Emorap: So süss der Tod auf Instagram

Nr. 38 –

Junge Männer rappen über Selbstmord und Drogen und inszenieren ihren Seelenporno im Netz. Ein Zeichen von Vereinzelung und Entfremdung – oder doch nur eine neue Sichtbarkeit der Depression?

Endlich, lautete das einhellige Urteil der JournalistInnen, die sich der Sache angenommen hatten, endlich sei die Depression im Rap kein Tabuthema mehr. Endlich könne man auch in dieser Welt der hyperexzessiven Maskulinität über die inneren, seelischen Qualen sprechen. Endlich sei es auch im Rap normal, dass Männer ihre Gefühle zeigen könnten.

Seit jenes Phänomen vor wenigen Jahren aufgetaucht ist, das von manchen als Emorap bezeichnet wird, steigt die Zahl der Artikel darüber wohl ebenso stark an wie die Veröffentlichung der entsprechenden Musiktitel selbst. Teilweise wurde gar ein neuer Trend ausgerufen, wobei ein Kolumnist der Wochenzeitung «Die Welt» nicht vergisst, in seinem Rückblick auf das reichhaltige Hip-Hop-Jahr 2017 süffisant zu resümieren: «Doch so richtig kann man die Feierlaune nicht in der Musik hören. Besonders junge Rapper haben in diesem Jahr öffentlichkeitswirksam ihre Depressionen entdeckt. 2017 war das Jahr des Emoraps. Kaum volljährige Hip-Hopper reimen über ihren Weltschmerz, ihre Selbstmordgedanken und ihre Versuche, die dunklen Gefühle mit verschreibungspflichtigen Medikamenten zu unterdrücken.» Worauf der Kolumnist zum Schluss kommt, dass es sich bei diesem Phänomen bloss um eine vorübergehende und leicht kindische Verirrung der Jugend handle: «Emorap verbindet postpubertäre Selbstzweifel mit einer neuen Drogenkultur.» Aber ist es so einfach?

Jedenfalls taucht die Todessehnsucht in Raptexten mitnichten erst seit Kid Cudi, XXXTentacion oder Denzel Curry auf. Immer wieder wird auf den Song «Suicidal Thoughts» von Notorious B.I.G. hingewiesen, der 1994 auf seinem Debütalbum «Ready to Die» erschien. Darin erläutert der Rapper dem Boss seiner Plattenfirma, Puff Daddy, in einem nächtlichen Telefongespräch, warum er sich das Leben nehmen will. Der Chef, zunächst hörbar genervt von der nächtlichen Ruhestörung, reagiert immer panischer und fällt aus allen Wolken, als er den Ernst der Lage erkennt und sich die Kunstfigur am Ende des Songs tatsächlich selbst erschiesst.

Selbstmord als Ausdruck von Stärke

Als Zeichen einer handfesten Depression wollte und konnte die damalige Rapwelt den Song trotzdem nicht deuten. Eher galt der künstlerisch inszenierte und literarisch bearbeitete Freitod als Ausdruck von Stärke, als letzter Akt eines selbstbestimmten, wenn auch abgefuckten Lebens. Zerrüttet von Geldnot, Kriminalität und einem unbändigen Hass auf sich selbst, bleibt einem immerhin noch die Möglichkeit, sich mit der eigenen Schusswaffe aus dem Leben zu nehmen. Das ist der konsequenteste Ausdruck eines Menschen, der vor gar nichts mehr Angst hat, nicht einmal vor dem Tod. Ein Mensch, der eben «Ready to Die» ist und gerade deshalb unüberwindbar.

«Suicidal Thoughts» war auch eine Episode aus dem Leben eines Kleinkriminellen, erzählt in der Rückschau auf einem der populärsten Gangsterrap-Alben aller Zeiten. Ein zurückgelassener Teil der eigenen Biografie, denn schliesslich gelang Notorious B.I.G. oder «Biggie», wie er oft genannt wird, mit diesem Album der ultimative Durchbruch, die düsteren Geschichten schienen der Vergangenheit anzugehören. Immerhin hatte er es mit diesem Album und genau diesen dunklen Geschichten geschafft – raus aus der Hölle und rein ins bunte Gucci-Leben.

