Kost und Logis: Der Fischgräten-Kollateralschaden
Ruth Wysseier versucht eine Ehrenrettung
Ein ganzer fangfrischer Hecht à la meunière oder eine Seeforelle blau gehören für mich zu den höchsten kulinarischen Genüssen. Ich war deshalb höchst irritiert, als kürzlich der von mir hoch geschätzte Constantin Seibt in einem sehr klugen Artikel einen verrückten Vergleich machte. Sein Text mit dem Titel «Fürchte dich nicht» war ein Plädoyer gegen die Angst. Darin schrieb er: «Allein in Deutschland sterben pro Jahr über 500 Menschen an einer Fischgräte.» Ein Blogger zweifelte dies an, da Fischgräten-Todesfälle statistisch gar nicht separat erfasst würden.
Seibt nahm daraufhin die mörderische Aussage zurück. Er habe sie, aus drei Quellen abgeleitet, bei Recherchen über die subjektive Wahrnehmung von Gefahren gefunden. Sie hätte zeigen sollen, dass wir die Gefahr, an einer Fischgräte zu ersticken, weniger wahrnehmen als die Terrorgefahr.
Wieso ausgerechnet dieser Vergleich? Leidet der Autor womöglich an einer Fischgrätenphobie? Schien ihm deshalb die Zahl plausibel? Für mich war es Rufmord, wenn auch im Dienst eines guten Arguments. Ist die Angst vor Fischgräten im Geringsten berechtigt? Eine Internetkurzrecherche zeigt: Es gibt kaum glaubhafte wissenschaftliche Berichte, dass Menschen an Fischgräten ersticken, sie also einatmen. Gräten – und kleine Hühnerknochen – können in der Speiseröhre stecken bleiben. Dies ist kaum je tödlich, doch muss in komplizierten Fällen operiert werden. Die häufigste Todesursache beim Essen ist banalerweise ungenügend zerkaute Nahrung, gefolgt von verschluckten Brocken wie Spielzeugen oder Zahnprothesen sowie eingeatmeten Fremdkörpern.
Sicherheitshalber unterziehe ich diese Funde einer Plausibilitätsprüfung mittels einer autobiografisch unterfütterten Statistik. Schliesslich kenne ich die meisten Berufsfischer und Restaurants am Bielersee, und seit ich mich erinnern kann – also ein gutes halbes Jahrhundert –, habe ich noch nie von einem Todesfall wegen einer Fischgräte gehört. Meine Berechnung ergibt, dass in der Zeitspanne in den gut zwanzig Fischrestaurants am See 18 000 000 Fischmahlzeiten gegessen wurden. (20 × 150 Plätze = 3000. Mittags und abends ein Drittel besetzt, 2 × 1000 Gäste. 2000 Gäste täglich × 5 Tage = 10 000 wöchentlich. 2500 essen Fleisch oder vegetarisch, 7500 Fisch. 7500 × 48 Wochen = 360 000 jährlich × 50 Jahre = 18 000 000).
Gut, wir haben also achtzehn Millionen Überlebende allein um den Bielersee herum. Leider wird das keine Fischgrätenphobie heilen. Ein trauriger Ausweg aus dem Dilemma sind Fischstäbli, für deren Herstellung Fische maschinell zermalmt und wieder zusammengeklebt werden. Oder in Restaurants die hippen Hechtbällchen, die genauso grätenfrei sind wie Stäbli. Und nachdem nun schon der transgene raketenschnell wachsende atlantische Lachs als Lebensmittel zugelassen wurde, ist es sicher nicht mehr weit zum grätenfreien Gentech-Schneckenfisch.
Ruth Wysseier ist in einem Fischrestaurant aufgewachsen und empfiehlt, ganzen Fisch mit Genuss, Verstand und geschärften Sinnen zu essen.