Handkamera: Mit der Bolex auf dem Solex, aber ohne Rolex

Nr. 4 –

Clemens Klopfenstein hat mit der handgekurbelten Bolex-Kamera einst sein Meisterwerk «Geschichte der Nacht» gedreht. Eine Liebeserklärung an die filmende Musikdose.

Clemens Klopfenstein.

Eine animalisch glänzende, gestählte Feder in einen eisernen Kasten gezwängt, ein Haken, der ein weiches Band von Zelluloid vor einem gläsernen Loch durchzieht, und fertig war das Meisterwerk aus den dunklen Uhrmacherwäldern des Schweizer Jura: die Ur-Bolex, die H16. Diesen schwarzen, lederbezogenen Schädel hielt ich mir während Jahren vor meinen eigenen, und wenn es im eisernen ratterte, mahlte, zog und zerrte, ging meiner in Trance über.

Die Vibrationen übertrugen sich auf meine Knochen, das leise Wimmern an meiner Schläfe, wie ein kleines Kind fühlte sich das ratternde Kistchen an, es brauchte mich als Papa, weil es nur so auflebte und kicherte, wenn ich auf den Auslöser drückte. Wie ein Vater liebte ich dieses Kleinkind, knutschte das kühle Blechbaby und hielt es warm, in den eisigen Nächten der «Geschichte der Nacht». Vielleicht bin ich zu empathisch, andere Kameraleute bezeichneten es oft nur als «die Mühle», das tat mir weh, ich war ein Kameraversteher.

Das eiserne Kind besass vorne drei treuherzige Augen, die man im sanften Würgegriff auf einer Tanzfläche herumschieben konnte: das Normalauge, das Fernauge und das Weitauge, alle von einer Qualitätsfirma aus Aarau hergestellt. Das Maschinchen selbst war eine Erfindung eines russischen Medizinstudenten und Ingenieurs aus Genf und eines Musikdosenproduzenten im Jura.

Als mein Kopf explodierte

Wenn ich also diese Musikdose vor mich hinhielt, explodierte mein mit Jean-Luc Godard und Michelangelo Antonioni, mit Andy Warhol und Jonas Mekas gefülltes Jungfilmerhirn, und meine ersten schrägen Kurzfilme entstanden. Und ich war nicht allein, bald bildete sich auch eine lose Bolex-Freak-Filmer-Bewegung, angestossen durch die «Filmarbeitswochen» der Schweizer Gymnasien, wo wir Angefressenen uns zum ersten Mal trafen, und in verschwörerischen Lokalen an der Platte 47 in Zürich und am Bläsiring 115 in Basel zeigten wir einander bald unsere Experimente. Daraus entstand der öffentliche «CinéCircus», an dem sogar ausländische Filmer teilnahmen, die Grüsel aus Wien, die hirnlastigen Kölner und Hamburger, sogar Taylor Mead aus New York erschien. Es war die grosse Zeit der verrückten Experimentalfilme, parallel dazu explodierte in der Malerei das Action Painting, dazu der Rock ’n’ Roll! Einer vor uns, H. J. Siber, hatte direkte Beziehungen zur Szene in New York, so kamen wir früh in den Genuss der wunderbaren Filme des New Yorker Underground, und er selber machte einen der schönsten hier in unseren Bergen: «Die Sage des Alphirten Xeudi …».

Dann entstanden die Solothurner Filmtage, und wir Experimentalfilmer waren prominent dabei, mit viel Versponnenem, Poetischem und Pennälerkitsch. Nach drei Jahren knarzte es aber im Gebälk, denn wir wollten jetzt alle das Filmen doch noch richtig erlernen. Der Filmkurs an der Zürcher Kunstgewerbeschule und die Filmschule in München entstanden, die Bolex wurde schnöde beiseitegelegt, es mussten nun 35 Millimeter sein. Professionell wollten wir jetzt werden, das ist einigen wie Markus Imhoof, Fredi Murer, Kurt Gloor und Xavier Koller gut bekommen, anderen etwas weniger, mir zum Beispiel: Ich holte mir mit einem Uhrenschmuggelkrimi in 35-Millimeter-Breitwand-Format eine blutige Nase und war froh, dass ich dank meiner Malerei und eines Stipendiums nach Rom entschwinden konnte. Aber wer sollte mich dort wieder aus dem Tal der Tränen holen? Die gute alte H16, doch dazu später.

