Demonstrationen in Marokko: Tod eines Fischhändlers

Nr. 44 –

In über zwanzig Städten protestierten Zehntausende MarokkanerInnen gegen Korruption und Willkür im Staatsapparat. Das weckt Erinnerungen an die Umwälzungen von 2011.

Mit einer Verfassungsreform, dem Machtverzicht des Königs, freien Wahlen und einer unabhängig agierenden Regierung hat Marokko die revolutionäre Kraft des Arabischen Frühlings seit 2011 friedlich kanalisiert. Für viele wurde das nordafrikanische Königreich damit zum Vorzeigeland in einer krisengeschüttelten Region. Nun bringt der Tod eines Fischhändlers aber erstmals seit 2011 wieder Zehntausende Menschen auf die Strasse.

Mohsen Fikri kam am letzten Freitag in einer Müllpresse zu Tode. Er war in der Küstenstadt Al-Hoceïma im Norden Marokkos von Stadtbeamten gestoppt worden, weil er 500 Kilogramm Schwertfisch geladen hatte, der in dieser Jahreszeit nicht gefangen werden darf. Die Beamten konfiszierten den Fisch und warfen ihn in einen Müllwagen – für eine freie Weiterfahrt sollen sie Bestechungsgeld verlangt haben. Fikri war so verärgert, dass er in den Wagen sprang, um seinen Fisch aus der Müllpresse zu holen. Als diese plötzlich ansprang, konnte Fikri nicht mehr gerettet werden. Bis heute ist unklar, wer die Maschine in Gang setzte.

Doch noch eine Revolution?

Die grausamen Bilder des Vorfalls gingen rasend schnell durch die sozialen Medien. «Wir sind Mohsen!», riefen DemonstrantInnen bei Protesten in über zwanzig marokkanischen Städten. Vor allem ausländische Medien zogen rasch Parallelen zur Selbstverbrennung des tunesischen Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi vom Januar 2011, die gemeinhin als Startschuss des Arabischen Frühlings gilt. Bahnt sich in Marokko doch noch eine Revolution an?

«Ganz bestimmt nicht», meint Aziz Allilou, ein junger marokkanischer Journalist. Es sei zwar richtig, dass die «Bewegung 20. Februar», die schon 2011 Demonstrationen organisiert hatte, auch diesmal zu den Protesten aufgerufen habe. «Aber heute geht es nicht um die Umwälzung des politischen Systems», sagt Allilou. Die Proteste würden sich stattdessen gegen die Willkür der staatlichen Organe richten, zu deren Symbol der grausame Tod des Fischhändlers Fikri geworden sei.

Regierung und Königshaus sind bestrebt, die Wogen möglichst schnell zu glätten. So ordnete König Mohammed VI. eine «genaue Untersuchung» des Vorfalls an. Und bei den Demonstrationen verzichteten die Sicherheitskräfte auf gewaltsame Eingriffe, um eine Eskalation zu vermeiden. Zusätzliche Verletzte oder gar Tote könnten schliesslich noch mehr Menschen auf die Strassen bewegen, und gerade jetzt kämen dem Land grössere Ausschreitungen höchst ungelegen, denn nächste Woche findet in Marrakesch die Uno-Klimakonferenz statt.

«Wir spüren es jedes Mal, wenn wir eine Behörde aufsuchen», sagt eine junge Frau, die in Rabat mitdemonstriert hat. «Wer keinen ‹Kaffee› an die Beamten bezahlt, wartet am längsten auf die Bearbeitung seines Dokuments.» Und die Polizisten würden sich manchmal wie «Könige» benehmen. «Dass jetzt so viele Menschen protestieren, zeigt auf, wie akut das Problem ist.»

Seit 2011 versucht Marokko, die grassierende Korruption einzudämmen. So wurden etwa die Gehälter von Staatsangestellten erhöht, um die Anreize der Bestechung zu mindern. Zudem kamen zahlreiche korrupte Polizisten vor Gericht und wurden entlassen. Aber noch immer steht Marokko auf dem Index der NGO Transparency International auf dem dürftigen 88. Platz von insgesamt 168 Ländern.

Genug vom Machtmissbrauch

Für Samir Bennis ist dies Ausdruck eines strukturellen Problems und einer historischen Erblast. «Die Regierung hat viel zu wenig gegen die Machtmissbräuche unternommen», sagt der Chefredaktor der Onlinezeitung «Morocco World News». Das Land habe zwar seit 2011 eine neue Verfassung und würde sich langsam in Richtung Demokratie bewegen. «Aber ein grosser Teil des Sicherheitsapparats behandelt die Marokkaner noch immer wie in den achtziger und neunziger Jahren», fügt Bennis an. Damals sass Hassan II. auf dem Thron, der Vater des heute amtierenden Königs, und regierte mit eiserner Faust. Es gab Tausende politische Gefangene, die gefoltert wurden und spurlos verschwanden. «Die Demonstranten wollen der Regierung heute vermitteln, dass sie genug haben von diesem Machtmissbrauch und von den Übeltätern, die straffrei davonkommen», sagt Bennis.

Bereits am Dienstag wurde schliesslich das Ergebnis der Erstuntersuchung verkündet. Es habe sich beim Tod Fikris um fahrlässige Tötung gehandelt, sagte Mohammed Aqwir, Staatsanwalt von Al-Hoceïma. Elf Personen sollen nun im Zuge eines Ermittlungsverfahrens vor Gericht kommen. Ob sich die Protestierenden damit zufriedengeben? Sie wollen ein klares Zeichen, dass sich etwas ändert – und zwar möglichst sofort.