Tod eines Leiharbeiters: Ruhe in Frieden, Francisco
Im September 2014 wird in Abfaltersbach in Osttirol ein Mann tot aufgefunden. Vier Jahre später macht sich eine Reporterin auf die Suche nach den Hintergründen: Die Geschichte eines in Guinea-Bissau geborenen portugiesischen Leiharbeiters – und eines Bergdorfs, das sich solidarisch zeigte, als es Behörden und Firmen nicht taten.
Und irgendwann wird unter lauter einheimischen Namen, derer am Schutzengelsonntag gedacht wird, auch ein fremder Name fallen: Francisco Dafá.
Der Pfarrer begrüsst die Musikkapelle, er begrüsst den Chor, die Schützenkompanie, die ErstkommunikantInnen, die in weissen Kleidern vor dem Altar stehen. Er spricht das Glaubensbekenntnis, und die Festgemeinde sowie die zehn Ministranten sprechen ihm nach. Kirchenglocken läuten, 24 Kugeln schiessen aus ebenso vielen Gewehren in die Luft. Ihr Rauch vermischt sich mit dem Nebel, der ins Tal hängt.
Es ist der erste Sonntag im September 2018. Menschen warten vor dem Tor der Kirche Mariä Heimsuchung in Abfaltersbach, weil drinnen selbst die Stehplätze besetzt sind. Der Pfarrer liest aus dem 2. Buch Mose, dem Exodus: «Ich werde einen Engel schicken, der dir vorausgeht.»
Falls auch Francisco Dafá einen Schutzengel hatte, muss dieser am Mittwoch, dem 3. September 2014, abwesend gewesen sein. An diesem Tag stirbt Dafá in Abfaltersbach, mit 47 Jahren. Auf dem Friedhof, der über dem Dorf thront, liegt er seither begraben. «In Gott geboren» steht auf seinem Grabstein. In Guinea-Bissau geboren, Westafrika, am 15. Juli 1967, könnte da auch stehen. Nach Osttirol kommt Francisco Rafael Dafá im Sommer 2014 als Eisenbieger. Ein Leiharbeiter mit portugiesischem Pass und afrikanischer Herkunft, den die Gesetze der kapitalistischen Marktwirtschaft nach Österreich gespült haben. Auf einer Grossbaustelle in Heinfels, einem Nachbardorf von Abfaltersbach, stellt er Stahleinlagen her, die in die Betonform eingearbeitet werden. Er biegt die Stäbe in Form, mit den Händen oder einer Maschine. Schliesslich verbindet er die Einzelteile zu einer Tragekonstruktion. Mit seinen Arbeitskollegen lebt Dafá im Widum, dem ehemaligen Pfarrhaus von Abfaltersbach. Bis man ihn am 3. September spätabends auf dem Fliesenboden des Badezimmers findet. Tot.
«Portugal trifft Österreich»
Wer war dieser Mann, und was ist damals passiert? 2014 fahre ich öfter an der Grossbaustelle vorbei, ständig scheint sie in Betrieb. Irgendwann höre ich von einem toten Leiharbeiter aus Portugal. Ich denke, ich sollte seine Geschichte erzählen. Und lasse es dennoch bleiben. Vier Jahre dauert es, bis ich mich dazu entschliesse.
Die Recherche beginnt dort, wo sein Leben ein Ende nahm, in Abfaltersbach. Denn Francisco Dafás Geschichte kann nicht ohne die Menschen des Dorfes erzählt werden. Menschen, die eher Taten sprechen lassen als Worte. Er lebte nicht lange unter ihnen, keine vier Wochen.
Am 10. August 2014 wird Dafá in der Gemeinde gemeldet. Im Pfarrgemeindeblatt schreibt der Pfarrer zuvor unter dem Titel «Portugal trifft Österreich»: «Seit Anfang Juni ist das Widum in Abfaltersbach wieder bewohnt. Über eine Salzburger Firma haben Bauarbeiter zu uns gefunden. Die portugiesische Flagge an der Hinterseite des Widums anlässlich der Fussballweltmeisterschaft zeigt an, woher die Mieter stammen. (…) Die Pfarrkirchenräte und ich haben bereits einen sehr guten Eindruck gewonnen. Nehmen wir sie wohlwollend im Sinne eines christlichen Miteinanders auf!»
