Asiens Wirtschaft: Wenn die Tycoons gefährlich werden
Während die südostasiatischen Staaten unter einer Verfilzung von Wirtschaft und Politik leiden, haben die Staaten in Nordostasien die Wirtschaft geschickt gelenkt.
Jedes Jahr im Januar präsentiert der konservative US-Thinktank Heritage Foundation den neusten Index of Economic Freedom, den Index der Wirtschaftsfreiheit. Und jedes Jahr, seit es den Index gibt, wird die Liste von denselben Ländern angeführt: Hongkong, gefolgt von Singapur. Auch unter den darauf folgenden Plätzen verändert sich nur wenig, unter den ersten zehn findet sich in der Regel auch die Schweiz.
Als der neuste Index im Januar publiziert wurde, war zu erwarten, dass die Hongkonger Öffentlichkeit die erneute Auszeichnung mit Genugtuung quittieren würde. Statt Freude löste die Meldung jedoch Heiterkeit aus. Mehrere KolumnistInnen machten sich lustig über die neuste Rangliste – vor allem jene, die dem wirtschaftsliberalen Lager angehören. Jake van der Kamp, der für seine bissigen Kommentare in der «South China Morning Post» bekannt ist, gestand der Heritage Foundation zu, dass sie «die Freiheit habe, sich selbst mit dem Index der Freiheit zum Narren zu machen».
Was die Rangliste unglaubwürdig macht, ist das Ausblenden der Tatsache, dass in Hongkong und Singapur fast alle wichtigen Wirtschaftszweige in den Händen des Staates und einiger weniger Tycoons sind: der Immobiliensektor, der Bankensektor, die Ladenketten, der Hafen, der Flugplatz, die Busse und so weiter. Der einzige Markt in Hongkong, in dem einigermassen Wettbewerb herrscht, ist jener der Telekommunikation – und das nur, weil der einstige Monopolist mit seiner Hochpreispolitik es allzu bunt getrieben hatte.
Besonders grotesk ist die Lage im Hongkonger Immobiliensektor. Stets sind es dieselben paar Grossfirmen, die die lukrativen Aufträge, die der Staat als grösster Bodenbesitzer vergibt, untereinander aufteilen. Wer keine subventionierte Wohnung besitzt oder nicht so viel verdient, dass die Wohnkosten irrelevant sind, zahlt eine zermürbende Miete. Die Verträge gelten zudem meist nur für eine kurze Frist – und nach ihrem Ablauf darf der Wohnungsbesitzer die Miete beliebig erhöhen. Viele Mittelstandsfamilien sind deshalb gezwungen, alle zwei, drei Jahre in ein anderes Quartier umzuziehen.
Diese Art von Verflechtung zwischen Staat und Tycoons ist nicht nur in Hongkong und Singapur ein Problem. Ganz Südostasien beruht auf diesem Wirtschaftsmodell, wie der bekannte Asienspezialist Joe Studwell in zahlreichen Büchern aufgezeigt hat: Indonesien, Malaysia, Thailand, die Philippinen.
Ab in die Politik
In «Asian Godfathers» (2007) zeigt Studwell auf, dass die Tycoons weniger durch innovative Ideen zu ihrem Reichtum gekommen sind als vielmehr durch ihre Fähigkeit, staatliche Lizenzen über alle politischen Regimewechsel hinweg zu sichern. Und er erklärt, warum viele Tycoons chinesischer Abstammung sind. Als Angehörige einer ethnischen Minderheit sind sie politisch für die Regierungen weniger gefährlich als Angehörige der Mehrheitsethnien. Die Behauptung, chinesische UnternehmerInnen seien tüchtiger als alle anderen, verweist er ins Reich der Legenden.
Die Bevorzugung der ChinesInnen bei der Vergabe von staatlichen Lizenzen stammt aus der Kolonialzeit. Besonders systematisch ging die 1602 gegründete holländische East India Company auf der indonesischen Insel Java vor. Sie übergab den Tycoons nicht nur wichtige Wirtschaftssektoren, sondern verlieh ihnen auch einen speziellen rechtlichen Status. Dadurch sollte die einheimische politische Elite geschwächt werden. Nach der Entkolonialisierung im 20. Jahrhundert blieb das System intakt.