Dass so eine Geschichte etwas mit dem Krankheitsbild einer Depression zu tun haben könnte – kein Gedanke daran! Und so ging es weiter im Text, bis die beiden Posterboys der damaligen Rap-Ära, Tupac und Biggie, tatsächlich tot waren. Erschossen von fremder Hand, die zweithäufigste Todesursache von jungen afroamerikanischen Männern, nur getoppt von Unfällen und dicht gefolgt von Selbstmord.

Dass Mord und Selbstmord, die «Ready to Die»-Attitüde und eine gewisse Todessehnsucht eng miteinander verknüpft sind, stellte dieses Jahr der Rapper XXXTentacion unter Beweis. Auf Instagram inszenierte er zuerst seinen eigenen Selbstmord, um danach frenetisch gefeiert ins Leben zurückzukehren, nur um zuletzt im eigenen Sportwagen erschossen zu werden. Der Rapper aus Florida sorgte mit seinem Lifestyle und seiner (Auto-)Aggression für Schlagzeilen, wenn er auf seinen Konzerten etwa Teenagern ins Gesicht schlug oder seine Exfreundin verprügelte.

Selbstzerstörung statt Parolen

XXXTentacion war das Spiegelbild einer Generation, deren Wut und Hass sich nun auch nach innen zu richten begann – einer Generation, die den äusseren Druck nicht in politische Parolen ummünzt, sondern in selbstschädigendes Verhalten. Das Sinnbild einer kaputten Jugend ohne Perspektive, die im blossen Nihilismus ihr Heil sucht, womit einer wie XXXTentacion sogar zum Popstar mutieren kann. Kaum ein Rapper, der in diesem Jahr mehr gehypt wurde – trotz aller Skandale und Ekelhaftigkeiten, die über ihn bekannt wurden. Wenn der Rapper öffentlich über seine dunklen Stunden, seine Drogensucht, seine Schmerzen und seine Todessehnsucht sprach, erreichte er Millionen von Fans, die sich genau in diese Leere hineinversetzen konnten.

In diesem Zusammenhang werden nun gerne Vergleiche zu Grunge und dem Selbstmord des Nirvana-Sängers Kurt Cobain gezogen. Einige argumentieren, im sogenannten Emorap würde sich eine satte, überdrüssige Generation artikulieren, deren äussere Lebensumstände sich so weit verbessert hätten, dass diese nicht mehr als Grund der Beschwerde herhalten könnten. Deshalb würde nun die innere Leere thematisiert. Depression als Wohlstandskrankheit all derjenigen, die sich im täglichen Kampf ums Überleben bis ganz nach oben durchgeboxt haben und denen nur noch das Lamentieren über den eigenen Seelenzustand bleibt.

Doch wie soll man das erklären? Wir sollten zunächst aufpassen, nicht zu schnell in gesamtgesellschaftliche Erklärungsmuster abzurutschen. Denn man kann hier versucht sein, einfach die marxistische Brille aufzusetzen und von «Vereinzelung» und «Entfremdung» zu sprechen. Von der Atomisierung der Gesellschaft und vom gesellschaftlichen Druck, der die ultimative Selbstoptimierung verlangt. Der Druck einer Welt, in der man vollkommen zurückgeworfen ist auf sich selbst: Du bist für dein Leben verantwortlich! Du musst genügen! Du bist deines Glückes Schmied! Und wenn du scheiterst, bist auch nur du daran schuld. Der Kult, es selbst geschafft zu haben, schlägt um in die völlige Einsamkeit.

Instagram macht sich Sorgen

All das mag als Erklärung taugen, doch darf man dabei nicht vergessen, dass eine Depression eben auch ganz gut ohne konkreten Auslöser auskommen kann, also auch schon da sein kann, bevor sich die öffentliche Wahrnehmung auf einen richtet. Vielleicht ist das Phänomen auch gar nicht so neu, schliesslich durchzieht die schwarze Galle der Melancholie die Welt der Kunst seit Anbeginn. Vielleicht begegnen wir heute auch nur in aller Öffentlichkeit einem Phänomen, das zu anderen Zeiten unsichtbar geblieben wäre.

