dass Schreiben gegenüber russischen Waffen, Panzern und Raketen ohnmächtig wirkt. Doch ich habe kein Verständnis für euer Schweigen, das euch zu Komplizen des Tötens macht.»
Khaled Khalifa, Damaskus
Aus einem Brief des Autors Khaled Khalifa an den International Writers’ Workshop. Der 47-Jährige zählt zu den bedeutendsten Roman- und Drehbuchautoren der arabischen Welt.