Ungarn: Probelauf im rechtsextremen Laboratorium

Nr. 40 –

Der Bürgermeister der nordungarischen Kleinstadt Ozd will die Roma vertreiben. Seine rechtsextreme Partei Jobbik übt hier das Regieren.

Alles steht still, in Ozd herrscht gespenstische Ruhe. Als stumme Zeugen einer hektischen Vergangenheit ragen überall wacklige Fabriktürme in den Himmel. Die einstige Hochburg der ungarischen Schwerindustrie, 150 Kilometer nordöstlich von Budapest gelegen, ist seit Jahrzehnten ein Synonym für Arbeits- und Hoffnungslosigkeit, Armut und Angst. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs waren unrentable Betriebe stillgelegt worden. «Jedes Jahr verlassen etwa 400 Menschen Ozd, seit den neunziger Jahren ist die Bevölkerungszahl von 47 000 auf 35 000 geschrumpft», klagt der abgewählte Bürgermeister Pal Fürjes, der der rechtsnationalen Regierungspartei Fidesz angehört.

Geblieben sind die Schwächsten und Ärmsten. Viele von ihnen sind Roma, die heute etwa ein Drittel der Bevölkerung von Ozd bilden – Tendenz steigend. Von vielen UngarInnen werden sie ironisch «unsere Romaminderheit» genannt, womit – je nach Tonlage – Mitleid oder Verachtung zum Ausdruck kommt.

«Wegen meiner dunklen Hautfarbe sieht man mir von weitem an, dass ich ein Rom bin», sagt Geza Dombi. «Obwohl ich jeden Tag bade und saubere Kleider trage, bleibt auch im überfüllten Bus der Sitzplatz neben mir leer», schildert der Kopräsident einer Romaorganisation seinen Alltag. Die VerkäuferInnen und Detektive in den Läden liessen ihn keine Sekunde unbeobachtet.

Peter Vidko, der als Nachtwächter in einem Einkaufszentrum arbeitet, ärgert sich über die Roma. «Die meisten von ihnen wollen lieber Sozialhilfe beziehen, als zu arbeiten», klagt er. Früher seien alle in Ozd – auch die Roma – in den Fabriken tätig gewesen. «Bei jedem Schichtwechsel versammelten sich hier Tausende», sagt Vidko und zeigt wehmütig auf das riesige Gelände vor der Fabrik.

Vidko arbeitete vierzig Jahre lang selbst in einer der Fabriken. Heute schlägt er sich als Wachmann durch, arbeitet etwa achtzig Stunden pro Woche und verdient umgerechnet 400 Franken im Monat. «Das reicht gerade noch – aber in zwei Jahren wird die Rente etwa ein Viertel weniger wert sein», sagt er besorgt. «Weder die Sozialisten noch Fidesz haben die Probleme in Ozd gelöst – jetzt bleibt nur noch dieser Junge von der Jobbik.» Vidko meint David Janiczak, den 28-jährigen Bürgermeister, der letzten November an die Macht kam.

Jobbik gewinnt an Ansehen

Derzeit besetzt die neofaschistische Partei Jobbik (Bewegung für ein besseres Ungarn) zwölf Prozent der Sitze im Parlament und ist damit die drittstärkste Kraft. Wären heute Wahlen, würden ein Drittel der Jungen und ein Fünftel der Gesamtbevölkerung für die Jobbik stimmen. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban und seine Partei Fidesz kämpfen indessen gegen sinkende Popularität – und übernehmen immer häufiger rechtsextreme Ideen: Der Zaun, den die Regierung zur Abwehr der Flüchtlinge bauen liess, ist eine davon. Auch die Wiedereinführung der Todesstrafe, eigentlich ein Steckenpferd der Jobbik, wurde neulich verhandelt. Zuletzt lösten die radikalen Sozialabbaupläne der Regierung sowie etliche Korruptionsskandale in hohen Regierungsämtern landesweite Proteste aus. Die Empörung in der Bevölkerung schwächt Orbans Partei, immer mehr Wählerinnen und Sympathisanten wenden sich von ihr ab – und der Jobbik zu.

Vorsitzender der Jobbik ist Gabor Vona. Die von ihm gegründete paramilitärische Organisation Magyar Garda sorgt im In- und Ausland für Empörung. Nach zahlreichen Gerichtsprozessen wurde sie als rassistisch eingestuft und verboten. Später formierte sich die Gruppe unter neuem Namen erneut.