So süss ist der Tod auf Instagram, dass dort mittlerweile unzählige Schwarzweissfotos von zerbrechlichen jungen Menschen zu sehen sind, garniert mit tiefsinnigen Sprüchen: «Gefangen in einer Generation, in der Loyalität nur ein Tattoo ist, Liebe nur ein Zitat und Lügen die neue Wahrheit.» So viele, dass Instagram mit einem Warnhinweis reagieren musste. Gibt man zum Beispiel den Hashtag «#suicide» ein, erscheint eine wohlmeinende Botschaft des Unternehmens: «Beiträge mit Worten oder Markierungen, nach denen du gerade suchst, können oft Verhaltensweisen fördern, die Schaden anrichten oder gar zum Tod führen können. Falls du gerade schwere Zeiten durchmachst, würden wir dir gerne helfen.»

Doch wobei helfen? Und wozu? Instagram lebt davon, dass die NutzerInnen ihre Geheimnisse zur Schau stellen und ihr gesamtes Leben preisgeben, wobei offenbar nichts so spannend ist wie eine öffentliche Selbstzerstörung. Verfolgt man zum Beispiel einen Künstler wie Bonez MC von der 187 Strassenbande, aktuell einer der erfolgreichsten Rapper im deutschsprachigen Raum, so erkennt man schnell das schillernde Wechselspiel von öffentlicher Zurschaustellung, persönlicher Überforderung und seelischen Abgründen, das seinen Account so attraktiv macht.

Public Meltdown als Katharsis

Bonez lässt seine Fans mit Hunderten von Instagram-Storys pro Tag, 24/7 an seinem Leben teilhaben, Drogenmissbrauch inklusive. Diesen Exzess führt er so lange fort, bis es in regelmässigen Abständen zu öffentlichkeitswirksamen Zusammenbrüchen kommt, in denen er sich – natürlich ebenfalls auf Instagram – über sein öffentliches Leben und die damit verbundene Oberflächlichkeit und Gefühlslosigkeit auskotzt. Der Public Meltdown als Katharsis, als Reinigung mit einer gehörigen Portion Überdruss – nur um darauf die nächste Runde an öffentlichem Exzess einzuläuten.

Auch die letzte menschliche Regung wird ausgebeutet und verwertet. Indem die Menschen zu ihrer eigenen Marke geworden sind, zu ihrer eigenen Ware, die sie selbst zu Markte tragen, wird eben auch das eigene Leiden verwertet. Hulk Hodn, selbst Rapper, sprach in diesem Zusammenhang einmal von der Pornografisierung des Lebens: Man zeigt und inszeniert alles, was einen umgibt und was man so hat – das Essen, das man isst, die Urlaube, die man macht, die Momente, die man geniesst. Und so verkommt die eigene Dunkelheit zum Seelenporno.

Die Künstler selber sind sich des Zwiespalts zwar durchaus bewusst, begreifen sich aber eher als Opfer einer schamlosen Gier des Publikums und selten als Akteure. Sie schieben die Schuld auf eine Öffentlichkeit ab, die nach dieser Art der Pornografie lechzt und immer mehr davon haben will. Der Rapper Denzel Curry, dessen aktuelles Album «Ta13oo» ebenfalls von suizidalen Gedanken durchzogen ist, erklärte einen seiner Reime einmal mit der Beschwerde: «Ich bringe mich buchstäblich um für andere. Für die Unterhaltung anderer.» Ohne zu reflektieren, dass nur er selber diese Art von Unterhaltung liefern kann – und dass nur er selber sie stoppen könnte. Doch wenn man sich überlegt, dass daran eben auch seine eigene Verwertbarkeit gekoppelt ist, wird klar, warum es auch in Zukunft genau so weitergehen wird.

Marcus Staiger ist Journalist und Buchautor. Als ehemaliger Betreiber des Labels Royal Bunker gilt er als eine zentrale Figur der deutschen Rapszene.