Die österreichische Firma, die Dafá über ein portugiesisches Unternehmen als Leiharbeiter holt, schliesst mit der Pfarrgemeinde eine Vereinbarung ab. Sie bezahlt eine monatliche Pauschale von 1900 Euro für die Nutzung der Räume im ersten Stock des Widums (eine Küche, zwei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, ein grosses und ein kleines Bad, zwei Fernseher). Maximal zehn Personen sollen sich dort aufhalten, man verspricht, aktuelle Listen zu schicken. Eine erste führt sieben Portugiesen und einen in Kroatien geborenen Österreicher – nur er spricht Deutsch.
Von oben betrachtet, muss Abfaltersbach wie ein ungewöhnlich schmaler Streifen aussehen, die längste Stelle misst eineinhalb Kilometer, die schmalste ist nur 500 Meter breit. Das Dorf zählt 651 EinwohnerInnen und vierzehn Vereine, zwei Kirchen und einen Friedhof, eine Gemeinderätin und zehn Gemeinderäte. Unnötig zu sagen, dass ein Schwarzer wie Francisco Dafá hier auffällt. Dreimal im Jahr feiert das Dorf Prozessionen in alter Tracht. Die AbfaltersbacherInnen sind stolz darauf, dass die Musikkapelle nie einen Musikanten hat ausleihen müssen, weil man selbst über genügend Freiwillige verfügt.
Einer von ihnen ist Anton Brunner, der Bürgermeister, gross und schlank, seit vielen Jahren spielt er die Tuba. «Ja, Francisco Dafá», sagt er und seufzt. Vorweg gilt zu sagen: Brunner liebt sein Dorf. Das Vereinsleben ist für ihn Lebensinhalt. Mit seiner Frau, Chorleiterin und wie er ein Leben lang in Abfaltersbach wohnhaft, ist er bei jedem Fest anwesend. Was hier passiert, geht ihn etwas an. So empfindet er auch Dafá als seine Angelegenheit, als er am 3. September 2014 nach der Gemeinderatssitzung in das Widum gerufen wird. «Francisco hat hier gelebt und ist hier gestorben, also war klar, dass auch wir uns um ihn kümmern.»
«Wie bei einem Einheimischen»
Mehr noch als Anton Brunner ist der Bestatter aus dem Nachbardorf in Franciscos Geschichte involviert: Werner Jesacher, ein Baum von einem Mann mit einer sanften Stimme. Um 23.20 Uhr, vierzig Minuten nach dem offiziellen Todeszeitpunkt, trifft er im Widum ein. Da der Sterbegrund noch nicht sicher ist, birgt er den Körper im Vollschutz – aus Angst vor Ebola. Mit dem Leichenwagen bringt er Dafá in seine Kühlanlage, gegen ein Uhr früh legt er sich schlafen.
Am nächsten Morgen fährt er den Leichnam für die gerichtsmedizinische Obduktion nach Innsbruck. Dort wird die Todesursache festgestellt: floride Endokarditis der Aortenklappe, septisch-toxische Organschäden, linker Niereninfarkt. Eine Endokarditis ist eine bakterielle Infektion der Herzklappen, kurierbar mit einem Antibiotikum, mitunter müssen die Herzklappen ersetzt werden. Wird sie nicht behandelt, führt eine Endokarditis zum Tod. Noch am selben Abend bringt Jesacher den Leichnam in den Kühlraum der Bezirkshauptstadt Lienz.
Am Tag darauf kontaktiert er Dafás Arbeitgeber in Portugal. Dessen Teilnahmslosigkeit erschreckt ihn. Mit der portugiesischen Botschaft versucht er, Angehörige zu finden. Am 11. September schreibt er an die Sanitätsbehörde der Bezirkshauptstadt Lienz, man könne nicht länger verantworten, die Leiche im Kühlraum aufzubewahren. Die Behörde informiert die Botschaft, setzt eine Frist: den 16. September. Bis dahin muss entschieden sein, was mit Dafá passiert.
Und dann sind sie auf einmal da. Am Samstag, dem 13. September, wird Werner Jesacher zur Polizeistation von Sillian gebeten. Vier schwarze Männer sind dort eingetroffen, die Angehörigen des Verstorbenen. Die Verständigung fällt nicht leicht, die einen sprechen kein Portugiesisch, die anderen kein Deutsch. «Ich war nicht sicher, ob es seine Brüder sind», sagt Jesacher. Aber das spielt keine Rolle, es sind vier höfliche, leicht verunsicherte Männer, die Dafá gut zu kennen scheinen. Einer von ihnen, Neto Tonecas Betchigué, spricht, wenn auch nur dürftig, Englisch.