Der ehemalige Geschichtslehrer Vona bemüht sich, seine Partei mit einer Charmeoffensive zu einer respektablen «Volkspartei» zu machen – was ihm auch zu gelingen scheint. Mit seiner sanften Rhetorik erreicht er immer mehr WählerInnen. Und in Moskau, Ankara und Teheran wird der 38-Jährige genauso freundlich empfangen wie Ministerpräsident Orban selbst. In den USA und den Ländern der Europäischen Union ist Vona zwar unerwünscht. Aber auch Orban isoliert sich zunehmend mit seiner autoritären Politik (siehe WOZ Nr. 37/2015 ). Vonas Kurs zeitigt derweil Erfolge, im Inland gewinnt der Politiker immer mehr an Ansehen und Einfluss. Und die Jobbik hat bereits in einem Dutzend Städten Kommunalwahlen gewonnen.

Lange ungarische Traditionen

David Janiczak, der neue Bürgermeister von Ozd, ist sichtlich erfreut über den Besuch des Schweizer Journalisten. Die wütenden Angriffe seiner Partei auf die «liberale Lügenpresse des Westens» gehören der Vergangenheit an. Wie auch der frühere Brauch, vor einem Interview 10 000 US-Dollar als «Unkostenbeitrag» für allfällige Gerichtskosten zu verlangen, falls der Journalist oder die Journalistin nach Erscheinen des Artikels wegen Verleumdung angeklagt werden müsste.

Der galante Mann an Janiczaks Seite stellt sich als Kommunikationsdirektor vor. Vor kurzem habe er noch für einen Fidesz-Sender in Budapest gearbeitet. Sein Jugendfreund Janiczak habe ihn dann nach Ozd geholt, erzählt er. Zu seinen Aufgaben gehört, den Bürgermeister zu begleiten und seine Auftritte zu filmen. So sollen dann Medienschaffende mit «freundlicher» oder «feindlicher» Gesinnung identifiziert werden.

Einige Fragen ärgern den Bürgermeister: Die Arpad-Fahne mit den rot-weissen Streifen in seinem Büro sei keine Sympathiebekundung für die HungaristInnen, die ungarischen Nazis der vierziger Jahre. «Diese Fahne gehörte vor tausend Jahren unserem König», erklärt Janiczak. Es gehe ihm also um die Pflege ungarischer Traditionen. Bei der Frage, welche ethnischen Minderheiten in Ozd lebten und leben, denkt der Bürgermeister lange nach. Als das Wort «Jude» fällt, erinnert er sich an seinen Onkel. «Er lobte die Juden und erzählte oft von einem jüdischen Spirituosenhändler», sagt Janiczak. Mehr fällt ihm zu dem Thema nicht ein.

Wenige Schritte von Janiczaks Büro entfernt hängt eine schlichte Gedenktafel. Sie erinnert an die 711 JüdInnen von Ozd, die von den ungarischen Behörden registriert, enteignet und in ein Ghetto gepfercht worden waren. Im Juni 1944 trieben die ungarischen Gendarmen sie dann in Viehwaggons – Endstation Auschwitz. Heute zeugt nur noch der jüdische Friedhof am Rand der Stadt davon, dass in Ozd einmal JüdInnen lebten.

Jobbik preist das Modell von Ozd

Geht es nach dem Willen des Bürgermeisters, sollen möglichst viele der etwa 12 000 Roma die Stadt verlassen. Deshalb bemüht sich der Politiker, ihnen das Leben möglichst schwerzumachen. So müssen aufgrund neuer Verordnungen immer mehr Roma aus ihren Kommunalwohnungen ausziehen und stehen damit praktisch auf der Strasse.

Und obwohl die Polizei seit Jahren einen Rückgang der Gewaltdelikte registriert, schürt der Bürgermeister die Angst vor Verbrechen: Janiczak gibt immer mehr Geld für Überwachung aus, schafft Drohnen und Kameras an. Um sie gegen «Faulenzer und Diebe» einsetzen zu können, wie er sagt.

Janiczaks Vorgehen ist ein Hinweis darauf, was drohen könnte, wenn die Partei die nächsten Parlamentswahlen im Jahr 2018 gewinnt. Zukunftsweisend ist dabei der Zerfall von Fidesz: Zwei ihrer Vertreter erklärten sich für unabhängig – und arbeiten inzwischen mit der Jobbik zusammen. Jobbik-Chef Vona wiederum preist immer wieder Bürgermeister Janiczak und das Modell von Ozd. Die Stadt dient der Partei als Laboratorium, in dem neofaschistisches Regieren geübt wird.