Die Tage der Bolex waren aus einem andern Grund gezählt, denn die Revolution kam um die Ecke, sie kam aus Paris nach Zürich. Während wir am Filmkurs an der Ausstellungsstrasse mit 35 Millimeter bastelten, schrie und brüllte es vorne am Central, da brauchte es ganz schnell Kameras, die den Ton aufzeichnen konnten: die Megafone, die Sirenen, die Tränengaspatronen, die Diskussionen, die Sprechchöre vor dem Globus-Provisorium. Da war die Bolex out, so seltsam es tönen mag, denn sie war nicht geblimpt, sie machte selber Lärm, sodass sie für die Tongeräte in der Nähe nicht mehr brauchbar war, sie störte, weil sie nicht brav und stumm war, sie war genetisch immer noch eine Musikdose.

Den Zahnärzten sei Dank!

Hergestellt wurde sie, wie auch die Schreibmaschinen Hermes und Hermes Baby, von der Firma Paillard in Sainte-Croix, und die war ja nicht alleine im Produzieren hochwertiger, technologisch faszinierender Filmgeräte: Kudelski am Genfersee mit den Nagra-Tongeräten gehörte dazu, die Perfectone für Studiogeräte in Biel, die Kern-Optiken in Aarau und natürlich die berühmte Studer-Revox aus Regensdorf. Alle diese Dinger waren allerdings sehr teuer, sodass mir einmal ein Vertreter verriet: «Von euch Jungfilmern könnten wir nicht leben. Zum Glück verkaufen wir fast alles Zahnärzten, die sich das leisten können und in diese Präzisionsmaschinchen genauso verliebt sind.» Wir armen Jungfilmer kauften ja nur die Occasionen von unserem ersparten Geld, sodass man auch mal sagen könnte: Ohne die hohen Rechnungen der Zahnärzte hätte es den jungen Schweizer Film nie gegeben!!

Es hat halt alles seine zwei Seiten. Dazu ein kleiner, aktueller Exkurs. Ich schreibe dies hier in Umbrien, wo ich zwischen Assisi, der Stadt des Friedens, und der Technostadt Foligno lebe. Beiden geht es im Moment sehr gut, nach Assisi kommen sie zu Tausenden zum Beten, und in Foligno hat eine Zubringerfabrik soeben einen Riesenauftrag von Boeing gekriegt, Saudi-Arabien hat 500 Kampfflieger bestellt! Halleluja, die Vollbeschäftigung ist da.

Aus der staubigen Schachtel

Back to Bolex: «Mit der Bolex auf dem Solex, aber ohne Rolex», so war das Motto meines Nachtfilms. Natürlich wollte ich nach dem 35-Millimeter-Flop nichts mehr mit Film zu tun haben und stürzte mich in Rom in Architektur- und Urbanistikstudien, doch die perspektivisch verrückte Stadt war nur in der Nachtleere zu erkennen und zu geniessen. Eigentlich wollte ich erst nur zeichnen, doch dann kam der sensible Tri-X-Film für Fotokameras auf den Markt, der liess mich zur Pentax greifen, und plötzlich hörte ich von einem sehr hochempfindlichen Eastman-Film, dem 4-X. Ich schlich mich in die Schweiz zurück und holte im Keller meiner Eltern die H16 aus der staubigen Schachtel, sie leuchtete mir freudig entgegen. Ich bestückte sie nun mit einem teuren Leitz-Objektiv, das fast so viel wie eine Rolex kostete, und ging zurück ins nächtliche Rom, das ich auf dem Solex-Töff kreuz und quer durchsuchte. Das Geknatter der Bolex, ihr einziges Handycap auf den damals völlig leeren Plätzen Roms, zerstörte die idyllische akustische Leere. So mussten später anderweitig gefundene Geräusche dazusynchronisiert werden.