Gefährlich werden die Tycoons dann, wenn sie ihre staatlichen Lizenzen verlieren. Das jüngste Beispiel ist die politische Kampagne des Thailänders Thaksin Shinawatra. Er stammt aus einer chinesischstämmigen Familie, die dank staatlicher Konzessionen im Seiden- und Reishandel zu grossem Reichtum gelangt ist. Er selbst erweiterte die wirtschaftliche Macht der Familie durch den Erwerb von Konzessionen in der Telekommunikations- und Medienbranche.
Als der Internationale Währungsfonds (IWF) während der Asienkrise 1997 auf die Liberalisierung des Telekommunikationssektors drängte und die thailändischen Behörden nachgaben, musste sich Thaksin plötzlich dem Wettbewerb stellen. Die Freigabe der Lizenzen begann auf die Margen zu drücken. Um die Liberalisierung zu stoppen, begann er eine Massenpartei aufzubauen, indem er grosse Teile der armen Landbevölkerung mobilisierte. Dafür setzte er seinen Reichtum ein und begann, sich als ehemals armen Buben vom Land zu inszenieren. Unterstützt wurde er von mehreren Tycoons, die ebenfalls um ihre Privilegien bangten.
2001 gewann Thaksin die Wahlen und holte mehrere Tycoons in sein Kabinett. Als erste Amtshandlung stoppte er die Liberalisierung im Telekommunikationssektor. Bald darauf begann er, den Sektor so neu zu regulieren, dass er wieder seine alte Machtstellung erlangte. Gleichzeitig sorgte er dafür, dass umfangreiche Investitionen in den ländlichen Gegenden getätigt wurden. Der Plan ging auf. 2005 wurde Thaksin mit überwältigender Mehrheit als Ministerpräsident bestätigt.
Doch dann überspannte er den Bogen. Als er im Januar 2006 einen grossen Anteil seines Telecomunternehmens steuerfrei an den Staatsfonds Singapurs verkaufte, reagierte die Öffentlichkeit empört. Eine städtische Bürgerbewegung formierte sich, Thaksin reagierte mit Neuwahlen, die vom Verfassungsgericht nachträglich für ungültig erklärt wurden – im September putschte das Militär. Thaksin musste das Land verlassen. Am System änderte sich jedoch nichts. Seit 2011 ist Thaksins Schwester Yingluck Shinawatra Ministerpräsidentin.
Die Verflechtung von Staat und Tycoons verursacht hohe wirtschaftliche Kosten. Sie marginalisiert innovative Unternehmen, die Arbeitsplätze schaffen und dazu beitragen würden, den Lebensstandard im Land zu verbessern. Diese Unternehmerschicht ist gefährlich für die politische Kaste, die ihre Pfründe sichern will. Entsprechend stösst das südostasiatische Wachstumsmodell seit einigen Jahren an seine Grenzen.
Das andere Modell
Im Buch «How Asia Works» (2013) vergleicht Studwell das südostasiatische mit dem nordostasiatischen Modell: Japan, Südkorea und Taiwan. Auch in diesen Ländern sind Staat und Wirtschaft eine enge Allianz eingegangen. Doch sie besitzt einen anderen Charakter. Dort fördert der Staat innovative Branchen: Zuerst war es die Textilindustrie, später die Maschinen- und Autoindustrie, schliesslich die Elektronik- und Computerindustrie. Der Lebensstandard in diesen Ländern hat entsprechend westliches Niveau erreicht.
Zudem sind auch die Einkommen gleichmässiger verteilt. In Japan, Südkorea und Taiwan liegt der Gini-Index, der bis hundert reicht und mit dem die Ungleichheit gemessen wird, deutlich unter vierzig; in Malaysia und auf den Philippinen klar über vierzig, in Thailand gar über fünfzig.
