Kultour

Nr. 38 –

Tanztheater

Verstehen wir uns?

Gebärden sie noch, oder tanzen sie schon? Das ist nur eine der Fragen, die einem beim Tanztheater «Listen» durch den Kopf schwirren. Da werden Verständnisbarrieren umspielt und eingerissen. Auf der Bühne: ein Ensemble aus fünf Gehörlosen und sechs Hörenden, dazu der Basler Perkussionist Fritz Hauser, der die tanzenden Körper in Schwingung versetzt oder umgekehrt ihre Gebärden in Klang übersetzt. Der Choreograf Kinsun Chan, geboren in Kanada und seit seinem Engagement am Zürcher Ballett unter Heinz Spoerli in der Schweiz ansässig, hat sein Stück nicht aus herkömmlichen Tanztechniken entwickelt, sondern aus der Gebärdensprache.

Entstanden ist das ungewöhnliche Werk im Rahmen von Theatertraum, einem interkulturellen Integrationsprojekt, das seit acht Jahren hörende und gehörlose Menschen auf der Bühne zusammenführt. Die ersten fünf Vorstellungen von «Listen» im Sommer letzten Jahres waren schon vor der Premiere restlos ausverkauft. Jetzt gibts fünf Reprisen in Bern, Zürich und Chur. Fürs Publikum gilt dann: Augen auf! Sonst läuft man Gefahr, etwas Wichtiges zu überhören.

«Listen» in: Bern Dampfzentrale, Mi, 24. September 2014, 20 Uhr. Zürich Rote Fabrik, Aktionshalle, 
Do–Sa, 25.–27. September 2014, jeweils 20 Uhr. 
 Chur Theater Chur, So, 9. November 2014, 17 Uhr. 
www.theatertraum.ch

Florian Keller

Literaturtheater

Miriam Pinkus (1916–1956)

Nein, kampflos hat sie nie hingenommen, dass ihr Leben scheitern könnte – und doch zieht sich die Frage wie ein roter Faden durch die kurzen vierzig Jahre von Miriam Pinkus: «Warum gerade ich?» Zeitlebens steht sie im Schatten ihres älteren Bruders Theo, wird als zehnjähriges Mädchen vom jüdisch-bourgeoisen Zürichberg zur Grossmutter nach Breslau geschickt, wo sie sich vor Heimweh verzehrt. Doch aus der Schweiz taxiert die wiewohl sehr kunstaffine Familie ihre künstlerischen Ambitionen mit Verachtung – zu wenig Talent, zu wenig Fleiss, und überhaupt: Die Zeiten sind ungünstig. Der vermeintliche Seelenpartner entpuppt sich als Betrüger, die schriftstellerischen Versuche reichen nicht zum Überleben. 1956 stirbt Miriam Pinkus verarmt an den Folgen von multipler Sklerose.

Mit viel Engagement hat die Historikerin und Autorin Iris Blum die aussergewöhnliche Biografie von Miriam Pinkus zusammen mit Esther Burkhardt-Modena und Agatha Czarkowksa recherchiert und mit Severin Perrig für die Bühne konzeptioniert. In einer szenischen Lesung mit Ausschnitten aus Pinkus’ Romanmanuskripten, Tagebüchern und Briefen erwecken Graziella Rossi und Helmut Vogel Miriam Pinkus noch einmal zum Leben, Fotografien und Musik runden das audiovisuelle Erlebnis im Sogar-Theater in Zürich ab.

«Ich frage Dich, warum gerade ich?» in: 
Zürich Sogar-Theater, Do–Mi, 18.–24. September 2014, 20.30 Uhr; So, 21. September 2014, 17 Uhr. 
www.sogar.ch

Franziska Meister

Lesung

Simone Lappert

Der Aargauer Autorin Simone Lappert ist mit ihrem Roman «Wurfschatten» ein starkes Debüt gelungen. Lappert erzählt von Ada, einer jungen Schauspielerin, die wegen ihrer Hypochondrie kaum mehr ihr Haus verlässt. In ihrem «Therapiezimmer» hängen an der Wand Bilder von schlimmen Krankheiten von A bis Z, doch auch das hilft nicht wirklich. Es kommt vor, dass Ada unterwegs von Panikattacken befallen wird, dann ist sie völlig hilflos und unfähig zu handeln. Manchmal nimmt sie nachts ein Taxi und fährt durch die Stadt – das sind die kleinen Glücksmomente in ihrem Leben. Doch mit dem Einzug des Enkels von Adas Vermieter ändert sich einiges in ihrem Leben.

«Wurfschatten» ist kein tiefenpsychologisches Drama, sondern eine akribische Milieustudie. Lappert erzählt von wohlhabenden Kindern, die mit dem Erwachsenwerden überfordert sind und in deren Alltag sich alles nur um sie selber dreht. An der Buchvernissage im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg liest die Autorin aus ihrem Buch. Moderation: Christine Lötscher.