Die Bolex war eine Wissenschaftskamera, berühmt war sie für ihre exakte Einzelbildschaltung. Wie viele ausschlüpfende Küken, wie viele aufblühende Blumen hat sie wohl filmen müssen! Aber mich rettete sie in meine eigene Bildwelt und zeigte mir einen anderen Weg in die Kinematografie, einen Arte-povera-Stil, neo-franziskanisch würde ich dies heute nennen, puristisches Kino.

Ein wichtiges technisches Detail noch: Weil die von Hand aufgezogene Feder gerade mal zwanzig Sekunden lang den Film durchzog, musste man sich vorher überlegen, was man denn wirklich filmen wollte, denn nach zwanzig Sekunden entschied die Kiste selbst, dass nun genug sei. Sie war die erste «Cutterin», das tat den Filmen oft gut. Heutzutage saugen die Sony-Kisten stundenlang alles auf ihre Pixeltablettchen, und nachher will es keine Sau anschauen, weil meist stundenlang belanglose Talking Heads zu sehen sind, denen man vorher besser gesagt hätte: «Nun hören Sie mal zu, Sie haben genau zwanzig Sekunden, um Ihre Message rüberzubringen, sonst ist sie nicht im Film!»

Das Idol im weissen Citroën

Natürlich wurde ich letztlich auch Bolex-abtrünnig, für meinen folgenden Nachtzugfilm brauchte ich eine stille Kamera für all die wunderbaren Eisenbahngeräusche, die direkt und synchron aufs Bild gebracht werden mussten. Dafür schaffte ich mir eine französische Eclair ACL mit starken Nachtobjektiven an, für die noch verrückteren Nachtreisen von Christian Schochers «Reisender Krieger» (1981) konnte ich mir sogar ein superstarkes Objektiv zumieten, das Stanley Kubrick schon für seinen «Barry Lyndon» benutzt hatte. Aber im Kofferraum hatte ich auch immer noch meine kleine Bolex mit den winzigen Objektiven dabei. Es hätte ja sein können, dass die Akkus der Neuen sich erschöpften, so war sie als Nothelferin mit Kurbel immer für eine überbrückende Totale zur Stelle.

Nur einmal hat sie mir einen Streich gespielt und mir dadurch wohl den Weg in die grosse Welt des Kinos versaut: Nach einer langen Party im Istituto Svizzero gehe ich mit meiner Bolex durchs leere Rom und warte am Lungotevere auf die Morgendämmerung. Ich bin der Party wegen etwas glitzerig-glänzend angezogen, und bald schwebt ein weisser Citroën DS herbei. Er hält an, die Scheibe wird runtergedreht, und im Fenster erscheint mein Idol: Gian Maria Volonté! «Vuoi passeggiare con me?», ist seine Frage, aber als er die H16 mit den drei Äuglein unter meiner Achsel sieht, schreckt er zurück. So will er wohl nicht filmen, die Scheibe geht mit einem enttäuschten «Ciao!» wieder hoch, der Citroën entschwindet im Morgenrot.

Voilà, let’s gamble!

Jetzt, da ich stramm und brav für No-No-Billag einstehe, frage ich mich schon: Mit der Bolex gabs gar keine Billag und überhaupt keine Förderung! Und trotzdem entstanden interessante (kleine, freche, freakige) Filme. Swatch-Filme statt Rolex-Filme, wie ich mal provokativ in der alten «Weltwoche» schrieb. Ein bisschen Abspecken vielleicht, ein bisschen Diät? Die Gotthelf- und Langstrassen-Kisten von Franz Schnyder und Kurt Früh wurden ja damals alle privatwirtschaftlich auf die Beine gestellt, und für unsere Bolex-Filme jobbten wir anderweitig.

