Kommentar zum Verhältnis der Schweiz zur EU: Die überfällige Debatte
Auch falls der Bundesrat die «Masseneinwanderungsinitiative» umsetzen kann: Was tun, um die Bilateralen langfristig zu erhalten?
Haben Sie noch den Überblick? Eben hat der Bundesrat aufgezeigt, wie er die «Masseneinwanderungsinitiative» in ein Gesetz giessen will, ohne mit der Europäischen Union brechen zu müssen; und bereits haben Politiker, Publizistinnen und Professoren unzählige neue Ballone steigen lassen. Die alles entscheidende Frage wird dagegen nirgends debattiert: Was ist zu tun, damit auch in zehn, zwanzig Jahren eine Mehrheit der SchweizerInnen die bilateralen Verträge noch will?
Vielleicht wird die Schweiz ihren Kopf diesmal noch rechtzeitig aus der Schlinge ziehen können: dank eines Konsenses mit der EU, den der Bundesrat weiterhin anstrebt (mit der einseitigen Schutzklausel, die er nun dem Parlament als Plan B vorgelegt hat, wird dies kaum funktionieren). Doch dann? Immer mehr Leute sind bereit, die Bilateralen zu kippen. Vor sechzehn Jahren stimmten 67 Prozent der BürgerInnen für die Personenfreizügigkeit. Gemäss Umfragen würde dieser Entscheid heute nur noch hauchdünn bestätigt. Und bereits hat die SVP angedeutet, eine Initiative zur Kündigung der Bilateralen lancieren zu wollen.
Die Taktik von CVP und FDP, um die Bilateralen zu erhalten, besteht darin, die SVP in ihrer Anti-EU-Fanfare zu überbieten. So hoffen sie, Rückhalt in der Bevölkerung zu gewinnen, wie sie es bereits vor der Abstimmung zur «Masseneinwanderungsinitiative» am 9. Februar 2014 vergeblich versucht haben. Eben haben die beiden Parteien einer SVP-Motion zugestimmt, die vom Bundesrat verlangt, das Gesuch um Beitrittsverhandlungen von 1992 an die EU zurückzuziehen. Dabei wurde der vergilbte Brief längst auf Eis gelegt.
Eine geschickte Taktik ist jedoch noch keine gute Strategie: Wer über Jahre auf die EU einprügelt, muss sich nicht wundern, wenn die eigene Klientel am Abstimmungstag ein Zeichen gegen diese EU setzt. Kein Wunder, dass ein Grossteil der CVP- und FDP-Basis am 9. Februar trotzdem Ja gesagt hat. Der Linguist John Austin sprach von einem «performativen Sprechakt»: Die Welt wird zu dem, was wir mit Worten aus ihr machen.
Die Wirtschaft, ein paar letzte Liberale rund um die Operation Libero und ein Teil der SP beschränken sich ihrerseits darauf, auf die wirtschaftlichen Fakten zu verweisen: Die Schweiz hat doch vom EU-Binnenmarkt gut profitiert! Das Problem ist: Dass ihr Appell immer weniger verfängt, ist nicht nur das Resultat dieser Anti-EU-Fanfare. Der zweite Grund ist: Der EU-Binnenmarkt macht den Kuchen vielleicht grösser, doch der Kuchen wird ungleicher verteilt. Friedrich Hayek, der Vordenker des europäischen Binnenmarkts, hoffte 1939 gar, dass in ihm auch Kinderarbeit erlaubt sein würde.
Für gut ausgebildete Junge ist die Personenfreizügigkeit ein Segen. Für schlecht ausgebildete Ältere bedeutet sie jedoch zusätzliche Konkurrenz und Lohndruck. Der ehemalige SP-Nationalrat Rudolf Strahm geisselte die Freizügigkeit deshalb jüngst als «neoliberales System».
Das ist nur halb richtig. Denn sie verleiht den Menschen auch Rechte: auf Bewegungsfreiheit (zumindest für jene, die Arbeit haben), auf Sozialleistungen und Familiennachzug. Es gibt also auch für Progressive gute Gründe, die Freizügigkeit zu verteidigen. Der springende Punkt ist: Hierzu müssen ihre Schattenseiten bekämpft werden. Die überfällige Frage, die der Bundesrat aufs Tapet bringen muss, ist einfach: Angenommen, an der Freizügigkeit wird nicht gerüttelt – was muss sich in diesem Fall stattdessen ändern?
Eine erste Antwort gab der Bundesrat, als er vor einigen Jahren erklärte, die «flankierenden Massnahmen» zum Schutz der Arbeitenden stärken zu wollen. Angesichts der Totalopposition der Wirtschaft krebste er jedoch auf halbem Weg zurück.
Derzeit scheint es wahrscheinlich, dass die Schweiz ihren Kopf nur mit einer neuen Abstimmung aus der Schlinge ziehen kann. Eine solche wird die eingereichte Rasa-Initiative bringen, die den 9. Februar rückgängig machen will. Bereits bei diesem Urnengang werden die Leute nur dann Ja stimmen, wenn eine Antwort auf ihre ökonomischen Ängste gefunden wird.