Gemeinsam mit dem Bürgermeister fahren Jesacher und die Männer nach Lienz, um die Leiche zu identifizieren. Anton Brunner organisiert für sie eine Unterkunft in der Pension seiner Cousine und kommt persönlich für die Kosten auf. Werner Jesacher will die Männer zum Abendessen einladen, diese aber nehmen die Einladung zunächst nicht an. Am nächsten Tag kaufen sie zwei Burger. Einen geben sie Jesacher, den anderen teilen sie sich zu viert.
Die Zeit drängt. Eine Einäscherung wäre am billigsten, aber für die Angehörigen kommt sie nicht infrage. Eine Überführung nach Portugal würde knapp 5000 Euro kosten, hinzu kämen die Ausgaben für den dortigen Bestatter. Den Verwandten fehlt das Geld, der Botschaft ebenso. Also entscheiden sie: Francisco soll in Abfaltersbach beerdigt werden. Am Sonntag geht der Bürgermeister nach der Messe zum Pfarrer und sagt: «Wir begraben ihn am Dienstag.» Der Pfarrer fragt: «Ist er auch römisch-katholisch?» Brunner wiederholt: «Wir begraben ihn am Dienstag.»
Eine respektvolle Beerdigung sei es gewesen, sagt der Pfarrer, «wie bei einem Einheimischen». Am Dienstag, dem 16. September 2014 um 10.30 Uhr, in der St.-Andreas-Kirche im Nachbardorf Abfaltern – am Tag, an dem die Frist abläuft. Eine Frau liest die Fürbitten. Ein Mann, der Schwiegervater des Bürgermeisters, spielt die Orgel.
Anwesend sind neben vielen AbfaltersbacherInnen die Arbeitskollegen von Dafá. Werner Jesacher trägt einen Kranz. Die Angehörigen, einer mit roter Hose und Goldketten um den Hals, tragen Francisco von der Kirche zum Grab. Sie lassen den Sarg hinunter und schaufeln Erde darauf. Während der Trauerfeier bedankt sich Neto bei der Gemeinde, von der deutschsprachigen Beerdigung verstehen die Männer kein Wort. Noch am selben Tag verlassen sie Abfaltersbach, mit Sterbebildern von Francisco im Gepäck, die Jesacher ihnen mitgibt.
Das Dorf hilft, irgendwie. Das Grab bezahlt die Gemeinde. Ein Schlosser restauriert ein Kreuz und schreibt die Tafel. Die Bezirkshauptmannschaft übernimmt den Sozialtarif der Bestattungskosten, wie üblich, wenn niemand dafür aufkommen kann. Rund die Hälfte der Spesen trägt Werner Jesacher selbst, aber das ist für ihn nicht der Rede wert. Später gestaltet er ein Album mit Fotos der Beerdigung, DIN A4, roter Umschlag. Irgendwann, sagt er sich, wird er es nach Portugal bringen. Ein paar Wochen hält er mit Neto via E-Mail Kontakt. Dann weiss niemand mehr von den Männern.
Und dennoch bewahrt Irmi, die Frau des Bürgermeisters, unter einer Schale in ihrer Küche, ein Zettelchen auf. Seit vier Jahren. Darauf Netos Kontakt. Auch die Cousine des Bürgermeisters, in deren Pension die Männer übernachteten, hat den Meldezettel noch. Darauf derselbe Name und eine Wohnadresse. Ich kontaktiere Neto über E-Mail und Facebook, schicke ihm einen handgeschriebenen Brief. Schliesslich kommt eine Antwort: «Danke für Ihr Interesse an Franciscos Geschichte.»
Mit dem Album des Bestatters fahre ich nach Portugal.
Besuch bei den portugiesischen Verwandten
Amadora liegt nur eine halbe Zugstunde von Lissabon entfernt. Gekachelte Altbauten und schöne Cafés sucht man hier vergeblich, dafür sind die Wohnpreise erschwinglicher. Unter den 175 000 EinwohnerInnen lebte einst auch Francisco Dafá. Ein steiniger Weg führt den Hügel hoch zu seiner ehemaligen Adresse, vorbei an halb fertigen und halb bewohnten Häusern. Eine Gegend, die von der Polizei gemieden wird.