Auch unter ÖkonomInnen herrscht Konsens, dass in Nordostasien der Staat das Wirtschaftswachstum auf intelligente Weise gefördert hat. Er hat die Gewaltentrennung und den Rechtsstaat eingeführt, hat in Infrastruktur und Bildung investiert und die Liberalisierung des Aussenhandels streng kontrolliert. Erst wenn ein neuer Industriezweig reif für den globalen Wettbewerb war, wurden die Zollschranken gesenkt. Mit dem wirtschaftlichen Erfolg kam auch die gesellschaftliche Liberalisierung: Die gebildeten Mittelschichten und die Gewerkschaften gingen für ihre Interessen auf die Barrikaden.
Warum hat der Staat in Nordostasien eine solch günstige Rolle gespielt? Eine Antwort darauf zu finden, ist schwierig. Tatsache ist, dass es Japan bereits im späten 19. Jahrhundert als einzigem nicht westlichem Land gelang, sich die europäische Technologie anzueignen und auf den Weltmärkten konkurrenzfähig zu sein. Nach 1945 schloss Japan beinahe mühelos zu den westlichen Mächten auf – mit einer gewissen Verzögerung schafften dies dann auch Südkorea und Taiwan, die das japanische Modell imitierten.
Ein Währungsexperiment
Eine wichtige Rolle spielte zweifellos der Kalte Krieg, der die USA veranlasste, grosse Summen nach Ostasien zu verschieben und den Staat gewähren zu lassen. Ähnlich wie der Schweizer Finanzplatz haben die Länder davon profitiert, dass die USA in dieser Phase eine grosszügige Hegemonialmacht waren. Die Schutzzollpolitik zugunsten der einheimischen Branchen wurde von Washington akzeptiert, auch wenn sie nicht dem wirtschaftspolitischen Trend entsprach.
Die nordostasiatischen Staaten wurden einzig durch den internationalen Kapitalverkehr, den sie liberalisierten, überfordert. In Japan führte der Kapitalzufluss in den frühen neunziger Jahren zu einem Immobilienboom, dessen Zusammenbruch das Land bis heute lähmt. Seit der neue Premierminister Shinzo Abe letzten Dezember ans Ruder kam, versucht Japan nun mit einer aggressiven Ausweitung der Notenbankgeldmenge und neuen Ausgabeprogrammen die langjährige Stagnation zu beenden. Abe will dafür sorgen, dass die Preise und Löhne wieder steigen.
Bis jetzt sieht es gut aus. Der Yen ist um 25 Prozent abgewertet, damit haben die Exporte zugelegt, die KonsumentInnenstimmung hat sich verbessert. Als Folge davon sind die Preise und Löhne wie gewünscht gestiegen. «Abenomics», wie das neue Programm getauft wurde, scheint bisher zu funktionieren. Der längerfristige Erfolg ist aber alles andere als gewiss. Der neue Kurs muss über mehrere Quartale verfolgt werden, sonst glaubt niemand, dass die expansive Wirtschaftspolitik ernst gemeint ist. Sobald die KonsumentInnen und Firmen das Gefühl haben, die Notenbank könnte das Experiment aus Angst vor einer Inflation abbrechen, wird Japan wieder in den alten Zustand zurückfallen, in dem sinkende Löhne und Preise die Wirtschaftsaktivität bremsen.
Alles hängt also davon ab, ob Abe die Nerven hat, gegen alle Inflationsbedenken am Experiment festzuhalten. Es wäre ein historisch einmaliges Ereignis, wenn es Japan auf diese Weise gelingen würde, sich aus der langjährigen Stagnation und Deflation zu befreien.
Tobias Straumann
Tobias Straumann (47) ist Wirtschaftshistoriker und Dozent an der Universität Zürich. Seine Spezialgebiete sind die europäische Währungs- und Finanzgeschichte sowie die Schweizer Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Straumann verbrachte kürzlich ein Semester als Gast an der Chinese University of Hong Kong.