«Wurfschatten» in: Lenzburg Literaturhaus, 
Mo, 22. September 2014, 19.15 Uhr, Buchvernissage. 
www.aargauer-literaturhaus.ch

Silvia Süess

Ausstellung

Flimmerkiste

Beim ersten Mal verhaspelte sie sich: Rosmarie Burri war die erste Ansagerin, als das Schweizer Fernsehen am 20. Juni 1953 auf Testsendung ging. «Es ist ein historischer Moment, sozusagen», sagte das junge «Fräulein» und stolperte über das Wort «sozusagen». Wie sehr das Fernsehen die Gesellschaft und das Familienleben prägen würde, konnte damals noch niemand ahnen. Zu Beginn wurde nur an wenigen Stunden pro Tag gesendet, der Dienstagabend war noch lange sendefrei, weil dieser der «Vereinsabend» war, und die Ansagerinnen sprachen ihr kleines Publikum in sehr persönlichem Ton an.

Das Historische Museum Basel beleuchtet in der Ausstellung «Flimmerkiste. 60 Jahre Fernsehen zwischen Illusion und Wirklichkeit» mit Hunderten von Archivaufnahmen, historischen Fotografien und Objekten das Phänomen Fernsehen, das zu einer tiefgreifenden Veränderung des Alltags geführt hat. In einem Rahmenprogramm gibt es Diskussionen über die Zukunft des (Kultur-)Fernsehens, über die Literatur und das Fernsehen heute und früher oder über die Beziehung von Fernsehen und Film, mit illustren Gästen wie Franz Hohler, Roger de Weck oder Kurt Aeschbacher.

«Flimmerkiste. 60 Jahre Fernsehen zwischen Illusion und Wirklichkeit» in: Basel Historisches Museum, Fr, 19. September 2014, bis So, 8. Februar 2015. 
www.hmb.ch

Silvia Süess

Jukebox

Heute vornehmlich ein sentimentales Sammlerstück, hatte die Jukebox durchaus mal politische Sprengkraft. Sie spielte unbändige und unanständige Musik, daher auch der Name – «juke» hiess in der Sprache der Südstaatensklaven so viel wie «obszön» oder «wild». Moralisch unangreifbar, spielt die Musikmaschine einfach, was gewünscht wird – und zwar seit 1889, als Louis T. Glass und William S. Arnold im Restaurant Palais Royal Saloon in San Francisco den ersten Nickel-in-the-Slot-Player aufstellten, einen Musikautomaten mit Münzeinwurf.

Spätestens in den 1950er Jahren wurde die Jukebox auch hierzulande populär – der Siegeszug hatte viel mit dem Anbranden der nächsten «unanständigen» Musikwelle zu tun, dem Rock  ’n’  Roll. Auch Schweizer Firmen mischten mit Produkten wie Music-Boy, Star-o-Mat oder Chantal Panoramic im lukrativen Geschäft mit automatischer Musik mit.

Das Museum für Musikautomaten in Seewen SO zeigt in der aktuellen Sonderausstellung «The Golden Age of the Jukebox» eine Vielzahl dieser oft aufwendig gestalteten Musikmaschinen – viele werden auch hören lassen, was in ihnen steckt.

«The Golden Age of the Jukebox» in: Seewen
 Museum für Musikautomaten, Fr, 19. September 2014, bis So, 30. August 2015. 
www.bundesmuseen.ch/musikautomaten

Roland Fischer

Film

Daumenkinos

Es ist die einfachste, kleinste und wohl auch günstigste Form des Kinos: das Daumenkino. Wenn man das kleine Büchlein schnell durchblättert, scheinen sich die Figuren zu bewegen. Der deutsche Filmemacher Volker Gerling baute sich 2002 einen Bauchladen, legte sechs selbst gemachte Daumenkinos darauf und ging mit seiner Ausstellung auf Wanderschaft. Er begegnete Menschen, die er wiederum fotografierte und aus deren Bildern er neue Daumenkinos machte. «Bilder lernen laufen, indem man sie herumträgt. Zu Fuss durchs Land» lautet der Titel des letzten Herbst erschienenen Buchs, in dem er über seine Begegnungen und seine Reiseerfahrungen berichtet.

Nun kommt Gerling mit seinen Daumenkinos in die Berner Kinemathek Lichtspiel, wo er seine Daumenkinos unter eine Videokamera legt und für alle sichtbar auf die Leinwand projiziert. Zu den laufenden Bildern erzählt er Geschichten von seinen Begegnungen: vom alten Mann, der die Welt verbessern wollte und dabei fast verhungert wäre, vom Tischlergesellen, der, kurz bevor er loszog, seine neue Freundin kennenlernte, oder von einer jungen Frau, die sich im Urlaub für ein neues Leben entschied.

«Aus Volker Gerlings ‹Daumenkino› kamen Menschen heraus, wie sie strahlender, glücklicher und verblüffter selten in einem Kino zu sehen sind», schrieb die «Süddeutsche Zeitung» zu diesem unkonventionellen Kinoabend.

«Bilder lernen laufen, indem man sie herumträgt» in: Bern Kino Lichtspiel, Fr, 19. September 2014, 20 Uhr, 
Bar ab 19 Uhr. www.lichtspiel.ch

Silvia Süess