Die Hausnummer ist an die Wand gemalt, 259. Im Freien sitzen vier Männer zwischen 19 und 25 Jahren, glatte junge Gesichter. Sie trinken Bier, rauchen. Auf meine Frage, ob sie Francisco Dafá gekannt hätten, blicken sie zunächst skeptisch. Nachdem ich mein Anliegen erklärt habe, bitten sie mich herein.
Die Jungs sind Francisco Dafás Neffen. Sie tragen denselben Nachnamen, sind in Guinea-Bissau geboren und portugiesische Staatsbürger wie er, zwei davon wohnen in seinem alten Haus. «Francisco war ein guter Onkel», sagen sie. «Er liebte Wein und Fleisch, besonders Schwein.» Francisco, sagen sie, sei ein gesunder Mann gewesen, habe immer gearbeitet. Als Eisenbieger, wie fast alle ihre männlichen Verwandten.
Später treffe ich Neto und gebe ihm das Album des Bestatters. Lange blättert er darin. «Ich bin Franciscos Cousin», sagt er dann. Von seinem Tod habe er über einen Arbeitskollegen von Francisco erfahren und sich darauf entschlossen, nach Österreich zu fahren. «Tage später kam ein Paket.» Darin Franciscos Pass, seine Kleidung, ein wenig Bargeld. Weniger als fünfzig Euro. Zur Beerdigung kam er mit seinem Bruder, einem Schwager und einem Freund, der damals in Wien arbeitete.
Neto Tonecas Betchigué, 34 Jahre, trägt elegante Schuhe, ein Hauch von Guinea-Bissau liegt in seiner Stimme. Er ist zielstrebig und freundlich und scheint in Amadora viele zu kennen. Kindern kneift er in den Arm, alten Männern gibt er die Hand, seiner Schwägerin trägt er den Koffer zum Auto. Spricht man mit ihm, begreift man schnell, wie wichtig ihm Familie ist. Ein Cousin wie Francisco ist so nah wie anderen nicht einmal der Bruder.
Im letzten Jahr hat Neto einen Verein gegründet, der Menschen aus Guinea-Bissau in Portugal Hilfe anbietet. In seinem Heimatland wolle man ihn in der Politik haben. Er aber möchte Anwalt werden und «für Gerechtigkeit kämpfen». Zwei Prüfungen fehlen ihm noch, dann ist er Jurist. Er ist der Zweite aus seiner Familie, der studiert. Nebenbei arbeitet er als Verkäufer von Elektrogeräten in einem Einkaufszentrum.
Der Traum vom besseren Leben
Guinea-Bissau ist eines der ärmsten Länder der Welt. Amts- und Schulsprache ist Portugiesisch, untereinander sprechen die Menschen ihre Stammessprachen oder Kreolisch. Francisco kommt auf dem Land zur Welt, in Nhoma, dreissig Kilometer von der Hauptstadt Bissau entfernt. Er ist ein Balanta, Teil der grössten Ethnie im Land.
Das Foto in seinem Pass zeigt einen jungen Mann mit rasierten Haaren. 1,67 Meter gross. Besondere Kennzeichen: keine. Auf dem Sterbebild wirkt er schwerer, mit Doppelkinn, aber denselben gutmütigen Augen. In Nhoma besucht Francisco die Schule bis zur siebten Klasse. Lieber als das Lernen ist ihm die körperliche Arbeit. Er pflanzt Mais an, Roggen, Bohnen, Reis und Maniok. Ein ruhiger und gleichwohl geselliger Mensch, der den traditionellen Tanz der Balanta liebt.
Francisco, römisch-katholisch, heiratet jung, aber weil die Ehe kinderlos bleibt, wird sie aufgelöst. Er heiratet erneut und wird Vater eines Sohnes. Später kommt eine weitere Frau hinzu. Mit ihr bekommt er drei Töchter. Sie alle leben in Guinea-Bissau. Die eine Frau hat ihn verlassen, die andere ist Analphabetin und spricht kein Portugiesisch, nur Balanta und Kreolisch. Als Francisco stirbt, ist es Neto, der Frau und Kinder darüber informiert.