Es ist hier nun völlig deplatziert, und ich schäme mich sogar, wenn es mir leider in den Sinn kommt, dass wir damals heftigst gegen das Zürcher Fernsehen demonstrierten und den Direktor, den armen Guido Frei, auspfiffen, als er es wagte, die Solothurner Filmtage zu besuchen. Erst unter Vermittlung von Stephan Portmann und Andreas Gerwig wurden wir dann freiwillig von der SRG umschlungen, was wir ja heute immer noch sein wollen.

Als ich letzthin einem Redaktor im Leutschenbach die Idee zu einem neuen Film vortrage und hoffe, Förderung zu bekommen, meint er: «Mach mal diese Idee zu einem Spiel! Zu einem Spiel, das man auf Smartphones spielen kann. Dann machen wir vielleicht nachher einen Film oder noch besser eine Serie daraus.» Voilà, let’s gamble! Bald entwerfe ich Spieldosen und lasse sie im Jura von der Firma Paillard-Bolex fabrizieren. Back to the roots!!

Clemens Klopfenstein

Geboren am Bielersee, lebt Clemens Klopfenstein (73) seit vierzig Jahren als Maler, Zeichner und Filmemacher im Städtchen Bevagna in Umbrien. Für «Das Schweigen der Männer» (1998) wurde er mit dem Schweizer Filmpreis ausgezeichnet.

In Solothurn zeigt er nun seinen neusten Spielfilm, «Das Ächzen der Asche» (vgl. Kurzkritik ). Im historischen Programm zur Bolex-Kamera läuft von Klopfenstein zudem der Experimentalfilm «Geschichte der Nacht» (1979), in dem er Nachtaufnahmen aus fünfzig europäischen Städten verarbeitete.

«Geschichte der Nacht» in: Solothurn, Kino Uferbau, Fr, 26. Januar 2018, 20 Uhr.

Bolex: Mit der Kamera im Bett

Für Wim Wenders war sie das beste Instrument, um das Filmhandwerk zu lernen, für den Experimentalfilmer Joel Schlemowitz ist sie das Schweizer Armeesackmesser des Kinos. Zärtlicher klingt es, wenn seine Kollegin Barbara Hammer über die Schweizer Bolex-Kamera spricht: «Man kann sie sogar mit ins Bett nehmen.» In Solothurn ist diesem «wendigen kleinen Biest», wie Hammer im Film «L’aventure Bolex» sagt, ein ganzes Programm mit Filmen aus den Beständen der Cinémathèque in Lausanne gewidmet.

Erfunden hat die Bolex der jüdische Ingenieur Jacques Boolsky (1895–1962), ein staatenloser Russe im Schweizer Exil. Sein Traum: die teure Filmerei mit einer robusten, leicht zu bedienenden Kamera zum Volksgut zu machen. 1930 verkauft er sein Patent an die Musikdosenfabrik Paillard im Waadtländer Jura, doch überwirft er sich bald mit «diesen Berglern», wie er verärgert in sein Tagebuch notiert.

Seine Urenkelin, die US-Filmemacherin Alyssa Bolsey, hat Boolskys Tagebuch auf dem Estrich ihres Grossvaters entdeckt. In ihrem TV-Film «L’aventure Bolex» rollt sie in kurzweiligen 52 Minuten die Geschichte der unverwüstlichen Schweizer Handkamera auf. Dabei springt sie etwas planlos hin und her zwischen der Weltkarriere dieser kleinen Erfindung und dem Leben ihres Urgrossvaters, der kurz vor dem Zweiten Weltkrieg nach New York auswandert, als man ihn selbst nach 25 Jahren in der Schweiz nicht einbürgert. Unter dem Titel «Beyond the Bolex» arbeitet die Regisseurin derzeit an einer längeren Kinoversion, in der sie die verschiedenen Stränge dann womöglich schlüssiger zu verknüpfen vermag.

Florian Keller

«L’aventure Bolex» in: Solothurn, Palace, So, 28. Januar 2018, 15 Uhr, anschliessend Podium mit Alyssa Bolsey, Clemens Klopfenstein u. a.; Kino im Uferbau, Di, 30. Januar 2018, 14 Uhr. Mehr zum Bolex-Programm: www.solothurnerfilmtage.ch.