Das landwirtschaftlich geprägte Leben in Guinea-Bissau ist hart. Im Juni 2003, mit fast 33 Jahren, wandert Francisco Dafá nach Portugal aus. Träumt, wie so viele, von einem besseren Leben in Europa. Er kommt im Süden an, geht nach Porto, schliesslich nach Amadora, überall leben Verwandte.
Als er 2012 die portugiesische Staatsbürgerschaft erhält, arbeitet er vermehrt im Ausland. Immer im Baugewerbe, in Frankreich, Spanien, Österreich – für eine Firma, die ihre Angestellten wie Waren in die Welt verschickt, mal ein paar Wochen, mal ein paar Monate. Francisco folgt der Arbeit, egal wohin. Endet sie, kehrt er nach Amadora zurück.
Warum ist Francisco Dafá gestorben? Weil sich dieses System seine Opfer sucht, früher oder später? Wusste er überhaupt, dass er Anrecht auf eine medizinische Versorgung hat? Und warum ist er nicht zur Ärztin gegangen, obwohl er mit Sicherheit Schmerzen verspürte? Seine Neffen sagen: «Wenn deine Stunde gekommen ist, kann dir niemand mehr helfen. Davon sind wir in Guinea-Bissau überzeugt.»
Neto sagt, Francisco sei keiner gewesen, der Ärger gemacht habe. «Wer weiss», meint er dann, «vielleicht hat er auch Angst gehabt.» Er habe bemerkt, wie Francisco schwächer wurde, erinnert sich ein Arbeitskollege. Aber Francisco habe die Zeichen abgetan, wie alle, «das kommt von der schweren Arbeit, das vergeht wieder».
Auslöser für eine Endokarditis sind Bakterien, die dazu führen, dass sich die Herzklappen entzünden und schrumpfen oder mit der Zeit verkleben. Die Bakterien kommen meist aus dem eigenen Körper, vor allem aus dem Hals-Nasen-Ohren-Bereich. Die Symptome können akut auftreten, sich aber über Wochen und Monate hinziehen: Fieber, Abgeschlagenheit, Gewichtsabnahme, Atemnot. Lösen sich die Bakterien von den Herzklappen, gelangen sie in verschiedene Organe und können dort Arterien verstopfen und zu Infarkten mit Organschädigung führen – so wie bei Francisco Dafá.
«Einfache, gute Leute»
Das Widum von Abfaltersbach ist ein ehrwürdiges Haus mit vielen Heiligenbildern an den Wänden. Obwohl die Leiharbeiter mitten im Dorf leben, werden sie kaum gesehen. Frühmorgens verlassen sie das Haus, abends kommen sie zurück. Es muss am Tag seines Todes gewesen sein, als eine Nachbarin Francisco am Vormittag vor dem Haus sitzend bemerkt, gekrümmt vor Schmerzen. Sie wundert sich, warum er nicht bei der Arbeit ist, und will ihm ein Bier bringen. Er lehnt kopfschüttelnd ab. «Die Arbeiter aus Portugal», sagt sie, «waren einfache, gute Leute.»
Die meisten Eisenbieger in Österreich kommen aus dem Ausland. Es gibt keine geregelte Ausbildung, die Kenntnisse werden betriebsintern angeeignet. Voraussetzung sind laut Berufslexikon des österreichischen Arbeitsmarktservice: kräftiger Körperbau, Gleichgewichtsgefühl, physische Ausdauer. Ein Arbeitskollege von Francisco erzählt von den damaligen Bedingungen: Arbeitstage von zwölf Stunden. Ein Stundenlohn von sieben Euro, obwohl zehn vereinbart waren. «Wir wurden, wenn überhaupt, sehr spät bezahlt.» Die Firma schulde ihm bis heute 1400 Euro, sagt der Kollege. Auch Francisco habe kein Gehalt gesehen für die Tage, die er in Osttirol arbeitete. Und die Erben, die Anrecht darauf hätten, seien nie kontaktiert worden.
Die Angaben sind von den verantwortlichen Unternehmen nicht bestätigt – die portugiesische Firma ist nicht erreichbar. In sozialen Medien finden sich aber zahlreiche Kommentare, in denen vor ihm gewarnt wird. Und das österreichische Subunternehmen, das mit der Firma kooperiert hat? Gibt es nicht mehr. Am 8. November 2016 eröffnet es den Konkurs. Der ehemalige Inhaber, dem ich über den Konkursverwalter Fragen sende, äussert sich nicht, weder zu den Arbeitsbedingungen noch zum Tod von Francisco Dafá.
Der Bauherr selbst ist nach wie vor aktiv: Es ist der Südtiroler Waffelhersteller Loacker. 2017 zählte er weltweit über tausend MitarbeiterInnen und machte einen Umsatz von rund 335 Millionen Euro. Seine Waren, die er in über hundert Länder verkauft – auch in die Nachbarländer von Guinea-Bissau –, produziert er an zwei Standorten: am Ritten in Südtirol und in Heinfels in Osttirol. Heute arbeiten im Werk von Heinfels etwa 370 Menschen. Loacker ist einer der wichtigsten Arbeitgeber im strukturschwachen Osttirol.
Zwei Jahre lang wurde an der Vergrösserung des Werks gebaut, rund siebzig Millionen Euro hat das Unternehmen darin investiert und dafür auch öffentliche Förderungen erhalten. Wie üblich bei solch grossen Projekten wurden die Bauarbeiten ausgeschrieben. Das Rennen machten nicht einheimische Betriebe aus Osttirol, sondern zwei Südtiroler Baufirmen. Sie waren die günstigsten. Sie waren es, nicht Loacker, die das Subunternehmen engagierten, das Francisco Dafá nach Osttirol brachte.
Monate vor seinem Tod, am 28. Mai 2014, kontrollierte die Finanzpolizei die Baustelle. Vorwürfe des Lohndumpings und der Beschäftigung illegaler Leiharbeiter wurden laut. Loacker bestätigt die Kontrolle. Unregelmässigkeiten seien jedoch keine bekannt geworden. Frank Hess, der Leiter des Werks in Heinfels, räumt aber ein: «Das System der Eisenbieger war etwas undurchschaubar.»
Nach der Kontrolle habe man ein Pförtnersystem eingeführt, um einen Überblick darüber zu erhalten, wer sich auf der Baustelle befinde und wer nicht. Als Francisco fehlt, fällt das trotzdem nicht auf. Dass sein Name auch auf der Liste der im Widum lebenden Arbeiter fehlt, fällt indes am Tag nach seinem Tod auf. Die Pfarrsekretärin fragt beim österreichischen Unternehmen nach und erhält um 15.21 Uhr eine neue Liste. Diesmal steht auch er darauf.
Vier Jahre danach
Am liebsten, sagt Neto Tonecas Betchigué, würde er Francisco in Guinea-Bissau wissen. Dort, wo er die meiste Zeit seines Lebens verbrachte, wo seine Frau und seine Kinder leben. Oder in Amadora, wo mittlerweile viele FreundInnen und Familienangehörige zu Hause sind. Loacker hätte die Überführung dorthin gerne bezahlt, aber das Angebot kam zu spät. Von Franciscos Tod habe man erst erfahren, so Hess, als eine Lokalzeitung eine Anfrage wegen der Bestattung stellte.
Eine Menge Unternehmen standen zwischen Dafá, dem Leiharbeiter aus Guinea-Bissau, und Loacker, dem Bauherrn aus Südtirol. Vielleicht fühlte sich deshalb niemand zuständig. Verantwortung übernahmen andere.
«Seine letzte Ruhestätte ist der Friedhof von Abfaltersbach, Tirol, Österreich, Ruhe in Frieden!», hat Werner Jesacher auf Portugiesisch ins Album geschrieben. Dort angekommen, sagt Neto, sei er beeindruckt gewesen von der Schönheit und der Stille. Ein Ort, an dem die Menschen ihr Auto nicht absperren müssen. Und eine Gegend, die – so konservativ sie auch sein mag – gegen ein weitverbreitetes Phänomen immun scheint: Gleichgültigkeit.
Er ist dankbar, als er hört, dass zwei Frauen aus dem Dorf noch immer Franciscos Grab pflegen, Kerzen anzünden, die Blumen giessen. Neto lächelt, als ich ihm sage, dass unter lauter einheimischen Namen, derer Jahr für Jahr am Schutzengelsonntag gedacht wird, in der Kirche Mariä Heimsuchung in Abfaltersbach in Osttirol, irgendwann auch ein fremder Name fällt. Der genau genommen gar nicht mehr so fremd ist: Francisco Dafá.